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1. Januar 2012: Ein früher Stulpe 8. Juni 2012: Hans Günther Helms: 50 Jahre danach 16. Juni 2012: Betr. Stirner/Nietzsche (I) 18. Juni 2012: Betr. Stirner/Nietzsche (II) |
1. Januar 2012: Ein früher Stulpe Im Herbst 2011 annoncierte Gerd B. Achenbach, ein Pionier der "Philosophischen Praxis" in Deutschland, auf seiner Netzpräsenz (www.achenbach-pp.de) einen im Rahmen seiner regulären Freitagsveranstaltungen außergewöhnlichen Vortrag (am 28. Oktober 2011):
Diese Auffassung vertrat Achenbach schon 1981 in seiner Dissertation: Bemerkenswert sind solche Aussagen immer wieder, weil ihre Autoren ihren Verdruss bzw. ihre (kaschierte) Verzweiflung über die aktuelle geistige Verfassung des Westens, der die "Aufklärung" längst hinter sich zu haben meint, indirekt zu artikulieren versuchen, indem sie ausgerechnet auf Stirner verweisen -- und nicht auf jene beiden Denker, die die Epoche tatsächlich geprägt haben: Karl Marx und Friedrich Nietzsche. Denn deren durchschlagender Erfolg, ihre unerhörte Wirkmächtigkeit, beruhte - das ist meine These im LSR-Projekt - im Wesentlichen darauf, dass sie ihre Philosophien in und zur Abwehr der Stirner'schen Gedanken geschaffen haben. Und nun soll Stirner auf einmal, wie Alexander Stulpe kürzlich in einem 1000-seitigen Werk (siehe auch hier) darzulegen versuchte, "ubiquitär" sein, soll sein Gedanke, wie Achenbach vor 30 Jahren sagte, "platte Wirklichkeit geworden" sein? Er soll in der Biedermeierzeit "ausgeplaudert" haben, wie man hier und heute, in allen Schichten der Gesellschaft, denkt und handelt? Offenkundig unterstellt man Stirner, er habe den heute verbreiteten Vulgäregoismus und -individualismus propagieren wollen. Aber warum diese Unterstellung? Das Muster kennt man schon von Hans G. Helms. Der hatte 1966 in seinem Buch Die Ideologie der anonymen Gesellschaft Stirner zum Protofaschisten erklärt, dessen unheilvoller Einfluss noch in der Adenauer-Republik fortwirke. Auch hier war, wie bei Achenbach und Stulpe, nicht klar, was wodurch verteufelt werden sollte: die aktuelle Situation durch ihre Ursprünge bei Stirner oder Stirner, den man an den Früchten seiner Gedankensaat erst richtig erkennen könne. |
8. Juni 2012: Hans Günther Helms: 50 Jahre danach Der Name Hans Günther Helms dürfte den meisten, die sich mit Stirner und dessen Rezeption befasst haben, bekannt sein. Ich habe ihm in meiner Editionsgeschichte von Stirners Einzigem ("Ein heimlicher Hit") einige Seiten gewidmet, weil er der Initiator der sogenannten Zweiten Stirner-Renaissance war. Das Interessanteste an Helms' Aktion ist die Motivation, die ihn zu der ungeheuren Fleißarbeit antrieb, ein 600-seitiges Buch (Die Ideologie der anonymen Gesellschaft, DuMont Schauberg, Köln 1966) über die Stirner-Rezeption zu schreiben: "Die ideologische Lage in der Bundesrepublik Deutschland war der Anlass, ihre gefährliche Entwicklung der Motor dieser Arbeit" -- so der erste Satz des Vorworts. Die Gefährlichkeit sah Helms in der Kontinuität des "Faschismus", dessen Ideologie Stirner in ihrer "reinen Gestalt" (S. 500) formuliert habe. So sei es höchste Zeit gewesen, dass er diesen "Eiterherd" (S. 495) lokalisiert habe. Usw. Helms starb am 11. März 2012 und wurde am 17. März auf dem kleinen evangelischen Friedhof an der Boxhagener Strasse in Berlin-Friedrichshain erdbestattet. In Nachrufen (Junge Welt, 15. März; Das Argument, Heft 1,2/2012) wurde seine Stirner-Arbeit, immerhin sein opus magnum, nur mit wenigen Worten erwähnt, was daran gelegen haben mag, dass ihre Verfasser Helms aus ganz anderen Perspektiven kannten (Neue Musik; Architektur). Helms, Jahrgang 1932, hatte als Künstler begonnen, genauer: als Klangkünstler. Sein bekanntestes Werk, Fa:m' Ahniesgwow, erschien 1959 mit einer vom Autor besprochenen Schallplatte. Damals begann er, sich intensiv mit Stirner zu befassen. Nach Erscheinen seines Stirner-Buches 1966 bekam er - trotz oder wegen seines fanatischen Engagements gegen Stirner - vom Hanser-Verlag den Auftrag, eine Edition des Einzigen zu veranstalten. Er zerstückelte den Text in 80 Fragmente und reduzierte ihn auf die Hälfte seines Umfangs. Helms' Interesse an Stirner verlor sich aber merkwürdigerweise schon in den 70er Jahren. Zuletzt war sein Forschungsgebiet die Geschichte der Juden in Osteuropa. Aus Anlass seines 80. Geburtstages, am 8. Juni, druckte die Junge Welt, für die Helms seit Ende der 90er Jahre viele Artikel geschrieben hatte, ein bisher unveröffentlichtes Gespräch mit ihm aus dem Jahre 2009, in dem er auch kurz auf seine aktuelle Sicht des Falles Stirner zu sprechen kommt. Bemerkenswert daran ist zunächst ein unprovoziertes Dementi: "Stirner hat mich nie überzeugt", aber, fährt er fort, "ich erkannte darin viele Dinge, die ich aus dem kleinbürgerlichen Denken und Leben schon kannte." Da ist sie, immer noch, die von Marx in die Welt gesetzte und so bereitwillig auch von Nichtmarxisten (etwa Safranski) aufgegriffene "Kleinbürgerthese". Und da ist auch sie, immer noch, 50 Jahre danach, die alte dissonante Leier, die Helms schon auf auf 500 Seiten seines Buches drehte: "Sozialdemokraten haben sich für Stirner begeistert, Anarchisten haben sich für Stirner begeistert, und auch die Faschisten haben sich für Stirner begeistert, Mussolini hat über ihn geschrieben. In Hitlers 'Mein Kampf' kommt er nur indirekt vor, aber sehr stark. Das kam durch seinen Mentor Dietrich Eckart, der ein grosser Stirnerianer war. Im Grunde versuchte ich, die Entwicklung des Stirnerianismus bis zum Faschismus aufzudecken, und das dürfte mir auch ziemlich gelungen sein." Dies ist freilich ein resignatives Fazit, bezogen auf die Folgen seiner einst mit weltretterischem Pathos vorgetragenen Diagnose. Wenig tröstlich dürfte es dann wohl gewesen sein, falls er noch die Arbeit von Alexander Stulpe (Gesichter des Einzigen, 2010; siehe dazu meine Kritik Der Stachel Stirner) zu Gesicht bekommen hätte, der auf tausend Seiten Helms These, Stirner habe "hier und jetzt ... obsiegt" (Die Ideologie..., S. 495), bestätigt. |
16. Juni 2012: Betr. Stirner/Nietzsche (I) Neulich in einem Buchladen stieß ich beim Blättern auf dieses Bild: Es steht auf S. 42 des von Ansgar Lorenz und Reiner Ruffing gestalteten Bandes Friedrich Nietzsche, der soeben im Wilhelm-Fink-Verlag, München, erschienen ist, und illustriert das Kapitel Der Einfluss von Max Stirner. Das Kapitel besteht nur aus zwölf Zeilen, was allerdings in diesem Band (DIN A4, 90 Seiten Großdruck, jede mit mindestens einer Illustration) der Reihe "Philosophie für Einsteiger" das übliche Format ist. Die Autoren behaupten, Nietzsche habe sich, und zwar im Jahre 1874, mit Stirners Einzigem beschäftigt -- was er Ida Overbeck, der Frau seines Freundes Franz Overbeck, "gestanden" habe. Sie haben sich offenkundig an Rüdiger Safranski orientiert, aus dessen Buch Nietzsche. Biographie seines Denkens (Hanser, München 2000) sie, fünf ihrer zwölf Zeilen füllend, zitieren: Die Autoren haben damit als Fazit den gleichen Satz aus Safranski zitiert wie ich in meinem Kommentar. Während ich ihn aber hervorhob, weil er Safranskis argumentative Not demonstriert, aus der er sich zu befreien glaubte, indem er - nach mehreren Seiten oft anerkennender Darstellung - Hals über Kopf Zuflucht bei Marx' Kleinbürgerthese suchte, werden die Autoren ihn als befriedigende Erledigung der Frage genommen und ihm aus diesem Grunde fast die Hälfte ihres Stirner-Abschnitts eingeräumt haben. So steht es nun da, und der Leser (n.b.: hier und andernorts von mir stets als sex- bzw. genderneutraler Begriff gebraucht), der sich fragt, warum Nietzsche in Sorge um seine Reputation sein Urteil über Stirner nicht öffentlich gemacht hat, sieht sich auf Safranski verwiesen. Dort wird er aber nicht wirklich fündig werden. Da Safranski meinen ZEIT-Artikel als Quelle zwar nicht verschweigt, ihn aber nur als Nachweis für ein Feuerbach-Zitat nennt, wird kaum ein Leser vermuten, dort Näheres über die Hintergründe zu erfahren. Es wäre freilich übertrieben, von einem "safranski-plag" zu sprechen; aber eine kritische Beleuchtung des Stirner-Kapitels aus Safranskis Buch könnte von Nutzen sein -- für den Fall, dass es den einen oder anderen Leser, der der Sache auf den Grund gehen will, auf diese LSR-Seiten verschlägt. |
18. Juni 2012: Betr. Stirner/Nietzsche (II) Rüdiger Safranski schrieb sein Nietzsche-Buch zum Nietzsche-Jahr 2000 (100. Todestag). Er hatte das Manuskript bereits abgeschlossen, als am 27. Januar 2000 in der Wochenzeitung Die Zeit mein Artikel Dissident geblieben. Wie Marx und Nietzsche ihren Kollegen Max Stirner verdrängten und warum er sie geistig überlebt hat erschien. Aufgrund dieses Artikels beschloss Safranski, in sein Buch, das zunächst wie die meisten Nietzsche-Bücher ohne Erwähnung Stirners auskommen sollte, ein Kapitel über das Verhältnis Nietzsches zu Stirner einzufügen. Das Kapitel, ein Unterkapitel zum Sechsten Kapitel, füllt beachtliche sieben Seiten und bekam in der Inhaltsübersicht den Titel Mit Max Stirner und über ihn hinaus. Die Nahtstellen des Einschubs sind im Text deutlich erkennbar: nach dem letzten Satz des dritten Absatzes auf Seite 122 ging es zuvor mit dem dritten Absatz auf Seite 129 weiter. Ich habe mich bereits kurz nach Erscheinen von Safranskis Buch hier zu dessen Stirner-Kapitel kurz geäußert. Das oben vorgestellte Buch, das Safranskis Fazit wiedergibt, war der Anlass dafür, dass ich nach zwölf Jahren mir noch einmal jenes Kapitel vornahm. Das Kapitel ist sichtlich unter Zeitdruck und ohne gründliche Befassung mit Stirner, der Safranski offenbar nur momentan faszinierte, entstanden. Zum Auftakt (123; wdh.: 127) charakterisiert Safranski den "freien und lebendigen Geist" Stirner durch ein Zitat aus dessen Einzigem: "Er weiß, dass man nicht bloss gegen Gott, sondern ebenso gegen andere Ideen, wie Recht, Staat, Gesetz usw. sich religiös oder gläubig verhält, d.h. er erkennt die Besessenheit allerorten. So will er durch das Denken die Gedanken auflösen." (Reclam, S. 164) Er, der von Stirner hier gemeinte "freie und lebendige Geist", ist jedoch nicht Stirner selbst, sondern Bruno Bauer, gegen den Stirner polemisiert. Ein irritierender Einstieg. Einige Zeilen weiter zitiert Safranski Feuerbachs Brief an seinen Bruder, wonach Stirner "der genialste und freieste Schriftsteller [war], den ich kennengelernt". Als Nachweis für dieses Zitat nennt er meinen o.g. Artikel, fügt dann aber hinzu, Feuerbach habe sich öffentlich nicht zu Stirner geäußert, was nicht stimmt und bei mir auch nicht steht. Ohne Nachweis übernimmt Safranski von mir - eine andere Quelle dafür gibt es nicht - die (im Zeitungsartikel üblicherweise unbelegte) Behauptung einer charakteristischen "verschwiegenen Wirkung Stirners" auf eine Reihe von Geistesgrößen, nennt die Namen Edmund Husserl, Carl Schmitt und Georg Simmel, um dann zu Nietzsche zu kommen: Auch bei ihm gebe es "ein bemerkenswertes Verschweigen [Stirners]". Safranski interpretiert dieses Schweigen allerdings banal und zieht einen widersprüchlichen Schluss. Man könne sich, "bei dem schlechten Ruf Stirners, gut vorstellen, dass Nietzsche mit ihm nicht in einem Atemzug genannt sein wollte." (124) Nietzsches Schweigen zu Stirner - nicht nur in seinem Werk, wie Safranski schreibt, sondern allumfassend - bewirkte natürlich gerade dies. Ein paar klärende Sätze - statt etwa des raunenden "Verwechselt mich vor Allem nicht!" zu Beginn seiner letzten Schrift Ecce homo - hätten es verhindern können. Eine weitere eindeutige und nicht nachgewiesene Übernahme von mir ist die Interpretation von Stirners Rede vom "Jenseits in Uns" als von dem, "was Freud dann das 'Über-Ich' nennen wird." (126) Safranski bringt das aber mit seiner These von Stirner als dem "radikalsten Nominalisten vor Nietzsche" zusammen und schreibt dann, obwohl er das Über-Ich als "heteronome Hypothek" bezeichnet, einen Satz, der jede Einsicht in Stirners zentrale Idee dementiert: "Im Kern des Menschen entdeckt Stirner eine schöpferische [sic!] Kraft, die Phantome erzeugt, um sich dann von den eigenen [sic!] Erzeugnissen bedrücken zu lassen." (125f) Bei dem, was Safranski über den "Nominalisten Stirner" - er nennt ihn als solchen "genial" (125) - schreibt, bin ich nicht sicher, ob ich es verstehe; ich möchte es deshalb hier nicht kommentieren. Auf den immerhin sieben Seiten, die Safranski Stirner widmet, zeigt er sich überzeugt davon, dass Nietzsche Stirners Einzigen kannte, hält sich aber bedeckt zu den Spuren, die diese Kenntnis bei Nietzsche hinterlassen haben wird. Bemerkenswert ist das doppelte Fazit des Unterkapitels: "Die Stirnersche Philosophie war ein grandioser Befreiungsschlag, wunderlich und skurril bisweilen. Auch konsequent in einem sehr deutschen Sinne. Als einen solchen Befreiungsschlag wird Nietzsche sie wohl erlebt haben zu dem Zeitpunkt, als er sich Raum für das eigene Denken verschaffen musste, als er um der Lebendigkeit des Lebens willen über das Problem des Wissens nachdachte und darüber, wie der 'Stachel des Wissens gegen das Wissen' zu kehren sei." (128f) Hier reproduzierte Safranski im letzten Satz den Schlusstext des dritten Absatzes auf Seite 122, um so den ursprünglichen, vor Einschub des Stirner-Teils bestehenden Textfluss wieder herzustellen. - Doch dann scheint er den Eindruck gewonnen zu haben, Stirner sei bei ihm zu gut weggekommen, und er fügte einen halbseitigen Absatz als zweites, letztes Fazit ein: Ein bedauerliches Fazit, bedauerlich für Safranski. |
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