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Dieser Artikel erscheint gleichzeitig in gedruckter Form in:
Der Einzige. Zeitschrift des Max-Stirner-Archivs, Nr. 5, Februar 1999, S. 3-13.


Bild Silvio Gesell

Silvio Gesell
(1862-1930)

Silvio Gesell
und
Max Stirner


Zu den Stirner-Debatten
der Freiwirtschaftler

von Bernd A. Laska

Bild Max Stirner

Max Stirner
(1806-1856)


Vorbemerkung

Im Kapitel V.10 meines Buches »Ein dauerhafter Dissident« (1996), das den Titel »Der (enthusiastisch) Adorierte« trägt, behandele ich die erklärten Stirnerianer. Über diejenigen unter ihnen, die nach einer besseren öffentlichen Wirksamkeit trachteten und vielleicht deshalb Stirners Ideen mit der Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell (seit einigen Jahren gelegentlich als "Marx der Anarchisten" apostrophiert), theoretisch und praktisch-politisch zu fusionieren versuchten, schrieb ich dort auf S. 64 f summarisch:

»Einen anders gearteten Versuch, auf dem einsamen Posten eines Stirnerianers standzuhalten, machte, ebenfalls in den 20er Jahren, Rolf Engert (1889-1962). Er erblickte in der damals florierenden "akratischen" Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells (1862-1930) die willkommene wirtschaftstheoretische Ergänzung zur Stirner'schen Philosophie. (142) Engerts Bemühungen, Stirners Ideen an die freiwirtschaftliche Bewegung und auch an Gesell selbst heranzutragen, hatten jedoch nur geringen Erfolg. Eine gründliche Analyse des auch theoretischen Scheiterns dieses Projektes lieferte Hans Sveistrup (1889-1946). (143)

Der Stirnerianismus der 20er Jahre, Mackays Individual-Anarchismus eingeschlossen, hatte zu wenig intellektuelle Kraft, um langfristig bestehen zu können, so dass er von der politischen Zäsur von 1933 kaum noch getroffen wurde. Seine Protagonisten wandten sich meist, sofern sie noch längere Zeit lebten (Lehmann, Engert u.a.) anderen Gebieten zu, was nicht schwierig gewesen sein dürfte, da sie Stirner ohnehin nicht aufgrund seiner wahren Spezifität adoriert hatten.

Nach 1945 formierten sich die Anhänger der Freiwirtschaft wieder in verschiedenen Zirkeln. Gelegentlich gelang es hier einzelnen Verehrern Stirners, das Verhältnis der Freiwirtschaft zum »Einzigen« zu thematisieren. (144) Die so ausgelösten Diskussionen, meist ohne Kenntnis der Kontroversen der 20er Jahre geführt, reproduzierten diese dann mehr oder weniger.


Anmerkungen:

(142) Rolf Engert: Die Freiwirtschaft. Ein praktischer Ausdruck der Stirner'schen Philosophie. Erfurt: Freiland-Freigeld-Verlag 1921; für weitere Schriften Engerts vgl. Bibliographie in Helms: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Köln: DuMont Schauberg 1966.
(143) Hans Sveistrup: Stirners drei Egoismen. Lauf/Pegnitz: Verlag Rudolf Zitzmann 1932
(144) zuletzt in der Zeitschrift »Der Dritte Weg«, März 1989 bis Januar 1990, August 1990 bis Juli 1991 (jeweils monatlich)«


Zu der in Anmerkung (144) genannten Diskussion habe ich selbst einen Beitrag geleistet: »Stirner -- ein Trivial-Egoist?« (August 1990, S. 18). Im folgenden wird zum einen die Debatte beschrieben, in der mein Beitrag eine besondere Stellung einnahm, und zum anderen der historische Kontext skizziert, in dem diese Debatte selbst zu sehen ist. Die Darstellung beginnt, aus Gründen der Chronologie, mit dem letzteren.


Unter den Freiwirtschaftlern, die sich auf die Lehre von Silvio Gesell (1862-1930; Hauptwerk »Die Natürliche Wirtschaftsordnung«, 1916ff) als theoretisches Grundwerk berufen, ansonsten aber recht unterschiedliche Weltanschauungen bzw. philosophische Ansichten vertreten, gab es immer wieder Einzelne, die die Auffassung vertraten, dass Gesells NWO eines ganz spezifischen philosophischen Fundaments bedürfe und dass dieses am kongenialsten bei Max Stirner ausgearbeitet sei. Sie beriefen sich dabei oft auch auf einige Erwähnungen Stirners bei Gesell, in denen sie dessen grundsätzliches Einvernehmen erblicken zu können meinten.

Der erste Autor, der den Versuch unternahm, Stirner und Gesell zu fusionieren, war in den 1920er Jahren Rolf Engert, der allerdings ursprünglich nicht von Gesell, sondern von Stirner her kam und die bereits 1913 skizzierte Idee des "neophysiokratischen" Gesell-Anhängers Georg Blumenthal, zwischen Gesell und Stirner "eine Brücke zu schlagen", ausarbeitete und propagierte.

Rolf Engert (1889-1962) hatte Stirner 1906 für sich entdeckt, als er noch Gymnasiast war. Später trat er der von dem Stirnerbiographen John Henry Mackay gegründeten "Vereinigung der Stirnerfreunde" bei, in der er 1917 durch Georg Blumenthal und Paul Klemm auf Silvio Gesell aufmerksam wurde. Während die meisten "Stirnerfreunde" Gesells NWO ablehnten, war Engert von ihr begeistert und wollte deren Schöpfer unbedingt persönlich kennenlernen. Gesell jedoch war kurz nach Kriegsbeginn in die Schweiz gegangen und schwer zu erreichen.

Eine Gelegenheit zu persönlicher Kontaktaufnahme ergab sich 1919. In München war die Räterepublik ausgerufen worden und Gesell auf Wunsch von Gustav Landauer am 7. April zum Volksbeauftragten für das Finanzwesen bestellt. Engert lebte damals als Dramaturg und Regisseur in Regensburg und machte sich, als er mit einigen Tagen Verspätung davon erfuhr, kurz entschlossen auf den Weg nach München. Er hatte vor, Gesell anzubieten, ihm bei seinen schwierigen Aufgaben zu assistieren. Als Engert mit seiner Frau in München ankam, konnte er aufgrund des vorgefundenen militärischen Chaos nicht zu Gesell vordringen und fuhr zurück nach Regensburg. Nachdem wenige Wochen später die Räterepublik militärisch niedergeschlagen war, reisten Engert und seine Frau am 7. Mai erneut nach München, um zu erkunden, was mit Gesell geschehen sei. Sie fanden ihn schliesslich in Gefängnishaft, eine Anklage wegen Hochverrats erwartend. Die Engerts taten alles Erdenkliche, um Gesell die Haft zu erleichtern und bekamen ihn nach fast zwei Monaten mit Hilfe eines Rechtsanwalts und gegen Zahlung einer Kaution frei. Am 9. Juli schliesslich tagte das Standgericht und sprach Gesell in allen Anklagepunkten frei. In einem Brief an "Stirnerfreund" Blumenthal schrieb Gesell damals: "Schön war die Anwesenheit Engerts und seiner Frau. Prächtige und liebe Menschen, die mich so liebend versorgten. Hoch lebe der Einzige!" (1)

Engert erinnerte sich noch Jahrzehnte später an diese Zeit als eine angenehm erfüllte: "Die gemeinsamen Mahlzeiten, gemeinsame Gänge zum Rechtsanwalt u.a., aber auch mancher abendliche Spaziergang ... trugen dazu bei, uns menschlich immer näher zu bringen." (2) Die beiden Männer schienen sich ausgezeichnet verstanden zu haben. Gesells Schrift »Der Abbau des Staates«, die er in jenen Tagen gerade fertiggestellt hatte, tat ein weiteres, um Engert endgültig zu einem begeisterten Anhänger der Freiwirtschaftslehre Gesells zu machen.

Die Kenntnis dieser Vorgeschichte ist wichtig zur Beantwortung der später immer wieder aufgeworfenen Frage, was Gesell von den Bemühungen zur Fusion seiner Lehre mit der Stirners hielt.

Engert, der also von Stirner herkam, veröffentlichte als nächstes 1921 seine Schrift »Die Freiwirtschaft. Ein praktischer Ausdruck der Stirner'schen Philosophie«, (3) in der er konzeptionell diese Fusion skizzierte. Gewiss erwartete er mit Spannung ein öffentliches Wort Gesells zu diesem Konzept. Doch Gesell schwieg. Es gab zwar unter den Freiwirtschaftlern einige Leute ("Fregosten" = Freie Egoisten), die die Idee, Stirner und Gesell zu vermählen, propagierten; doch sie wurden von der grossen Mehrheit angefeindet. Gesell schwieg auch dazu. Dieses Schweigen ist -- eingedenk des Münchner Anfangs der Beziehung -- kaum als Zustimmung zu Engerts Projekt zu interpretieren, eher als ein Verzicht auf offenen Widerspruch. Gesell konnte sich ausrechnen, dass die Frage durch die zahlreichen Gegner Engerts bzw. Stirners, die sein Schweigen als Einvernehmen für sich verbuchten, sich automatisch erledigen werden würde.

Für Engert war gleichwohl seine These, dass Stirner "der Freiwirtschaftslehre den ihr einzig gemässen, zugleich aber auch unentratbaren Weltanschauungshintergrund" (4) gebe, das vorrangigste Problem der jungen NWO-Bewegung. Damit stand er im Grunde allein. Selbst Hans Timm, Gründer des "Fisiokratischen Kampfbundes" und "Gesells Flügeladjutant", den der NWO-Historiker Bartsch als Stirnerianer porträtiert, (5) fuhr Engert, wie dieser klagte, "mit einer höchst unangebrachten Überspitzfindigkeit in die Parade", (6) als er zu Engerts erstem Artikel einer geplanten Folge zur Klärung des Egoismusbegriffs ein distanzierendes »Nachwort der Schriftleitung« (7) druckte. Engert resignierte und brach das Unternehmen ab.

Vor allem aber Gesell wollte das Thema offenbar nicht öffentlich diskutieren. In einem Brief indes, den er Engert 1923 zusammen mit einem Vortragsmanuskript »Der Aufstieg des Abendlandes« schickte, resümiert Gesell das Ergebnis früherer Gespräche mit Engert wie folgt: "Wir gehen nicht ganz einig in Bezug auf die Rolle, die die Triebe des Unterbewusstseins bei allen menschlichen Handlungen spielen. Bei Ihnen soll das Triebleben beherrscht werden vom Bewusstsein. Bei mir soll umgekehrt das Triebleben das Herrschende, das Bewusstsein das Dienende sein. Das Bewusstsein ist dann einfach eine Funktion des Organismus, dem es nach aussen bessere Lebensbedingungen zu schaffen hat. Dieser Organismus mit den Trieben und dem Bewusstsein bildet das ICH, die Einheit. Aber der Trieb ist wie beim Tier das Primäre... In den Trieben, nicht im Bewusstsein, sitzt der 'Einzige'. Die verschiedenen Nuancen des Menschen kommen von der Verschiedenheit der Triebe. Das Bewusstsein nimmt wie die Wissenschaft sehr uniformen Charakter an. Haben sich zwei Menschen ausgesprochen und sich über alles verständigt, so bleibt als Einzigkeit bei diesen Menschen nur noch die Verschiedenheit in der Anlage der Triebe. Das Bewusstsein arbeitet nach einem Gesetz, die Logik, die nichts mehr mit der Individualität zu tun hat. Ähnlich wie es auch keine individuelle Mathematik gibt. So folgere ich, dass das Individuum im Trieb ist und frage mich nun, wie wir uns hier verständigen können." (8)

Schon auf dieser Ebene gab es also den Dissens zwischen dem Autodidakten und selfmademan  Gesell und dem Dr. phil. Engert, dem literarisch Gebildeten mit Ambitionen als Künstler. Engert wollte den meist nur wirtschaftsegoistischen, im übrigen verschiedensten (altruistischen) Weltanschauungen anhängenden Freiwirtschaftlern nahebringen, dass der von Stirner und ihm gemeinte "Egoismus, indem er auch das übrige Leben umfasst, auf den die Wirtschaft überbauenden Lebensgebieten immer neue, verfeinerte, höhere Formen annimmt, die dem ungeübten Auge oft geradezu wie ein Umschlagen in sein Gegenteil erscheinen können." (9)

Gesell hingegen hatte eine eher handfeste Auffassung vom praktischen Egoismus, die er in manchen Schriften und Briefen auch deutlich zum Ausdruck brachte: "Die Physiokratie ist die Herrschaft der Tüchtigsten, der im Kampf mit den Artgenossen Überlebenden, also Herrschaft einer auf natürlicher Überlegenheit (nicht auf Geld und Besitz beruhenden) begründeten Aristokratie. [...] Der Physiokrat, der Individualist, kennt nur sich und seinen Stamm. Seine Art und nicht die des Nachbarn .. wünscht er zu mehren und zur Herrschaft zu bringen. Auf Kosten der anderen, die er selbstverständlich als minderwertig betrachtet und behandelt (im Vergleich zu sich selbst) sucht er seine Art zu mehren. Das ist das Naturgesetz, das uns bis heute geformt hat. Das ist der Sinn des Wortes 'der Einzige' oder Individualist." (10)

Dass diese beiden Geister, Gesell und Engert, nicht recht zusammenkommen konnten, liegt auf der Hand. Für Gesell scheint dies, anders als für Engert, kein Problem gewesen zu sein. Es kam zwar nie zu einem Bruch zwischen beiden; aber sie hielten Distanz und scheinen, wenn sie sich gelegentlich auf Kongressen begegneten, das Thema Stirner nicht mehr berührt zu haben.

Engert berief sich stets auf die sachliche Notwendigkeit der Fusion Stirner-Gesell, nie auf eine klare Aussage Gesells -- die dieser, als massgebliche Autorität der Bewegung, bis zu seinem Tode 1930 vermied. Nach Gesells Tod versuchte Engert, Gesell noch immer treu verbunden, dessen hartnäckige Distanziertheit Stirner und ihm selbst gegenüber vorsichtig zu erklären. Beide, Stirner und Gesell, würden "tiefgehende Unterschiede ihrer geistigen Naturelle" aufweisen. Und "der Künstler" -- der zeitweilige Theatermann Engert verstand sich in erster Linie als solcher -- "stand, wie alles Geistige, nicht eben hoch in seiner [Gesells] Schätzung." Um so mehr beharrte Engert jedoch darauf, dass das von Gesell verkörperte "Naturhafte" der Ergänzung durch das "Geistige" bedürfe. (11) Doch kaum jemand schloss sich dieser Auffassung an.

Engert nahm erst dann Zuflucht zu ausgewählten Äusserungen Gesells (nicht freilich z.B. auf den oben zitierten Brief), als Hans Sveistrup (1889-1946), einer der wenigen Stirner-Kenner, von denen Engert noch 1931 glaubte, "dass wir nahezu vollkommen übereinstimmen", (12) kurze Zeit später in einem freiwirtschaftlichen Verlag ein Buch "wider Karl Marx, Othmar Spann und die Fisiokraten" (13) veröffentlichte, in dem er Engerts Projekt, Stirner und Gesell zusammenzuführen, vernichtend kritisierte. Gesell habe, so schrieb Engert in einer langen »Erwiderung an Prof. Sveistrup«, (14) ihm persönlich "schriftlich und mündlich" dafür gedankt, dass er ihn mit Stirner und Ibsen zusammen und damit "in so gute Gesellschaft gebracht habe." Und Gesell habe ihm wiederholt "gestanden", wie sehr er es bedauere, Stirners »Einzigen« nicht schon in jungen Jahren kennengelernt zu haben: "Das würde mich vor manchen Jugendtorheiten und Besessenheiten bewahrt haben." (15)

So schwach wie diese Unterstützung Gesells, die Engert hier ins Feld zu führen sucht, so schwach ist auch Engerts Verteidigung der von ihm seit einem guten Jahrzehnt vergeblich propagierten Verbindung zwischen Gesell und Stirner. Gesell hatte diese Bemühungen ja miterlebt und wohl nur aus Rücksicht gegenüber seinem Retter aus Münchner Tagen nicht dagegen Stellung bezogen. Doch ist für jedermann offensichtlich gewesen, dass Gesell mit Stirner wenig anzufangen wusste. Und die Mehrzahl seiner Anhänger -- ob Christen, Völkische, Atheisten o.a. -- war massiv gegen Stirner eingestellt.

Engert wusste nach diesen zehn Jahren, dass er auf verlorenem Posten kämpfte. Er holte in seiner Replik auf Sveistrup zwar erst weit aus, kam aber in 13 Folgen, die sich in der freiwirtschaftlichen Zeitung »Letzte Politik« von Ende 1932 bis Mitte 1933 hinzogen, nicht zum treffenden Schlag. Auch in zwei nicht mehr gedruckten Kapiteln der Replik (16) kommt Engert nicht zum eigentlichen Thema, der Frage der Verträglichkeit oder gar wechselseitigen Ergänzungsbedürftigkeit der Theorien von Stirner und Gesell und der Entkräftung der dies verneinenden Argumente Sveistrups. Auch den Texten Engerts, die in den nächsten drei Jahrzehnten entstanden, ist kein Fortschritt in der Bewältigung dieses seines Lebensthemas festzustellen.

Auf inhaltliche Fragen der (In-)Kompatibilität der Theorien Stirners und Gesells kann hier natürlich nicht eingegangen werden. Es kann aber leider auch nicht auf Literatur verwiesen werden, in der Engerts Projekt gründlich analysiert oder gar weitergeführt worden wäre. Es wurde zwar immer wieder einmal die geistige Nähe zwischen Gesell und Stirner postuliert, doch geschah dies meist aus Oberflächlichkeit oder/und in polemischer Absicht. (17)

Günter Bartsch z.B. schreibt in seiner »Geschichte der NWO-Bewegung Silvio Gesells« über deren Randgruppe der "Fregosten" (Freie Egoisten), diese seien "durchweg von Max Stirner" gekommen, dessen »Einziger« für sie das "Evangelium zu sein schien." "Ihr Gott war das ICH." Sie hätten den Fisiokratischen Kampfbund (FKB) gewissermassen unterwandert gehabt und seien "weit gewichtiger durch ihren Einfluss als durch ihre Zahl" gewesen. Ihr "Sprachrohr und Ideologe" sei Rolf Engert gewesen. Der habe stets propagiert, "Gesell habe die Natürliche Wirtschaftsordnung, sein gesamtes Wirtschaftssystem auf das Prinzip des Egoismus gebaut. Damit löste er eine Diskussion in der NWO-Bewegung aus, die nie zur Klärung kam und sie tief zerklüftete." Am Ende seiner Darstellung stellt Bartsch, der selbst in dieser Bewegung engagiert ist, die rhetorische Frage: "Sollte die NWO-Bewegung an der individualistischen Philosophie ihres physiokratischen Flügels gescheitert sein, insbesondere am erklärten Egoismus des 'Fisiokratischen Kampfbundes', den die Fregosten kultivierten?" (18) -- eine Dämonisierung des Popanzes Stirners mit Sündenbockfunktion, die in der noch zu besprechenden Debatte von 1989/91 vehement auflebte.

Bartsch wäre diese völlige Fehleinschätzung des Stirner-Einflusses auf die NWO-Bewegung ein Jahr zuvor kaum unterlaufen, denn es gab seit mehr als einem halben Jahrhundert keine nennenswerte Diskussion dieses Themas mehr, und es gab schon gar keine Spaltungen infolge der Engert'schen These. Erst 1991, unter dem frischen Eindruck der sog. Philosophiedebatte in der freiwirtschaftlichen Monatsschrift DER DRITTE WEG, kam Bartsch (und anderen) wieder zu Bewusstsein, was seit Gesells Zeiten in der Verdrängung gehalten worden war: die Herausforderung, die in Engerts These steckte.

Diese Philosophiedebatte, bei der es zentral um Stirner bzw. seine Rolle in der Freiwirtschaftlichen Bewegung ging, war im März 1989 durch einen pseudonymen Stirnerianer ("Huber") eröffnet worden. Die Gegenposition wurde hauptsächlich von Hans-Joachim Führer, einem 1915 geborenen Sohn Silvio Gesells, vertreten. Beteiligt haben sich jedoch ausserdem, neben einer ebenfalls pseudonym auftretenden Stirnerianerin ("Müller") eine Reihe prominenter Freiwirtschaftler. Nach gut einem Dutzend Beiträgen hatte die Diskussion sich Anfang 1990 festgefahren.

Nach einigen Monaten Pause bat man mich als aussenstehenden Stirnerkenner um einen Beitrag, der die Diskussion möglichst wieder in Gang bringen sollte, da der Abbruch unbefriedigend war. Die Titelfrage des kurzen Beitrags, den ich lieferte, »Stirner -- ein Trivial-Egoist?«, richtete sich an beide Parteien und sollte andeuten, dass ich Stirners "Egoismus" bisher nicht adäquat behandelt fand, da dieser weder ein Egoismus im gängigen Sinn ist noch ein "höherer", "verfeinerter", "wohlverstandener", der altruistische Haltungen einfach als ebenfalls egoistisch deklariert. Ich resümierte die bisherige Diskussion und erinnerte abschliessend daran, dass in den 20er Jahren in der Freiwirtschaftsbewegung bereits eine sehr sachkundige Stirner-Debatte geführt worden sei, "in der vor allem Stirners Egoismusbegriff nicht trivialisiert, sondern problematisiert wurde", und nannte als deren Höhepunkt das Buch von Hans Sveistrup und Rolf Engerts Replik darauf. (s.u.) Von dem dort erreichten Niveau wäre an sich auszugehen gewesen.

Mein Beitrag brachte zwar die Diskussion nach mehr als einem halben Jahr Pause wieder in Gang. Die von mir angesprochene Problematik wurde aber weiterhin ignoriert.

Nachfolgend werde ich:
1. die bibliographischen Daten der ersten Etappe der neuerlichen Debatte angeben;
2. meinen Beitrag als Resümee und Kritik dieser ersten Etappe wiedergeben;
3. die bibliographischen Daten der zweiten Etappe der neuerlichen Debatte angeben;
4. ein Resümee der zweiten Etappe anschliessen.


Die Philosophiedebatte in DER DRITTE WEG 1989/91

Beiträge der 1. Etappe: März 1989 bis Januar 1990
(ohne kurze redaktionelle Bemerkungen und Leserbriefe)


03/89, S. 14: Franz Joseph Huber: Eigennutz - Antrieb der Menschen
05/89, S. 4: Hans-Joachim Führer: Eigennutz - Antrieb der Menschen?
07/89, S. 26: Franz Joseph Huber: Stirners "Mir geht nichts über Mich" kontra christlicher Aufforderung zur Nächstenliebe
07/89, S. 27: Elimar Rosenbohm: Der segensreiche Eigennutz
08/89, S. 7-9 Hans-Joachim Führer: Auch die Freiwirtschaft braucht Philosophie [Teil 1] - Marx und Gesell als Strategen. Ein Vergleich
08/89, S. 19-20 Kurt Kessler: Gemeinsamkeiten zwischen Tugend und Freiwirtschaft - Zugleich ein Beitrag zum Thema Egoismus und Vernunft
09/89, S. 20: Franz Joseph Huber: Weltanschauliche Klärung nur durch Hans-Joachim Führer? Ein Kommentar zu 08/89, S.7-9
09/89, S. 21-23: Hans-Joachim Führer: Auch die Freiwirtschaft braucht Philosophie (Teil 2) - Versuch einer philosophischen Klärung
10/89, S. 19-21: Hans-Joachim Führer: Auch die Freiwirtschaft braucht Philosophie (Teil 3) - Egoismus - Spiel auf der falschen Orgel
11/89, S. 12: Trude Müller: Tugend und Freiwirtschaft - Egoismus und Vernunft. Gedanken zum Beitrag Kessler in 8/89
11/89, S. 14: Franz Joseph Huber: Schaden oder Nutzen für die Freiwirtschaft durch die Philosophie Max Stirners?
01/90, S. 20-22: Hans-Joachim Führer: Den Egoismus abbauen oder akzeptieren? Eine persönliche Antwort auf Franz Joseph Huber
01/90, S. 23-24: Franz Joseph Huber: Problem des Eigennutzes klären! Eine Entgegnung auf die Ansichten Hans-Joachim Führers (S.20-22)

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Resümee der ersten Etappe in Heft 08/90, S. 18:

Bernd A. Laska
»Stirner - ein Trivial-Egoist?«

("Philosophiedebatte neu belebt")

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Beiträge der 2. Etappe: September 1990 bis Juli 1991
(ohne kurze redaktionelle Bemerkungen und Leserbriefe)


09/90, S. 21-23: Ernst-August Mischak: Die Philosophie der Freiwirtschaftslehre
10/90, S. 24: Hans-Joachim Führer: Der Eigennutz im Würgegriff der Selbstsucht. Ein Resümee zur bisherigen Philosophiedebatte (Teil 1)
10/90, S. 25-26: Georg Blume: Vom Egoismus zur Ichbezogenheit. Gedanken zu Bernd A. Laskas Artikel »Stirner - ein Trivial-Egoist?« (08/90)
11/90, S. 22: Hans-Joachim Führer: Der Eigennutz im Würgegriff der Selbstsucht. Ein Resümee zur bisherigen Philosophiedebatte (Teil 2)
11/90, S. 23-24: Reiner Bischoff: Überlegungen zu Wesen und Rolle des Eigennutzes.
11/90, S. 25: Franz Joseph Huber: Die Zeit ist reif zur Abklärung philosophischer Grundlagen
12/90, S. 22-23: Hans-Joachim Führer: Der Eigennutz im Würgegriff der Selbstsucht. Ein Resümee zur bisherigen Philosophiedebatte (Teil 3)
12/90, S. 23-25: Ekkehard Lindner: Philosophie und Ethik für die Freiwirtschaft - entdeckt in der Freiwirtschaft selbst. Philosophie für autonome Menschen,
12/90, S. 25: Franz Joseph Huber: Stellungnahme zu Hans-Joachim Führer »Eigennutz im Würgegriff der Selbstsucht«.
01/91, S. 22-23: Josef Hüwe: Die Crux mit dem Eigennutz. Kritik am Eigennutzprinzip überdenken.
01/91, S. 24: Hans-Joachim Führer: Der Eigennutz im Würgegriff der Selbstsucht. Ein Resümee zur bisherigen Philosophiedebatte (Teil 4)
01/91, S. 25-27: Ekkehard Lindner: Der ethische Gehalt der Freiwirtschaftslehre (Forts. und Schluss)
03/91, S. 21: Anne Jaun: Absage an den Nihilismus (Zur Diskussion: Braucht die Freiwirtschaft eine Philosophie?)
04/91, S. 22-24: Hans-Joachim Führer: Kampf dem Nihilismus. Vom notwendigen Ende einer Mesalliance (Teil 1)
05/91, S. 23-25: Hans-Joachim Führer: Kampf dem Nihilismus. Vom notwendigen Ende einer Mesalliance (Teil 2)
06/91, S. 24-25: Hans-Joachim Führer: Kampf dem Nihilismus. Vom notwendigen Ende einer Mesalliance (Teil 3)
07/91, S. 26-27: Hans-Joachim Führer: Kampf dem Nihilismus. Vom notwendigen Ende einer Mesalliance (Teil 4)
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[12/91, nicht abgedruckt
Ursula Engert: Gedanken zum philosophischen Unterbau der Freiwirtschaftstheorie.
Später gedruckt in: Der Einzige. Zeitschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Nr. 3, August 1998, S. 20-22
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07/92, S. 21-22: Günter König: "Egoismus", ein Begriff, der abstösst -- oder der das Verständnis vom Wesen des Menschen fördert.

Resümee 2. Etappe

Die zweite Etappe der Philosophie- bzw. Stirner-Debatte erstreckte sich zwar ungefähr über einen gleichlangen Zeitraum wie die erste, nahm aber schätzungsweise den doppelten Umfang an -- ohne dass, soviel vorweg, die Problematik am Ende deutlich klarer geworden wäre.

Schon bei den Beiträgen der ersten Etappe war eine merkwürdige Disparität zu bemerken. Von den Autoren, die pro Stirner argumentierten, traten die wichtigsten, Huber und Müller, unter Pseudonym auf. (Warum?) Ihre Beiträge waren meist in kleinerer Type, mit kleinerer Überschrift in schmaleren Spalten und engerem Zeilenabstand gesetzt (Zufall?) -- und sie nahmen vor allem weit weniger Platz in Anspruch als diejenigen der Gegner Stirners, namentlich die Hans-Joachim Führers.

Wenn auch in der zweiten Etappe wenigstens ein (fast) einheitliches Satzbild für alle Beiträge gewählt wurde, so ist bei ihr das Missverhältnis der Textmengen noch weit ausgeprägter: Huber füllte 7 Spalten und Führer mehr als 50 (flankiert von ungefähr der gleichen Menge von Texten, die in Hinblick auf ihre Ablehnung Stirners als gleichgesinnt anzusehen sind).

Nachdem Ernst-August Mischak sich demonstrativ zu denen bekannt hatte, "die wir von den Lehren Stirners nichts wissen wollen", (9/90, S.22) eröffnete Hans-Joachim Führer die zweite Etappe der Debatte mit der Ankündigung, "die Egoismusthematik unter Berücksichtigung der in der langen Kontroverse zutage getretetenen Aspekte endlich zusammenhängend und umfassend abzuhandeln." (10/90, S.24) Er sagt, er folge damit "der Anregung von Bernd A. Laska" und beginnt, ohne mein Resümee der bisherigen Debatte zu erwähnen, mit einem erneuten "Resümee zur bisherigen Philosophiedebatte" in vier Teilen unter dem reisserischen Titel »Der Eigennutz im Würgegriff der Selbstsucht«. (siehe Aufstellung oben)

Der verantwortliche Redakteur der Zeitschrift, Wilhelm Schmülling, der zuvor seine Neutralität betont hatte, wollte ursprünglich die Debatte nicht ausufern lassen und ein mehrfaches Wiederholen der gleichen Argumente vermeiden. Jetzt jedoch gab er offenbar der Schreibewut Führers nach, denn der Würgegriff-Artikel war nur der Auslöser einer Führer'schen Textlawine, unter der zwei kurze Beiträge Hubers, beide nur reagierende "Stellungnahmen" zu Führer, fast verschüttet wurden. Der letzte Beitrag Hubers, nicht einmal eine Seite, schliesst mit den resignativ klingenden Worten: "Wenn ich in meinen früheren Beiträgen gesagt habe, Gesell hätte sich eindeutig zu Stirner bekannt, so war das nur für die von mir angegebenen Punkte (Äusserungen Gesells) gemeint, wobei ich mir absolut darüber klar bin, dass man damit alleine nicht Gesell als Anhänger der Stirner'schen Weltanschauung bezeichnen kann. Ich bleibe aber dabei, dass Gesell in vielen Punkten Stirner näher stand als der christlichen Lehre." (12/90, S.25)

Wenn Huber meinte, damit "die Debatte mit H.-J. Führer über die Frage, ob die Stirner'sche oder die christliche Weltanschauung für die Freiwirtschaftslehre angemessen ist, zu beenden", (ebd.) so irrte er sich. Führer setzte zunächst die Würgegriff-Serie fort und begann -- nach einem kurzen Intermezzo von Anne Jaun gegen die »Verherrlichung des Egoismus« bei Stirner, der mit seinem Titel »Absage an den Nihilismus« (3/91, S.29) Führer das Stichwort gab -- eine weitere 4-teilige, noch weiter ausufernde Artikelserie: »Kampf dem Nihilismus. Vom notwendigen Ende einer Mesalliance«.

Führer beginnt seinen ersten Beitrag mit Blick auf Hubers Resignation: "Mit dem Ausgang der Egoismus-Debatte bin ich persönlich weitgehend zufrieden." (4/91, S.22) Warum dann dieser neuerliche Kampfaufruf? Es geht natürlich um Stirner, den Führer als denjenigen Autor bezeichnet, der als einziger den "hemmungslosen Egoismus", die "rücksichtslose Selbstsucht" "bedingungslos propagiert" habe; (ebd.) den er deshalb ein für allemal erledigen will.

Führer hat schon in jungen Jahren, spätestens seit seiner Konversion zum Katholizismus Ende der vierziger Jahre Stirner als Hauptfeind (der Menschheit) erkannt. Die vermeintliche "Mesalliance" zwischen seinem Vater und Stirner hat er dementsprechend schon früh verurteilt. Er kritisierte damals, "dass Gesell in Fragen der Weltanschauung durchaus nicht so ein abgerundetes Bild zeigte, wie dies von vielen seiner Freunde angenommen wird... Er stand ständig unter dem Einfluss von Männern, die, als seine ersten Anhänger, naturgemäss aus dem Lager des extremen Individualismus Stirner'scher Prägung kommen mussten." (19) Führer nennt namentlich Engert, wähnt aber offenbar, dass noch viele andere diabolische Einflüsterer am Werk waren.

Gegen Stirner also, um den, wie er sagt, "nicht immer in Klarschrift, die in diesen Blättern ausgetragene Auseinandersetzung" (ebd.) sich allein drehte, zieht Führer, nach dem für ihn zufriedenstellenden Ausgang der Debatte, noch einmal vehement zu Felde. Dabei gerät der Katholik in genau die gleichen polemischen Fahrrinnen wie vor ihm der Marxist Hans G. Helms (20). Wie dieser Stirner zum "Protofaschisten" machte und mit allseits als satanisch anerkannten Figuren wie Hitler und Goebbels in Verbindung zu bringen suchte, so schreibt Führer 1991: "[Saddam] Hussein hat nach der Macht gegriffen ... als hätte er Stirner gelesen, genau wie vor ihm Alexander, Cäsar, Napoleon, Stalin, Hitler." (5/91, S.23)

Führer markiert Stirners Platz in der Philosophiegeschichte als "die höchste Spitze des Nihilismus." Und: "Nihilismus bedeutet Leugnung aller ethisch begründeten 'Werte' wie Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Liebe, Freundschaft, Treue etc. Marxismus, Kapitalismus und positive Wissenschaft folgen Stirner aufs Wort... Es ist daher kein Wunder, dass diese drei herrschenden gesellschaftlichen Mächte die Welt an den Rand des Abgrundes manipuliert haben." (5/91, S.24) In vorderster Front im Kampf gegen all diese Mächte und "damit besonders auch [gegen] Max Stirner" stehe Silvio Gesell (zusammen mit Rudolf Steiner). (ebd.) Aktuell führten den Kampf gegen diese Mächte die schnell wachsenden Alternativbewegungen. In diese setzt Führer all seine Hoffnung. Ihnen möchte er Gesells Lehre attraktiv machen. Und gerade deswegen sei die Beendigung jener fatalen Mesalliance notwendig, denn: "Wie können wir das Vertrauen der breiten Front der Nihilismusgegner gewinnen, wenn wir in unserem Gepäck noch immer den Ultranihilisten Stirner mit uns herumschleppen?" (7/91, S.27)

Damit ist Führer wieder am Anfang der Debatte angekommen. Stirner wird dämonisiert, zum Popanz stilisiert, der angeblich an dem geringen Anklang schuld ist, den Gesells Freiwirtschaftslehre allenthalben findet -- obwohl sie doch "richtig" ist. Doch hier geht es um mehr, ums Ganze. "Stirner" ist eine Figur mit höchster Symbolkraft. Der Ultranihilist Stirner, so Führer, "könnte der Hausphilosoph der Weltzerstörer sein und ist es vielleicht -- klammheimlich natürlich. [...] Der herrschende Nihilismus erklärt nicht nur, warum es die Freiwirtschaft, eine wie ihr Schöpfer lebens-, freiheits- und gerechtigkeitsstrotzende Wirtschaftslehre, so schwer hat, in das öffentliche Bewusstsein zu dringen... Er erklärt ebenfalls, warum die Rettung der [...lange Liste...] auf schier unüberwindliche Hindernisse stösst." (6/91, S.25)

Führers Stilisierung Stirners zum Inbegriff des "Bösen" sowie seine zum Abschluss angedeuteten apokalyptischen Visionen, in denen dieser Führer'sche "Stirner" gewissermassen als der Widersacher Christi, der Antichrist, erscheint (und Gesell als der Aufhalter von dessen Ankunft, als Katechon), sind zwar absurd, aber gar nicht so aussergewöhnlich, wie sie demjenigen erscheinen müssen, der mit der Stirner-Rezeption wenig vertraut ist. Ich habe in meinen Studien »Ein dauerhafter Dissident« und »'Katechon' und 'Anarch'« gezeigt, dass viele Denker, meist sogar grössere als Führer, Stirner auf ähnliche Weise wahrgenommen und gedeutet haben. (21)

Wer also Stirner ernsthaft anders deuten will, wer bei ihm statt eines, so Führer, "negativ gepolten Egoismus" (4/91, S.22) einen "positiv gepolten" (ein Begriff, der erst zu erklären wäre) sehen will, sieht sich einer mächtigen Phalanx von Denkern, von Marx über Nietzsche bis Habermas, gegenüber, die aber -- und das ist ihr hervorstechendstes gemeinsames Charakteristikum -- nicht mit offenem Visier streiten bzw. stritten. (22) Und er kann nur sehr bedingt auf geistige Verbündete zurückgreifen.

Führers tiefsitzendes Ressentiment gegen Stirner ist also durchaus "normal", seine Motivation zum Kampf gegen ihn nachvollziehbar. Sie beruht auf einem bestimmten -- vulgären -- Verständnis von Stirners "Egoismus", das ich "Trivial-Egoismus" genannt habe. (8/90, S.18) Stirnerianer, wie z.B. Rolf Engert, haben dem eine Art "Edel-Egoismus" entgegengesetzt, eine m.E. ebenfalls "triviale" Stirner-Deutung, die Führer mit einiger Berechtigung zurückwies: "Auch in ... augenscheinlich ... selbstlosem Verhalten entdecken die Argusaugen der Stirnerianer nichts anderes als -- Egoismus. Eine solche Rabulistik oder Wortverdrehung kann jedoch nur Abscheu erregen..." (4/91, S.24)

Während Führers Wüten gegen Stirner (und gegen die Behauptung, sein Vater Silvio Gesell habe sich zu Stirner bekannt) von seiner katholischen Position aus verständlich ist, wird der tiefere Grund, aus dem "Huber" -- und vor ihm hauptsächlich Rolf Engert -- Gesell ausgerechnet mit Stirner zusammenbringen wollte, nie so recht klar. Mit dem Egoismus der wirtschaftenden Individuen rechnet schliesslich jede moderne Wirtschaftstheorie. Die Spezifität des Stirner'schen Egoismus wurde auch von den Stirnerianern nicht erkannt. Inwiefern es speziell der Stirner'sche Egoismus ist, der allein sich als "philosophische Grundlage" der Freiwirtschaftslehre eignet, wurde demzufolge bisher nie überzeugend dargelegt -- was jedoch nicht heissen soll, dass dies nicht darlegbar ist.


Anmerkungen:

(1) Brief Silvio Gesell an Georg Blumenthal vom 10. oder 11.7.1919. In: Silvio Gesell: Gesammelte Werke. Band 18. Lütjenburg: Fachverlag für Sozialökonomie 1997. S. 210

(2) Rolf Engert: Silvio Gesell in München 1919. Erinnerungen und Dokumente... Lütjenburg: Gauke GmbH, Fachverlag für Sozialökonomie 1986. S. 63

(3) Rolf Engert: Die Freiwirtschaft. Ein praktischer Ausdruck der Stirner'schen Philosophie. Erfurt: Freiland-Freigeld-Verlag 1921. 30 S.; Neudruck: Leipzig: Stirneriana (Sonderreihe der Zeitschrift "Der Einzige"), Heft Nr. 10, Oktober 1998.

(4) Rolf Engert: Egoismus. In: Die Freiwirtschaft. 8. Jg., 12. Heft, 2. Junihälfte 1926, S. 227-233 (230)

(5) vgl. Günter Bartsch: Hans Timm und der Fisiokratische Kampfbund (FKB). In: ders.: Stirners Anti-Philosophie / Die revolutionäre Fisiokraten. Berlin: Edition AurorA 1992. S. 33-77

(6) Brief Engert an Paul Klemm vom 21. Feb. 1929

(7) wie Anm. (4), S. 233

(8) Brief Gesell an Rolf und Käthe Engert vom 20.6.1923. In: wie Anm. (1), S. 269

(9) wie Anm. (4), S. 232

(10) Brief Gesell an Ernst Netzband vom 2.11.1927. In: wie Anm. (1), S. 341-342 (342)

(11) Rolf Engert: Silvio Gesell als Person. Leipzig: Stirn-Verlag 1933. 24 S. passim; Neudruck: Leipzig: Stirneriana (Sonderreihe der Zeitschrift "Der Einzige"), Heft Nr. 1, März 1998. S. 26-42, passim

(12) Brief Engert an Sveistrup vom 22.6.1931

(13) Hans Sveistrup: Stirners drei Egoismen. Wider Karl Marx, Othmar Spann und die Fisiokraten. Lauf: Zitzmann 1932

(14) Rolf Engert: Silvio Gesell und Max Stirner. Eine Erwiderung an Prof. Sveistrup. In: Letzte Politik, Nr. 47/1932 (3.-9.12.1933).
Dies war eine längere Schrift, von der13 Folgen bis Mitte 1933 gedruckt wurden. Der gesamte Text, d.h. die veröffentlichten und zwei bisher ungedruckte Kapitel, erschien kürzlich: Leipzig: Stirneriana (Sonderreihe der Zeitschrift "Der Einzige"), Heft Nr. 9, Sept. 1998.

(15) im Neudruck (s.Anm. 14) S. 5 und 22

(16) im Neudruck (s. Anm. 14) S. 48-51

(17) a) Hans G. Helms: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Köln: DuMont-Schauberg 1966. Kap. X und XI (S. 381-472)
b) Gerhard Senft: Der Schatten des Einzigen. Die Geschichte des Stirner'schen Individual-Anarchismus. Wien: Monte Verita 1988. (S. 99-111)
c) Klaus Schmitt: Geldanarchie und Anarchofeminismus. In: ders. [Hg.]: Silvio Gesell - "Marx" der Anarchisten? Berlin: Karin Kramer 1989. S. 195, 221
d) Hans-Joachim Werner: Geschichte der Freiwirtschaftsbewegung. 100 Jahre Kampf für eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Münster: Waxmann 1989. S. 19, 75
e) Gerhard Senft: Weder Kapitalismus noch Kommunismus. Silvio Gesell und das libertäre Modell der Freiwirtschaft. Berlin: Libertad 1990. Kap. "Der philosophische Unterbau" (S. 33-65)
f) Günter Bartsch: Die NWO-Bewegung Silvio Gesells. Geschichtlicher Grundriss - Teil 1 (1891-1932/33) In: Zeitschrift für Sozialökonomie, Nr. 88, Feb. 1991, S. 2-37, speziell Kap. "Die Fregosten", S. 35;
vgl. Bartschs späteres Buch mit gleichem (Haupt-)Titel. Lütjenburg: Gauke 1994. 350 S.
g) Günter Bartsch: Hans Timm und der Fisiokratische Kampfbund (FKB). In: ders.: Stirners Anti-Philosophie / Die revolutionären Fisiokraten. Berlin: Edition AurorA 1992. S. 33, 34, 35, 44f, 60, 62

(18) s. Anm. 17 f

(19) Hans-Joachim Führer: Erinnerungen. In: Silvio Gesell. Zeitgenössische Stimmen zum Werk und Lebensbild eines Pioniers. Lauf bei Nürnberg: Verlag Rudolf Zitzmann 1960. S. 71-79 (74)

(20) Hans G. Helms: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Köln: DuMont Schauberg 1966.

(21) Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident. 150 Jahre Stirners »Einziger«. Eine kurze Wirkungsgeschichte. Nürnberg: LSR-Verlag 1996 ("Stirner-Studien", Band 2);
ders.: "Katechon" und "Anarch". Carl Schmitts und Ernst Jüngers Reaktionen auf Max Stirner. Nürnberg: LSR-Verlag 1997 ("Stirner-Studien", Band 3)

(22) Einzelheiten in den unter (21) genannten Schriften.
vgl. hier die Einleitung zu "Ein dauerhafter Dissident".


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