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Bernd A. Laska

Einleitung zu Wilhelm Reichs »Christusmord«


Der »Christusmord« wurde von Reich im Sommer 1951 geschrieben; wie alle seine Bücher seit 1933 erschien auch dieses in seinem eigenen Verlag, im Frühjahr 1953.

Reich brachte das Buch als Band I einer zweibändigen Edition »Die emotionale Pest der Menschheit« heraus. Band II, der gleichzeitig unter dem Titel »People in Trouble« erschien, enthält eine Sammlung von Arbeiten, die Reich in den Jahren 1936 und 1937 im Osloer Exil unter dem Titel »Menschen im Staat« geschrieben, damals aber nicht veröffentlicht hatte. Beide Bände sind Teil einer umfangreicheren Schriftenreihe, die von Reich in den 50er Jahren als »Biographisches Material – Zur Geschichte der Entdeckung der Lebensenergie« herausgegeben wurde. Diese Schriften erschienen als numerierte Editionen und waren für einen relativ kleinen Leserkreis bestimmt, bei dem eingehende Kenntnis des gesamten Reichschen Werks vorausgesetzt werden konnte.

Der »Christusmord« ist bisher das einzige Buch aus dieser Reihe, das nach Reichs Tod in grosser Auflage für ein breites Publikum erschienen ist (erstmals 1966 in den USA und England). Es erhielt jedoch weder eine zusätzliche Einleitung noch kommentierende Bemerkungen, was mit dazu beigetragen haben mag, dass es bei weitem nicht seiner Bedeutung entsprechend rezipiert und vielleicht auch nicht verstanden wurde.

Der heutige Leser jedoch, der weder in Kontakt mit der Person Reichs steht noch mit dessen Werk und Biographie im einzelnen vertraut sein wird, muss Reich ein sehr hohes Mass an Kredit einräumen, wenn er das vorliegende Werk mit Gewinn lesen will. Und wenn ein solcher Kredit nicht nur Geduld sein soll, bis zum Ende durchzuhalten, so kann er nur aus der Kenntnis und Hochschätzung von Reichs sonstigen Arbeiten erwachsen sein. Diese Hochschätzung sollte nicht verwechselt werden mit der kritiklosen Verteidigung auch jedes noch so unwesentlichen Details seiner Entdeckungen und Theorien auf den verschiedensten Gebieten, die man manchmal antrifft. Sie wird aber wohl in jedem Fall verbunden sein mit einer tiefen Einsicht in die Ausmasse des allgemeinen menschlichen Elends, erwachsen aus dem eigenen Leiden an dieser Situation. Die damit verbundene Sympathie mit Werk und Person Reichs wird sehr hilfreich sein, die Einzigartigkeit und Tiefe, auch das Biographische, des »Christusmord« zu erfassen. Sie wird auch helfen, die Unzulänglichkeiten, Widersprüche und sonstigen Mängel des Buches zwar nicht zu übersehen, diese aber doch richtig einordnen zu können. Sie wird verhindern, dass man aus der Identifikation Reichs mit Christus auf eine Krankheit Reichs schliesst und sich so selbst der Möglichkeit beraubt, durch dieses Buch eine tiefe Einsicht in die grundsätzliche Krankheit des Menschen vermittelt, besser: bestätigt zu bekommen.

Diese Einleitung kann den Leser natürlich nicht in die genannte Situation versetzen. Sie soll lediglich einen kurzen Abriss der Entwicklung des Reichschen Werkes bis zur Abfassung des »Christusmord« geben und dabei die Begriffe einführen, die Reich in anderen Büchern entwickelt hat und deren Kenntnis er hier voraussetzt. Hier und da werden andeutungsweise Bezüge zum Buchinhalt hergestellt; im grossen und ganzen muss es jedoch dem Leser überlassen bleiben, die Verbindungen zu Leben und Werk Reichs selbst herzustellen und das gebotene biographische Material zu interpretieren.

Ich möchte mit der Darstellung etwa 1918 beginnen, als Reich in Wien 21-jährig zunächst ein Jurastudium begann. Schon zu dieser Zeit schien er erkannt zu haben, dass die gegen andere und gegen sich selbst gerichteten Handlungen des Menschen nicht formal-ethisch mit Kategorien wie Schuld und Sühne zu beurteilen und als Verbrechen durch Strafandrohung und Bestrafung im Diesseits und Jenseits zu bekämpfen sind. Die intuitive Einsicht in die Fruchtlosigkeit und das jahrtausendelange Scheitern dieses Konzepts mögen Reich bewogen haben, nach einem Semester zur medizinischen Fakultät zu wechseln.

Eine weitere frühe, grundlegende Einsicht, die für sein gesamtes Leben bestimmend werden sollte, notierte er etwa um die gleiche Zeit in sein Tagebuch: "Ich bin aus eigener Erfahrung, durch Beobachtungen an mir und anderen zur Überzeugung gekommen, dass die Sexualität der Mittelpunkt ist, um den herum das gesamte soziale Leben wie die Geisteswelt des Einzelnen … sich abspielen."

Schon hier, am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn, waren die Probleme, deren Erforschung er dann sein Leben widmete, recht klar erkennbar: 1. die Ursachen des Elends der grossen Mehrheit der Individuen und 2., untrennbar damit verbunden, das Elend der menschlichen Gesellschaft seit Beginn der geschriebenen Geschichte. Den »Christusmord«, sein letztes zusammenhängendes Werk (danach veröffentlichte er nur noch Berichte und Protokolle), beginnt er denn auch mit der Fragestellung Rousseaus, warum der Mensch, obwohl doch frei geboren, überall in Ketten liege.

Die Entwicklung seiner Theorien bis zum Jahre 1940 beschreibt Reich in seinem Buch »Die Funktion des Orgasmus« (1. Aufl. 1942). Geleitet von den beiden genannten frühen Einsichten stiess er schon zu Beginn seines Studiums auf Freud und dessen Kreis. Die psychoanalytische Gesellschaft, die damals noch völlig isoliert in einer feindseligen Gesellschaft stand, bot ihm das, was er im regulären Studium nicht fand: die Möglichkeit, sich zusammen mit Kollegen der Erforschung der Probleme der Neurosenentstehung und -prophylaxe zu widmen. Freud, vor allem dessen konsequentes naturwissenschaftlich-energetisches Denken, faszinierte ihn. Reich war unter den damaligen Psychoanalytikern der weitaus jüngste und dynamischste und widmete sich der Arbeit mit vollster Hingabe.

Vieles war damals in der Psychoanalyse noch zu klären. Als Kriterium für "Heilung" galt das Verschwinden des neurotischen Symptoms. Das Symptom fasste man als Fremdkörper in einem sonst gesunden Organismus auf. Die Praxis bereitete jedoch noch grosse Schwierigkeiten und warf eine Menge Fragen auf. Die ursprüngliche Heilungsformel lautete: Das Symptom muss verschwinden, wenn der unbewusste Sinn bewusst geworden ist. Bald schränkte man ein: Es kann verschwinden. Doch gab es auch noch die sog. negative therapeutische Reaktion, bei der auf Sinndeutungen eine Verschlechterung des Zustands des Patienten folgt. Das Verhältnis von Theorie zu Therapie war noch sehr wenig durchleuchtet, d.h. man wusste wenig, inwiefern die Theorie die Therapie fördert und umgekehrt bessere Therapietechnik klarere theoretische Formulierungen ermöglicht. Diese Problemstellungen führten zur Gründung des Wiener »Seminars für Psychoanalytische Therapie«, dessen Leiter Reich von 1924 bis 1930 war. Hier bemühte man sich um eine Systematisierung der psychoanalytischen Theorie und vor allem um eine Weiterentwicklung in Übereinstimmung mit den Problemen, die aus der täglichen Praxis kamen, und denen nur jene gleichgültig gegenüberstehen konnten, denen die Psychoanalyse nicht mehr bedeutete als irgendein anderer einträglicher Beruf.

Aus der Arbeit in diesem Seminar und natürlich aus der eigenen Praxis entwickelte Reich in dieser Zeit zwei Konzepte, die auch für sein späteres Werk immer grundlegend geblieben sind: Mit orgastischer Potenz ist bei Reich die Fähigkeit zur vollständigen Hingabe an die unwillkürliche Konvulsion des gesamten Organismus auf dem Höhepunkt der genitalen Vereinigung gemeint, bei der eine vollständige Entladung der Erregung stattfindet. Volle orgastische Potenz ist mit dem Bestehen einer Neurose unvereinbar. Der Begriff ist auf beide Geschlechter anwendbar. Erektive und ejakulative Potenz beim Manne sind klar von orgastischer Potenz zu unterscheiden; sie können auch bei Neurotikern vorhanden sein. Mit der orgastischen Potenz hatte Reich ein Kriterium für psychosomatische Gesundheit entdeckt. Der Idealtypus, der orgastische Potenz besitzt, wurde von Reich genitaler Charakter genannt, weil er die verschiedenen Entwicklungsstufen der Persönlichkeit, wie sie die Psychoanalyse kennt, ohne grössere Schädigung bis zur genitalen durchlaufen hat (Reich hielt Christus für einen genitalen Charakter). Dies führt direkt zu dem zweiten wichtigen Konzept, das Reich in dieser Zeit entwickelte: seine Theorie der Charakterstruktur. Bis dahin war die Charakterologie sowohl in der Psychoanalyse als auch erst recht in anderen psychologischen Schulen eine Mischung aus Deskription und moralischer Bewertung von Charakterzügen. Erst Reich führte eine funktionale Betrachtungsweise ein. Welche Funktion hat die Charakterbildung? Welche Kindheitsereignisse führen zu welchen Charaktereigenschaften? Ist eine Veränderung des Charakters durch Therapie möglich? Letztlich: Wie lässt sich gesundes Verhalten beschreiben? In der letzten Fragestellung wird die enge Verknüpfung mit dem Konzept der orgastischen Potenz am deutlichsten. Der nichtneurotische, genitale Charakter besitzt volle orgastische Potenz. Im Gegensatz dazu steht eine Reihe von neurotischen Charaktertypen, die nach bestimmten Kriterien entsprechend ihrer Entstehung und Funktion benannt sind. Auch sie sind als Idealtypen aufzufassen. In der realen Person wird man also in den meisten Fällen eine Mischung aus diesen Typen vor sich haben. Die Bedeutung dieser Aufteilung sowie Einzelheiten zu den Charaktertypen sind hier weniger interessant; eine ausführliche Darstellung gibt Reichs Buch »Charakteranalyse«.

Ein Begriff jedoch muss hier noch kurz erläutert werden: der Charakterpanzer. Dieser bezeichnet die Gesamtheit aller typischen Verhaltensmerkmale, die ein Individuum entwickelt hat, um sich gegen die Unlust und die Schmerzen zu schützen, die es als Kind bei Konflikten zwischen seinen Triebwünschen und deren Versagung durch die Aussenwelt erfahren musste. Diese für einen Menschen typische Struktur, sein Charakter, hat zu seinen in psychologischen Kategorien beschreibbaren Eigenschaften jeweils konkrete physiologische Entsprechungen, die muskuläre Panzerung. Diese besteht aus der Gesamtheit chronischer, muskulärer Verkrampfungen, die das Individuum gleichzeitig mit der Charakterbildung erworben hat. Muskelpanzer und Charakterpanzer stehen weder in einem hierarchischen Verhältnis zueinander noch in Wechselwirkung: sie sind funktionell identisch. Änderungen am Charakterpanzer, etwa durch therapeutischen Eingriff, rufen nicht Änderungen am Muskelpanzer hervor, sie sind (gleichzeitig) Änderungen am Muskelpanzer. Diese Panzerung kann nun sehr verschieden sein, was ihre Struktur und den Grad ihrer Starrheit angeht. Der neurotische Charakter ist durch seinen Panzer sehr eingeengt, festgelegt, unbeweglich. Der Panzer bildet die "Reaktionsbasis" seiner Neurose. Das neurotische Symptom ist nur der leicht erkennbare Teil, vergleichbar mit der Spitze eines Eisbergs, des Charakters. Auch der genitale Charakter hat seinen Panzer, aber er kann über ihn verfügen und ist ihm nicht ausgeliefert. In der Praxis der Therapie ist alles natürlich eine quantitative Frage. Man wird also z.B. nicht versuchen, einen masochistischen in einen hysterischen Charakter umzuwandeln, was wohl auch kaum möglich wäre, sondern man wird graduelle Veränderungen der gegebenen Charakterstruktur erzielen wollen, die bei entsprechendem Ausmass qualitativen Veränderungen gleichwertig sind. Bei der Auslösung und Beobachtung derartiger therapeutischer Prozesse machte Reich eine sehr wichtige Entdeckung, die er mit Hilfe einer Modellvorstellung der dreifachen Schichtung der Persönlichkeit beschrieben hat. Die äussere Schicht besteht aus dem, wie sich ein Mensch nach aussen hin gibt, aus künstlicher Selbstbeherrschung, unechter Höflichkeit, gemachter Sozialität. Die mittlere Schicht entspricht dem Freud'schen Unbewussten; sie beinhaltet Bosheit, Lüsternheit, Habgier, Sadismus, Neid und Perversionen aller Art. Diese Schicht ist ein Kunstprodukt der sexualverneinenden Kultur. Die Impulse, die aus dieser Schicht kommen und gemeinhin mit dem Triebleben an sich gleichgesetzt werden, müssen (mit Recht) unterdrückt werden. Und das ist die Aufgabe der Moral (bei Reich: Zwangsmoral im Gegensatz zur natürlichen Moral). Nachdem aber einmal auf ungeklärte Weise diese zweite Charakterschicht des Menschen (das "Böse") in die Welt gekommen ist und mittels der autoritären Familie und anderer Institutionen unserer patriarchalischen Gesellschaft von Generation zu Generation weitergegeben wird, befindet man sich in einem wahrhaftigen Teufelskreis: Die moralische Regulierung des Trieblebens erzeugt gerade das, was sie vorgibt, bändigen zu können: das asoziale Triebleben der zweiten Schicht. Der idealtypisch "Gesunde" hätte praktisch keine (Zwangs)moral mehr in sich, aber auch keine Impulse, die eine moralische Regulierung erfordern würden; er funktionierte nach dem Prinzip der Selbstregulierung. Eine Betrachtung der gesellschaftlichen und individuellen Wirklichkeit im Lichte dieser Theorie zeigt leicht, wie gering der Erfolg auch noch so starker moralischer Unterdrückung ist, ja, wie gerade das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung erreicht wird.

Die moralische Regulierung des Trieblebens könnte entfallen und einer Selbstregulierung Platz machen, wenn verhindert werden könnte, dass die mittlere Charakterschicht mit den von Reich so genannten sekundären Trieben im Individuum überhaupt entsteht. Denn durch die charakteranalytische Therapietechnik ist es gelungen, bis zu einer dritten Schicht vorzudringen, die bis dahin überhaupt nicht bekannt war. Sie ist der Ort natürlicher Sozialität und Sexualität, spontaner Arbeitsfreude und Liebesfähigkeit. Hier, im biologischen Kern des menschlichen Organismus haben die primären Triebe ihren Ursprung. Sie kommen in der Regel jedoch kaum zur Wirkung, da fast jeder Mensch in der Gesellschaft, in die er nun einmal hineinwachsen muss, durch subtile oder brutale, immer aber übermächtige lust- und lebensfeindliche Einflüsse von Erziehung und Umwelt gezwungen wird, einen starken Panzer und mit ihm auch jene mittlere Schicht des Charakters aufzubauen, die den biologischen Kern völlig blockiert.

Diese knappe Darstellung der Reichschen Charaktertheorie ist in hohem Masse unzureichend. Im Rahmen dieser Einleitung kann natürlich kaum ein Eindruck davon vermittelt werden, wieviel klinische Erfahrung und theoretische Anstrengung dahinter stecken. Die entsprechenden Bücher Reichs seien daher eindringlich empfohlen. Hier sollten nur die Begriffe, die im »Christusmord« als bekannt vorausgesetzt werden, einmal kurz im Zusammenhang dargestellt werden.

Aber auch dieser knappen Darstellung kann man entnehmen, dass das Neurosenproblem, da es sowohl nach Freud als auch nach Reich ein Problem ist, von dem fast alle Menschen betroffen sind, nicht durch Therapie zu lösen ist. Wenn man nun nicht resigniert und es für unlösbar erklärt, wenn man also mit Reich Prophylaxe für den Lösungsweg hält, so bedeutet dies eine Verlagerung des Problems in den gesellschaftlichen Bereich. Freud kapitulierte vor dieser Einsicht. Seine Resignation drückte sich auch in den Revisionen aus, die er an seiner Theorie vornahm. In den 20er Jahren entwickelte er seine Metapsychologie, die nur noch wenig von dem revolutionären Charakter seiner ursprünglichen Lehre hatte. Sie entfernte sich immer mehr von der Praxis und wurde schliesslich zu einer sexualfeindlichen Kulturphilosophie. Reich sah später, als er seine Theorie über das Wesen der Krebserkrankung entwickelt hatte, hier auch einen Zusammenhang zwischen der Resignation Freuds und dessen eben zu dieser Zeit manifest werdenden Kieferkrebs.

Reich resignierte nicht. Zwar war er sich in den 20er Jahren noch nicht über das gewaltige Ausmass des Problems, das er da anging, bewusst. Aber auch in seinen späten Jahren hatte er nicht in dem Sinn wie Freud und viele andere resigniert; er hatte im Gegenteil ein hohes Mass an realistischer Einschätzung der sozialen Frage gewonnen, wie auch und gerade der »Christusmord« zeigt. Sein Realismus ist jedoch nicht in einen Pragmatismus umgeschlagen, der die ursprünglichen Ziele aufgegeben oder verwässert hat. Reich war sich sicher wie kein anderer, dass das "Himmelreich auf Erden" prinzipiell verwirklicht werden kann, nur wusste selbst er keinen Weg dahin, wie er in seiner Einführung zum »Christusmord« bekennt. So ist dieses Buch trotz eines stellenweise durchschlagenden Pessimismus ein Dokument eines sehr realistischen Optimismus jenseits aller Illusion von "links", Resignation von "rechts" und pragmatischer Oberflächlichkeit irgendeiner "Mitte".

In den 20er Jahren sah das noch anders aus. Das sowjetische Experiment erfüllte viele Menschen in aller Welt mit Optimismus und Hoffnung. Reich ging voller Enthusiasmus daran, die beiden radikalsten Theorien der damaligen Zeit, Marxismus und Psychoanalyse, miteinander zu verbinden. Eigentümlicherweise erwarb er sich damit mehr Feinde als Freunde. Am Ende standen 1933 und 1934 die Ausschlüsse aus den Organisationen der Kommunisten und der Psychoanalytiker.

Andere haben sich auch auf diesem Gebiet betätigt und wurden nicht ausgeschlossen. Es muss an der Radikalität gelegen haben, mit der Reich an die Sache ging. Er wollte keine Kompromisse, wenigstens nicht schon in der Theorie. Vielleicht hatte er schon in diesen Jahren nach den Ausschlüssen (hinzu kam noch das Leben im Exil) eine Ahnung von der Situation, in der er sich befand. Im »Christusmord« kehrt die Wendung immer wieder, dass es Christus (bzw. Reich) nicht bewusst gewesen ist, wie sehr er sich von seinen Zeitgenossen unterschied. Sie verstanden nicht, wovon er redete. Tatsächlich war auch das, was er, Reich, "verkündete", äusserst einfach, ähnlich der Botschaft Christi, und doch oder gerade deswegen schienen und scheinen ihn nur wenige zu verstehen. Seiner Zeit entsprechend, in der sogar die so ins Auge springende Ausbeutung der Werktätigen noch durch ein riesiges wissenschaftliches Werk nachgewiesen werden musste (ebenfalls vergeblich), bemühte sich auch Reich um wissenschaftliche Begründung. Obwohl er damit weiter vordrang als alle, die vor und nach ihm über diese Themen gearbeitet und geschrieben haben, hatte er nur wenig Erfolg. Im »Christusmord« nennt er als Grund dafür – und auch für das Scheitern Christi – die grundsätzliche Tendenz des heutigen wie damaligen Menschen, dem Wesentlichen auszuweichen, was er aber nicht als letzte und unveränderliche Gegebenheit auffasste.

Reich hat rückblickend nie bereut, dass er sich so voller Hingabe in der psychoanalytischen und sozialistischen Bewegung engagiert hatte. Entwickelte er in der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse seine Charaktertheorie, so erschloss ihm seine Tätigkeit in der Arbeiterbewegung ein bis dahin noch wenig erforschtes Gebiet. Erstens gab es hier einen völlig neuen Bereich neurotischer Erkrankungen, denen zwar die kulturelle Finesse fehlte, die aber aufgrund ihrer massenhaften Verbreitung einen ungeheuren Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse hatten und haben. Zweitens eignete er sich durch praktische Arbeit in Organisationen der Arbeiterbewegung soziologische Kenntnisse an, die lebensnäher und ergiebiger waren als irgendein angelerntes Wissen. Die parallel laufende Tätigkeit an Individuum und Gesellschaft befruchtete sich gegenseitig und bildete die Grundlage für seine beiden 1933 im Selbstverlag erschienenen Bücher »Charakteranalyse« und »Massenpsychologie des Faschismus«. Diesen beiden Bücher sind da, wo sie sich mit gesellschaftlichen Problemen befassen, terminologisch an marxistischen Kategorien orientiert, während die jetzt erhältlichen Ausgaben in dieser Hinsicht überarbeitet und mit später entstandenen Arbeiten zum Thema im Umfang etwa um die Hälfte erweitert worden sind. Reich war ja erst im Alter von etwa 28 Jahren zum Marxismus gestossen, und aus anderen Motiven als den für Bürgersöhne üblichen. So fiel es ihm dann auch leichter, sich wieder von diesem zu lösen, nachdem er mit der von ihm im Rahmen der KPD gegründeten Sexpol-Bewegung bei der Parteiführung starken Widerspruch hervorrief und ausserdem realisierte, wie in der Sowjetunion Stalins die Errungenschaften der Revolution immer mehr abgebaut wurden (siehe sein Buch »Die sexuelle Revolution«). Reich sah, was dem Marxismus fehlte, und er erkannte, wo die Psychoanalyse zur Metaphysik wurde. Seine Theorie der Sexualökonomie betrachtete er nicht als Synthese aus Marxismus und Psychoanalyse, die zu dieser Zeit eine Reihe von Theoretikern versucht hatte, sondern als selbständige Theorie, die die radikalen Ansätze und Erkenntnisse dieser beiden Theorien bewahrt hat und sich ständig weiterentwickelte. Wenn nun Reichs Theorie so radikal und obendrein so sehr am Puls der Zeit war: Warum hatte er dann trotzdem immer nur relativ wenige Anhänger? Diese Frage hat er sich natürlich auch gestellt. Will man sie nicht mit ein paar vordergründigen Sätzen erledigen, so führt sie genau zu den Themen, von denen Reich im vorliegenden Band schreibt. Sie bleibe daher hier undiskutiert und unbeantwortet.

Persönliche Konsequenz aus seinen Einsichten, seinen Erfahrungen mit den Psychoanalytikern und der KPD und seinen neuen Lebensbedingungen im skandinavischen Exil war, dass er sich aus der Politik immer mehr zurückzog. Er sah nur noch wenig Sinn darin, seine Zeit und Energie weiterhin im bisherigen Masse auf diesem Betätigungsfeld einzusetzen, zumal sich ihm andere Fragestellungen aufdrängten.

Die Psychologie, in der er 15 Jahre lang intensiv gearbeitet hatte, bot ihm keine grundsätzlichen Probleme mehr. Seine Entdeckung der muskulären Panzerung und neue Erkenntnisse aus der Klinik der charakteranalytischen Vegetotherapie, wie er seine Therapietechnik nun nannte, wiesen klar auf das nächste Gebiet seiner Forschungen: die Physiologie und Biologie des Menschen. Die Jahre 1933 bis 1939, die er hauptsächlich in Norwegen verbrachte, waren ausgefüllt mit dem Studium von Fachliteratur, eigenen Experimenten und der praktischen und theoretischen Weiterentwicklung der Sexualökonomie. Ich möchte hier nicht in Einzelheiten gehen, sondern nur kurz erwähnen, dass Reich nach einer Reihe von Experimenten zur Physiologie der menschlichen Sexualität (übrigens lange vor Masters/Johnson) und zur Funktion von Lust und Angst die sog. Bione entdeckte und damit in den Bereich der Biologie kam. An einer Kultur dieser Bione, die Übergangsstufen zwischen lebloser und lebendiger Substanz darstellen, entdeckte er 1939 eine Strahlung, die er mit den vorhandenen physikalischen Theorien nicht klassifizieren konnte. Er sah sich somit gezwungen, eine völlig neue Art von Energie zu postulieren, die er Orgon nannte. Der Erforschung dieser Energie, bzw. ihrer Manifestationen, widmete er die restliche Zeit seines Lebens. Obwohl er dabei eine Reihe von Entdeckungen machte, die z.T. seine früheren Theorien aus der Psychologie auf ein solides Fundament stellten, will ich in diesem Zusammenhang nicht weiter darauf eingehen. Für die Lektüre des »Christusmord« sei lediglich erwähnt, dass Reich annahm, die Orgonenergie (Lebensenergie oder Bioenergie) sei die primordiale, kosmische Energie, die den ganzen Weltraum erfüllt und alle Materie durchdringt (Einzelheiten dazu in seinem Buch »Der Krebs«).

In diese Zeit der Arbeit mit Bionen und Bionkulturen fällt auch der Beginn seiner Krebsforschungen, die dann später zu einem allgemeinen Konzept der Biopathien ausgearbeitet wurden. Zu diesen grundlegenden (funktionellen) Erkrankungen des "Biosystems" zählt Reich die meisten der Krankheiten, für die man auch heute noch keine befriedigende Erklärung hat, obwohl sie in den Industriestaaten mittlerweile die am häufigsten auftretenden sind und man mit entsprechendem Aufwand nach ihren Ursachen und nach effektiven Therapiemöglichkeiten forscht (Krebs, kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes, "vegetative Dystonie" u.a.). Aber auch hier kam Reich zu dem Ergebnis, dass alle Hoffnung, diesen Krankheiten wirklich beizukommen, wie bei den Neurosen nur auf dem Gebiet der Prophylaxe zu suchen sei; und dies weist wieder auf den gesellschaftlichen Bereich. So gab es für Reich nie eine Loslösung von den Problemen, die man gemeinhin als politisch bezeichnet.

Als Reich sich Mitte der 30er Jahre vom Marxismus zu trennen begann, da hatte dieser Vorgang starke Ähnlichkeit mit seiner Trennung von der Psychoanalyse. Er hielt am radikalen Kern dieser Lehren fest und versuchte, diese Erfahrung – dass eigentlich die Marxisten wie die Psychoanalytiker in ihrer Mehrheit es waren, die den Marxismus bzw. die Psychoanalyse "verraten" haben, indem sie deren revolutionäre Erkenntnisse entweder verwässerten oder dogmatisch erstarren liessen – in seine Theorie mit einzubauen: auch ein Thema, das den »Christusmord« durchzieht. Reich verharrte also weder in marxistischer Illusion noch wurde er durch die schrecklichen Ereignisse der 30er Jahre in die Resignation getrieben, wie es so vielen (Ex-)Marxisten erging. Neben seinen klinischen und experimentellen Arbeiten, die bis zu seiner Inhaftierung kontinuierlich fortgeführt wurden, verlor er nie das soziale Problem aus den Augen, auf das alle seine Anstrengungen in letzter Konsequenz immer wieder hinausgelaufen sind. Ende der 30er Jahre entwickelte er sein Konzept der Arbeitsdemokratie, das aller Politik, wie sie normalerweise verstanden und praktiziert wird, konträr ist. Darin schälte er den rationalen Kern des beim Menschen durch Arbeit gekennzeichneten sozialen Prozesses heraus. Im einzelnen ist dies in den 1945 ergänzten Teilen der »Massenpsychologie des Faschismus« ausgeführt. Demnach hat Arbeitsdemokratie notwendigerweise schon immer bestanden, denn jegliche sinnvolle und produktive Aktivität wäre unmöglich gewesen, wenn der Arbeitsprozess den gleichen irrationalen Prinzipien unterworfen gewesen wäre, wie das private und politische Leben der Menschen. Nur war dieser arbeitsdemokratische Kern des sozialen Prozesses bisher immer von irrationaler Politik durchsetzt bzw. dominiert. Arbeitsdemokratie ist also keine neue politische Ideologie, sondern das, was übrig bliebe, wenn es gelänge, alle politische Ideologie aus dem sozialen Leben zu eliminieren. Wie das erreicht werden könnte, wusste auch Reich nicht. Während des Zweiten Weltkrieges hatte er noch die Hoffnung, dass diese gewaltige Katastrophe die Menschheit so weit aufrütteln würde, dass sie hinterher nach einem völlig neuen Konzept, nach neuen Wegen zur Regelung ihres sozialen Lebens suchen würde. Er wusste jedoch, dass dieses neue Konzept, dessen Grundprinzipien er in seiner Arbeitsdemokratie formuliert sah, nicht mit den Mitteln der politischen Propaganda durchzusetzen war. Reichs Rückzug aus der Politik führte bei ihm nicht zu einer sozial desinteressierten Haltung oder zur Aufgabe seiner Ziele, sondern war in Wirklichkeit ein weiterer Schritt nach vorn auf dem Weg zur Überwindung des Irrationalismus der Politik, wenigstens in der Theorie, und zur Lösung der Frage, warum die Menschen sich vor der Freiheit genauso sehr fürchten, wie sie sich nach ihr sehnen. Reich sah sehr realistisch, dass er das, was er zu bieten hatte, niemandem aufzwingen oder einreden konnte; er konnte es nur anbieten. Und er musste erleben, dass 1945 sein Angebot überhaupt nicht gefragt war, sondern dass man in der Politik so weiter machte wie bisher.

Reich hatte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges doch noch Hoffnungen, dass der Leidensdruck, der auf individueller Ebene zu Krankheitseinsicht und Änderungswunsch führt, auch auf kollektiver Ebene ähnlich wirksam werden könnte, dass also die Menschheit durch katastrophale Ereignisse und Sachzwänge dazu gebracht werden könnte, die Politikasterei, wie er es nannte, zu verbannen und eine vernünftige Organisation der Gesellschaft zu versuchen. Danach zerfloss auch diese Hoffnung, wie einst die Hoffnung, unter den vielen konkurrierenden Richtungen des politischen Lebens mit den Methoden der Aufklärung, Propaganda usw. etwas erreichen zu können, wenn man nur die besseren Argumente habe.

Diese beiden Desillusionierungen in Bezug auf die Möglichkeiten, gesellschaftliche Veränderungen in Richtung auf einen von der Menschheit seit je ersehnten Zustand bewirken zu können, standen in starkem Kontrast zu der gleichzeitig von ihm betriebenen theoretischen Konkretisierung eben dieses Zustands, die ihm das Ausmass des Problems (der Befreiung, Emanzipation, Aufhebung der Entfremdung usw.) immer deutlicher vor Augen führte.

Die Verarbeitung dieser beiden Desillusionierungen ist ein Thema, das den »Christusmord« durchzieht. Hier jedoch bemüht sich Reich nicht mehr um "Wissenschaftlichkeit", wohl wissend, wie wenig es nützt, mit einer "wissenschaftlichen" Sicht und mit "Vernunft" gegen den alles durchdringenden Irrationalismus anzutreten. Das Buch ist unsystematisch, stellenweise in sich widersprüchlich und mit vorschnellen Behauptungen durchsetzt. Es sei hier nochmals empfohlen, dies geduldig zu übergehen und nicht zu vergessen, dass hier auch "biographisches Material" vorliegt. Wem dies gelingt, der wird vielleicht verstehen, warum gerade dieses "unwissenschaftlichste" Buch Reichs von vielen Reichkennern für sein grösstes gehalten wird. –

Ein Thema, das im »Christusmord« als die "Vertreibung aus dem Paradies" angesprochen wird, beschäftigte Reich schon lange. Er schrieb darüber 1932 das Buch »Der Einbruch der Sexualmoral«. Darin baut er auf den Theorien von Morgan und Engels über die Urgesellschaft auf und beschreibt unter Verwendung detaillierten ethnologischen Materials von Malinowski den Mechanismus, mit welchem sich einst Patriarchat, Privateigentum, autoritäre Klassengesellschaft und sexuelle Zwangsmoral durchgesetzt haben könnten. Später relativierte er diese sozio-ökonomische Erklärung und stellte Hypothesen über tieferliegende Ursachen auf, über Zusammenhänge mit der Entwicklung der Selbstwahrnehmung des lebenden Protoplasmas. Aber er hielt eine Lösung dieses Problems gar nicht mehr für besonders wichtig, zumal ihre Richtigkeit wohl kaum je bewiesen werden könnte.

Statt politischer Propaganda, statt Hoffnung auf eine Besinnung der Menschheit aufgrund katastrophaler Ereignisse wie dem Zweiten Weltkrieg, einem drohenden Atomkrieg oder auch dem immer stärkeren Anwachsen der Biopathien sah Reich um 1950 herum nur noch die Möglichkeit eines sich über viele Generationen hinziehenden Wandels durch grundlegende Veränderungen der Erziehungspraxis. Deshalb leitete er das Projekt Die Kinder der Zukunft ein. Diesen Kindern der Zukunft widmete er auch den »Christusmord«. Die im Rahmen dieses Projekts erst einmal zu erarbeitende Erziehungstheorie und -praxis ist nicht einfach ein neues Konzept, das erdacht wurde und nun mit den schon bestehenden konkurrieren soll. Es hat zu den bestehenden Erziehungskonzepten eine ähnliche Stellung wie die Arbeitsdemokratie zu den bestehenden politischen Konzepten. Reich: "Alle bisherigen Konzepte über Erziehung hatten Anpassung an die speziellen rassischen, nationalen oder sonstwelchen Ideale zum Ziel … Gesundheit und Normalität wurden gleichgesetzt … Alle diese Ansichten haben eines gemein: die völlige Ausserachtlassung der Natur des Kindes. Gesundheit und Normalität sind nach Interessen definiert, die ausserhalb des Bereichs der Entwicklung von Kindern liegen. Diese Konzepte beginnen damit, was ein Kind SEIN SOLL und nicht damit, was ein Neugeborenes IST … Wir haben kein Recht, unseren Kindern zu sagen, wie sie ihre Zukunft bauen sollen, wir können ihnen nur so genau wie möglich sagen, wo und wie wir selbst gescheitert sind …"

Nicht jedes neugeborene Kind darf an die bestehende (und auf welche Weise auch immer krank gewordene) Gesellschaft angepasst werden. Nicht an jedem Kind darf also ein CHRISTUSMORD begangen werden. Vielmehr sollte man bei immer mehr Kindern zu verhindern versuchen, dass sie sich anpassen, dass sie neurotisch werden und einen starren Panzer ausbilden, dass sie biopathisch erkranken. Die Organisation der Gesellschaft sollte sich an diesen graduell immer "gesünder" werdenden Generationen orientieren. So lautet die Quintessenz eines Lebens, das der Erforschung der Ursachen des individuellen und gesellschaftlichen Elends gewidmet war und auf tragische Weise endete.

Reich starb 1957 in einem amerikanischen Zuchthaus, wo er eine 2-jährige Strafe wegen "Missachtung einer gerichtlichen Verfügung" verbüsste, die den Vertrieb seiner Bücher und Orgonakkumulatoren über die Grenzen des Bundesstaates Maine hinaus verbot. In einer in der Mitte dieses Jahrhunderts einzigartigen Aktion wurden 1956 alle Bücher und Orgonakkumulatoren beschlagnahmt und verbrannt.


Dieser Text erschien erstmals in: Wilhelm Reich: Christusmord. Biographisches Material, übers. u. eingel. v. Bernd A. Laska, Olten und Freiburg: Walter-Verlag 1978, S. 9-26.
 

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