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ein paraphilosophisches Projekt
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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 2, Heft 2 (6) (1935)

 Band 2, Heft 2 (6) (1935) 
81 Ein Brief von Norman Haire [an Leunbach]
91 Antwort an Norman Haire
98 Norman Haire, J.H. Leunbach: Mitteilung an alle Mitglieder und Sektionen der Weltliga für Sexualreform
99 Ernst Parell [Wilhelm Reich]: Unterschiede zwischen liberalistischer Sexualreform und revolutionärer Sexualpolitik
103 Karl Teschitz [Karl von Motesiczky]: Grundlagen der Religion [Auszug aus T.'s Buch »Religion, Kirche, Religionsstreit in Deutschland«]
129 Ernst Parell [Wilhelm Reich]: Wie wirkt Streichers sadistische Pornographie ?
134 Jørgen Neergaard: Einige Notizen über Psychoanalyse und Sexualökonomie [zu Ferenczi, Freud]
136 Sexualpolitische Korrespondenz
137 Sex-Pol-Bewegung
138 Besprechungen:
Sándor Radó: Der Kastrationskomplex des Weibes (Mo.)
Otto Fenichel: Zur Theorie der psychoanalytischen Technik (M.)
Rudolf Allers: Sexualpädagogik (J.N.)
Heinz Wielek (Hg.): Verse der Emigration (M.)
141 Mitteilung der Redaktion [über antisexuelle Massnahmen in der Sowjetunion]

Zur Gesamtübersicht ZPPS
ZPPS, Band 2 (1935), Heft 2 (6), S.103-129

Karl Teschitz
Grundlagen der Religion

Die folgende Untersuchung ist ein Kapitel aus der demnächst erscheinenden Schrift des Verfassers »Religion, Kirche, Religionsstreit in Deutschland« [Sexpol-Verlag, Kopenhagen 1935; dort Kap. V, S. 54-80]. Die Leser mögen darum Hinweise auf andere Teile der Arbeit, die sich in diesem Abschnitt finden, entschuldigen.

1. Zusammenfassung unserer bisherigen Untersuchung

Heben wir in dem buntbewegten Bild des deutschen Kirchenstreits die Hauptlinien heraus! Dann zeigt sich:

Kirche und Staat bzw. nationalsozialistische Bewegung stehen im Kampf miteinander. Doch sind es nicht etwa vorwiegend die fortschrittlichen, subjektiv sozialistischen Elemente im Christentum, die in Widerspruch zur politischen Reaktion des Faschismus geraten. Nein, gerade umgekehrt: Es ist vorwiegend die reaktionäre Seite des Kirchenglaubens, die mit den subjektiv revolutionären Elementen im Faschismus zusammenstösst. Kleinbürgerlicher Individualismus, Familienerziehung, Sexualablehnung (Sündenlehre) auf Seiten der Kirche stehen gegen Kollektivismus (wenn auch in mystifizierter Form als "Volksgemeinschaft"), Erziehung durch die Gesellschaft und Bejahung des Körpers (wenn auch mystifiziert in der Ideologie von der Fortpflanzung und Veredlung der Rasse, in der aber oft subjektive und spontane Sexualbejahung versteckt durchbricht).

Daneben läuft allerdings noch eine andere Linie: Die subjektiv fortschrittlichen, sozialistischen Elemente im Christentum -- Gleichberechtigung aller Menschen, Friedenssehnsucht etc. -- treten in Gegensatz zur faschistischen Unterdrückung auf allen Gebieten, zu seiner Führermystik, zu seinem Antisemitismus und seiner Kriegsbegeisterung. Bei der allgemeinen Zwangsherrschaft auf allen Lebensgebieten, bei der brutalen Gleichschaltung vor allem auch des kulturellen Lebens, der Presse, Literatur, Wissenschaft usw., kann jedoch bereits der Mut des Bekennens zu etwas, das im Widerspruch zur offiziellen Ideologie steht, revolutionär wirken. Wenn z. B. Pfarrer Niemöller dieser Opposition in der Weise Ausdruck gab, dass er seine Rede in

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einer der letzten öffentlichen Versammlungen der Bekenntniskirche (im Zoo in Berlin) mit deutlicher Anspielung auf Hitler mit den Worten einleitete: "Mit 7 Mann haben wir unsere Bewegung begonnen ! Es waren auch nur 7 Mann....", so wirkten diese Worte auch auf alle politisch oppositionellen Menschen, die anwesend waren, nach Berichten von Augenzeugen irgendwie ermutigend.

Doch wenn wir diese Seite des Kirchenstreits bisher wenig, vielleicht zu wenig hervorgehoben haben, dann aus zwei Gründen: Wir wollten der im Ausland fast allgemein verbreiteten Meinung entgegentreten, die die Kirchen in Deutschland, nur weil sie "irgendwie" oppositionell sind, bereits der antifaschistischen Front einordnet. Doch diese Meinung fragt weder: "Wer opponiert?" noch "Mit welchen Argumenten, in welcher Richtung wird opponiert?" Man kann das Wollen der Kirchenmänner noch nicht mit dem der Antifaschisten vergleichen, weil einige von ihnen die gleichen Leiden wie sie zu erduIden haben.

Gewiss: Wenn die Pfarrer sich dagegen wehren, dass Hitlerbilder auf den Altar gestellt werden, wenn sie den Treueid auf den Führer nicht ohne Vorbehalt leisten wollen und Karl Barth deswegen seine Professur verliert, so bedeutet das einen Angriff auf den nationalsozialistischen Führerglauben. Aber auf der anderen Seite hat die Kirche niemals im Namen der christlichen Nächstenliebe gegen die Konzentrationslager protestiert, im Namen der christlichen Friedensbotschaft gegen die deutsche Aufrüstung und Wehrhaftigkeitsideologie. Die Kirchenopposition hat im wesentlichen nicht revolutionären, sondern konservativen Charakter. Trotzdem kann sie indirekt auch der Arbeit der Revolutionäre nützen, wie wir in einem späteren Kapitel zeigen werden.

Welches Interesse hat der faschistische Staat am Kampf gegen die Kirchen? Als Antwort wird in den demokratischen Zeitungen oft folgende Phrase serviert: Im Kirchenstreit träte die Absolutheitsforderung des Christentums in Gegensatz zur Absolutheitsforderung des Nationalsozialismus.

Warum aber fordert dann der deutsche Faschismus von der Kirche eine Unterordnung, auf die sie nicht eingehen kann, während der österreichische Faschismus unmittelbar auf den kirchlichen Lehren baut, der italienische zumindest mit der Zeit sich gut mit ihnen vertragen gelernt hat?

Wir können darum keine aus irgend einem "Prinzip des Faschismus" folgende Absolutheitsforderung anerkennen, sondern den Konflikt des Nationalsozialismus mit den Kirchen nur aus den besonderen Bedingungen des deutschen Faschismus erklären. Dann ergibt sich folgender Tatbestand:

Da in Deutschland die Verwurzelung des Marxismus in den breiten Massen viel tiefer, die Arbeiterbewegung viel entwickelter war als z. B. in Italien, muss die Unterdrückung auch all derjenigen Bewe-

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gungen schärfer sein, hinter denen sich die politische Opposition auch nur bloss verstecken könnte -- selbst wenn diese Bewegungen selbst ihrem Wesen und Ziel nach ganz ungefährlich sind (vgl. Verbot der ernsten Bibelforscher, einer kleinbürgerlichen religiösen Sekte in Deutschland).

Eine grosse Zahl Nazis in führenden Stellungen ist infolge ihrer kleinbürgerlichen Herkunft und Beschränktheit überhaupt unfähig, ideologische Vorgänge zu beurteilen. Darum nähren sie Misstrauen gegen alles, was den geistigen Horizont der 25 Punkte des Naziprogramms irgendwie übersteigt.

Vor allem aber handelt es sich bei den Massen der Nazianhänger um einen wirklichen, subjektiv revolutionären Druck, die Fesseln der lebensverneinenden christlichen Religion abzuwerfen. (Anders in Österreich, wo der Faschismus keine revolutionäre Massenbasis besitzt, sondern aus der Spaltung der revolutionären Kräfte in Sozialisten und Nazis als lachender Dritter profitiert.)

Aber warum halten demgegenüber die Kirchenanhänger mit solcher Leidenschaft an der "Religion" fest, so wie sie sie nun einmal verstehen?

Unsere Analyse war zunächst eine soziale: Sie zeigte, wie die verschiedenen Gedanken und Strebungen im Kirchenstreit den Klassengegensätzen zuzuordnen sind. Dass die Kirchen heute die stärksten Stützen bürgerlich-konservativen Denkens und Fühlens darstellen, erklärt schon allein, dass viele Menschen mit entsprechender Struktur heute mit ihnen sympathisieren, die vor der "nationalen Revolution" dem religiösen Leben ziemlich gleichgültig gegenüberstanden.

Aber die Kirchen sind mehr als irgendein bürgerlich-konservativer Verein. Ein Etwas tritt bei ihnen dazu, das jene bürgerlich-konservative Haltung mit seinem "Heiligenschein" vergoldet, das eigentlich "Religiöse", dasjenige, was die religiöse Ideologie von anderen Ideologien gleichen oder ähnlichen politischen und sozialen Inhalts unterscheidet und auf die Menschen nicht nur heute, sondern von jeher einen ungeheuren Zauber ausgeübt hat. Wir müssen annehmen, dass dieses "Etwas" mit der Hartnäckigkeit zusammenhängt, mit der an Kirche und Religion festgehalten wird.

Im folgenden Kapitel wollen wir die Frage nach dem Wesen dieses "Etwas" beantworten. Es wird uns dies das Verständnis der grossen antichristlichen Religionsbewegung in Deutschland, des nationalsozialistischen Neuheidentums, sehr erleichtern. Andererseits erscheint es aber notwendig, sich einmal grundsätzlich über das Wesen der Religion klarer zu werden als bisher. Denn wenn wir unter religiösen Menschen politische Arbeit treiben wollen, so müssen wir sie zunächst einmal wirklich verstehen. Dieses Verständnis darf aber nicht nur gefühlsmässig sein; es muss durch klares Wissen unterbaut werden. Doch die Arbeiterbewegung besitzt ein solches Wissen heute nur sehr unvollständig. Sie weiss Bescheid über die objektive Funk-

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tion der Kirche in der kapitalistischen Gesellschaft, wie sie ihren Ausdruck findet in der Vertröstung auf das bessere Jenseits, in der Lehre von der gottgewollten Obrigkeit und in dem Versuch einer Korrektur der Klassenunterdrückung durch "christliche Nächstenliebe" in Form von Almosen.

Doch wir können den Streit zwischen Kirche und Faschismus gar nicht verstehen, wenn wir bloss diese sozialen Lehren des Christentums vor Augen haben: Wir müssen hier zumindest die Sexualauffassung der Kirche mit in Betracht ziehen. Doch schon über diesen Punkt weiss die Arbeiterbewegung wenig, noch weniger über die Frage, wie sich die religiöse Ideologie von anderen bürgerlichen Ideologien (Philosophie, Recht, Moral etc.) unterscheidet. Darum Unklarheit in allen Analysen des Kirchenstreits (vgl. Kap. 2), Unsicherheit bei aller praktischen antireligiösen Arbeit.

Wir meinen, dass sich diese Unvollständigkeit in der Erfassung der Religion bis auf Marx und Engels zurückverfolgen lässt. Eine ins einzelne gehende Kritik ihrer Religionsauffassung müsste das ganze Problem der Ideologie mit einbeziehen und würde hier zu weit führen. Die folgenden Darlegungen wollen darum nur vorläufig die Resultate zusammenfassen, die sich bei konsequenter Anwendung der sexualökonomischen Grundprinzipien auf das religiöse Verhalten und seine Darstellung bei Marx und Engels ergeben. Dabei kommt man oft zu Resultaten, die von gewissen traditionellen Auffassungen des Marxismus überraschend weit abweichen. Doch zeigt eine nähere Überlegung, dass diese Abweichungen niemals die dialektisch-materialistische Methode und ihren revolutionären Grundansatz selbst betreffen, sondern nur gewisse Auffassungen, die aus einer ungenügenden Anwendung dieser Methode selbst entstammen. Aber hier wie auf manchen anderen Gebieten der Sexualökonomie ist noch vieles im Fluss und bleibt der Verbesserung durch die künftige Diskussion und praktische Erfahrung offen.

2. Marx und Engels über Religion: Religion als Ideologie.

Gehen wir von einer Stelle im Antidühring aus, die die Religionsauffassung des Marxismus, übersichtlich zusammenfasst:

"Nun ist alle Religion nichts anderes als die phantastische Widerspiegelung in den Köpfen der Menschen, derjenigen äusseren Mächte, die ihr alltägliches Dasein beherrschen, eine Widerspiegelung, in der die irdischen Mächte die Form von überirdischen annehmen. In den Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der Natur, die diese Rückspiegelung erfahren, und in der weiteren Entwicklung bei den verschiedenen Völkern die mannigfachsten und buntesten Personifikationen durchmachen. Dieser erste Prozess ist wenigstens für die indoeuropäischen Völker durch die vergleichende Mythologie bis auf seinen Ursprung in den indischen Vedas zurückverfolgt und in seinem Fortgang bei Indern, Persern, Griechen, Römern und Germanen und, soweit das Material reicht, auch bei Kelten, Litauern und Slawen im einzelnen nachgewiesen worden. Aber bald treten neben den Naturmächten auch gesellschaftliche Mächte in Wirksamkeit, Mächte, die den Menschen ebenso fremd und im Anfang ebenso unerklärlich gegenüberstehen, sie mit derselben scheinbaren Naturnotwendigkeit beherrschen,

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wie die Naturmächte selbst. Die Phantasiegestalten, in denen sich anfangs nur die geheimnisvollen Kräfte der Natur widerspiegelten, erhalten damit gesellschaftliche Attribute, werden Repräsentanten geschichtlicher Mächte. Auf einer noch weiteren Entwicklungsstufe werden sämtliche natürlichen und gesellschaftlichen Attribute der vielen Götter auf einen allmächtigen Gott übertragen, der selbst wieder nur der Reflex des abstrakten Menschen ist. So entstand der Monotheismus, der geschichtlich das letzte Produkt der späteren griechischen Vulgärphilosophie war und im jüdischen ausschliesslichen Nationalgott Jahwe seine Verkörperung vorfand. In dieser bequemen, handlichen und allen anpassbaren Gestalt kann die Religion fortbestehen als unmittelbare, d.h. gefühlsmässige Form des Verhaltens der Menschen zu den sie beherrschenden fremden natürlichen und gesellschaftlichen Mächten, solange die Menschen unter der Herrschaft solcher Mächte stehen. Wir haben aber mehrfach gesehen, dass in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft die Menschen von den von ihnen selbst geschaffenen ökonomischen Verhältnissen, von den von ihnen selbst produzierten Produktionsmitteln wie von einer fremden Macht beherrscht werden. Die tatsächliche Grundlage der religiösen Reflexaktion dauert also fort und mit ihr der religiöse Reflex selbst. Und wenn auch die bürgerliche Ökonomie eine gewisse Einsicht in den tatsächlichen Zusammenhang dieser Fremdherrschaft eröffnet, so ändert dies der Sache nach nichts. Die bürgerliche Ökonomie kann weder die Krisen im Ganzen verhindern noch den einzelnen Kapitalisten vor Verlusten, schlechten Schulden und Bankrott, oder den einzelnen Arbeiter vor Arbeitslosigkeit und Elend schützen. Es heisst noch immer: Der Mensch denkt und Gott (d.h. die Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) lenkt. Die blosse Erkenntnis, und ginge sie weiter und tiefer als die bürgerliche Ökonomie, genügt nicht, um gesellschaftliche Mächte der Herrschaft der Gesellschaft zu unterwerfen. Dazu gehört vor allem eine gesellschaftliche Tat. Und wenn diese Tat vollzogen... wenn der Mensch also nicht mehr bloss denkt, sondern auch lenkt, dann erst verschwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in der Religion widerspiegelt, und damit verschwindet auch die religiöse Widerspiegelung selbst, aus dem einfachen Grund, weil es dann nichts mehr widerzuspiegeln gibt." *)

Hier erheben sich sogleich folgende Fragen:

1) Wie sieht dieser "phantastische Reflex" im einzelnen aus? Wie kommt er im Kopfe des durchschnittlichen Gläubigen zustande? Wie verbindet er sich mit gefühlsmässigen Einstellungen? "Die Religion kann fortbestehen als unmittelbare, d.h. gefühlsmässige Form des Verhaltens der Menschen zu den sie beherrschenden natürlichen und gesellschaftlichen Mächten." (Engels, Antidühring) M.a.W.: Wie verankert sich die Religion psychologisch?

Die folgende Untersuchung wird zeigen, dass die Religion zwar ein "gefühlsmässiges" Verhalten ist, doch durchaus kein "unmittelbares".

2) Wie unterscheidet sie sich als "phantastischer" Reflex von anderen Formen der Ideologie -- Recht, Philosophie, Moral -- die ja auch Reflexe der wirklichen Verhältnisse, wenngleich minder "phantastische" sind? M.a.W.: Was ist das spezifisch Religiöse in der religiösen Ideologie?

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*) Vgl. dazu Engels: Antidühring, 5. Aufl., S. 342-44, dem auch dieses Zitat entnommen ist. Ferner von Engels: »Feuerbach«, 3. Kap.; Brief an Conrad Schmidt aus dem Jahr 1890. Marx: »Zur Judenfrage«; »Rundschreiben gegen Hermann Kriege«; »Der Kommunismus des Rheinischen Beobachters«; »Deutsche Ideologie«, 1. Teil (Feuerbach); »Das Kapital«, Bd. 1, S. 85. Gute Sammlung der Stellen in A. Lukatschewski: »Marx und Engels über Religion«, Ogis-Antireligiöser Staatsverlag, Moskau. Zitate im folgenden nach der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA).

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3) Wie kann dieser "Reflex" schon vor der Veränderung der wirklichen Verhältnisse bei einem möglichst grossen Teil der Unterdrückten aufgehoben, wie kann dieser Prozess beschleunigt und erleichtert werden? Denn die Befreiung von diesen und anderen "Ideologien" schon vor der "Veränderung der Verhältnisse" ist ja Vorbedingung für diese Veränderung selbst. Zeigt unsere Untersuchung Wege, diese Befreiung zu erleichtern, m.a.W. liefert sie Waffen für den proletarischen Klassenkampf?

Diese Fragen haben Marx und Engels nicht beantwortet, und man setzt sich nicht in Widerspruch zu ihnen, wenn man das offen ausspricht. Im Gegenteil: Engels hat sehr gut gewusst, dass diese und andere Probleme bei ihm und Marx ungelöst geblieben sind. Am 14. VI. 1893 schrieb er in einem Brief an Sorge:

"... Sonst fehlt uns nur noch ein Punkt, der aber in den Sachen von Marx und mir reglelmässig nicht genug hervorgehoben ist.

Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: Die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen. Das hat dann den Gegnern willkommenen Anlass zu Missverständnissen gegeben ...

Diese Seite der Sache, die ich hier nur andeuten kann, haben wir, glaube ich, alle mehr vernachlässigt als sie verdient. Es ist die alte Geschichte: Im Anfang wird immer die Form über dem Inhalt vernachlässigt. Wie gesagt, ich habe das ebenfalls getan, und der Fehler ist mir immer erst post festum aufgestossen. Ich bin also nicht nur weit entfernt davon, Ihnen irgendeinen Vorwurf daraus zu machen, dazu bin ich als älterer Mitschuldiger ja gar nicht berechtigt, im Gegenteil -- aber ich möchte Sie doch für die Zukunft auf diesen Punkt aufmerksam machen."(Hervorhebungen vom Ref.)

Reich hat versucht, mit dieser Anregung Ernst zu machen und die Lücke in der marxistischen Soziologie auszufüllen, die sich daraus ergibt, dass der subjektive Faktor in der Geschichte von den grossen Strategen des Klassenkampfs zwar praktisch berücksichtigt, aber nicht genügend theoretisch erfasst wurde.

"Der Marxsche Satz, dass sich das Materielle (das Sein) im Menschenkopf in Ideelles (in Bewusstsein) umsetzt, und nicht ursprünglich umgekehrt, lässt zwei Fragen offen: erstens, wie das geschieht, was dabei "im Menschenkopfe" vorgeht, zweitens, wie das so entstandene Bewusstsein (wir werden von nun an von psychischer Struktur sprechen) auf den ökonomischen Prozess zurückwirkt. Diese Lücke füllt die analytische Psychologie aus, indem sie den Prozess im menschlichen Seelenleben aufdeckt, der von den Seinsbedingungen bestimmt ist und somit den subjektiven Faktor wirklich erfasst." (Massenpsychologie [des Faschismus, 1933], S. 29.)

Mit diesen Sätzen ist die Aufgabe abgesteckt, die sich aus der naturwissenschaftlichen Anwendung der Psychoanalyse in der Gesellschaftslehre ergibt. Doch die konsequente Weiterbildung der psychoanalytischen Erklärung der Ideologien zur sexualökonomischen Strukturlehre, die sich seit Erscheinen der »Massenpsychologie« vollzog, hat zu Konsequenzen geführt, die weiter reichen als Reich selbst zunächst dachte. Es handelt sich m.E. nicht mehr bloss um Aus-

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füllung einer Lücke. Die innere Logik der Sexualökonomie treibt vielmehr zur Kritik und Neuformulierung gewisser Sätze des dialektischen Materialismus selbst, die bisher -- mit Unrecht -- als unverrückbare Grundsätze angesehen wurden.

Die marxistische Gesellschaftslehre fasst, wie wir gesehen haben, die Religion als "phantastischen Reflex" der Wirklichkeit im Menschenkopfe. Sie ist ebenso wie die anderen Ideologien -- Recht, Philosophie, Moral -- vor allem ein Bewusstseinsphänomen. Bewusstsein wird hier jedoch vor allem gefasst als bewusstes Sein, Gedanken, Theorie. Vgl. besonders »Deutsche Ideologie« (MEGA, Bd. I/5) S. 15: Moral, Religion, Metaphysik sind "Ideen, Vorstellungen"; es sind (S. 16) "Nebelbildungen im Gehirn"; Theologie, Philosophie, Moral sind (S. 21) "reine Theorien". Die wirkliche Befangenheit der Menschen (der antiken Gesellschaft) innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses "spiegelt sich ideell wieder in den alten Natur- und Volksreligionen" (Kapital, Ausg. des Marx-Engels-Lenin-Instituts, S. 85).

Wir sehen: Marx und Engels hatten hier vorwiegend die bewusste, intellektuelle Seite der Religion im Auge. Den gleichen Eindruck gewinnt man aber auch, wenn man das vergleicht, was Marx und Engels über bestimmte religiöse Erscheinungen gesagt haben. Z.B. über Naturreligion (»Deutsche Ideologie«, S. 20, ähnlich im »Feuerbach«.)

"Das Bewusstsein ist natürlich zuerst bloss Bewusstsein über die nächste sinnliche Umgebung und Bewusstsein des bornierten Zusammenhanges mit anderen Personen und Dingen ausser dem sich bewusst werdenden Individuum; es ist zu gleicher Zeit Bewusstsein der Natur, die den Menschen anfangs als eine durchaus fremde, allmächtige und unangreifbare Macht gegenübertrat und zu der sich die Menschen rein tierisch verhalten, von der sie sich imponieren lassen, wie das Vieh; und also ein rein tierisches Bewusstsein der Natur (Naturreligion). -- Man sieht hier sogleich: Diese Naturreligion oder dies bestimmte Verhalten zur Natur ist bedingt durch die Gesellschaftsform und umgekehrt ..."

Der Jenseitsglaube des Christentums hat in der modernen Zeit seinen "menschlichen Grund" darin, dass sich der Mensch "zu dem seiner wirklichen Individualität jenseitigen Staatsleben als seinem wahren Leben verhält" (»Zur Judenfrage«, MEGA 1, S. 590). In derAntike war er Ausdruck für die reale Unmöglichkeit, das Los der Unterdrückten im Diesseits durch Übergang zu einer höheren Produktionsweise zu verbessern wegen ungenügender technischer Entwicklung und Ungleichartigkeit der Interessen bei den verschiedenen Teilen der Unterdrückten (vgl. Engels »Zur Geschichte des Urchristentum«, Neue Zeit, 1893-94). Ähnliche Parallelen zwischen Ökonomie und religiöser Ideologie weist Engels für die neuere englische Geschichte auf (»Über historischen Materialismus«, Neue Zeit, 1893). Hier gibt Engels eine Erklärung für die calvinistische Lehre von der Gnadenwahl, nach der nicht "das Drängen und Laufen" des Menschen, sondern allein Gottes vorherbestimmter Wille entscheiden; sie entspricht der Übermacht, mit der die neuentstandene kapitalistische

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Produktionsweise im 16ten und 17ten Jahrhundert dem Einzelnen gegenübertrat. Der abstrakte Gott des Christentums entspricht der abstrakten Gleichheit aller Menschen in der warenproduzierenden Gesellschaft (»Kapital«, S. 85; vgl. auch »Theorien über den Mehrwert«, III. S. 519).

Hier könnte man einwenden: "Die angeführten Beispiele beweisen, dass du Marx und Engels Unrecht tust. Denn sie erfassen ja nicht nur die intellektuelle Seite der Religion, sondern sie sehen sie stets im Zusammenhang mit den realen Verhältnissen -- der Situation des Menschen in der auf Sklaverei fussenden Gesellschaft oder im Kapitalismus --, die natürlich auch eine gefühlsmässige Einstellung, etwa das Gefühl der Hilflosigkeit bedingen.

Richtig! Doch das Gefühl der Hilflosigkeit wird bei ihnen stets nur berücksiehtigt, soweit es unmittelbar aus den realen Verhältnissen, d.h. letzten Endes den Produktionsverhältnissen entspringt. Die religiöse Seite der Sache erscheint -- selbst wenn dies nicht theoretisch so formuliert wird -- nur als eine Begleiterscheinung (über die Theorie von der Rückwirkung vgl. weiter unten). Sie wird vorwiegend erfasst als Lehre (z.B. von der Vergeltung im Jenseits), als Gedankensystem (etwa von der Gnadenwahl, vom Wesen Gottes), das dem Gehirn der Theologen oder auch der griechischen Popularphilosophen entspringt. Kritik der religiösen Beziehung zur Wirklichkeit ist Kritik der theologischen Auffassung der Wirklichkeit (»Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung«, MEGA, Bd. I/1).

Dass Marx und Engels nicht nur die Religion, sondern auch die anderen Formen der Ideologie zu eng, nämlich einseitig intellektuell, als Erzeugnisse "geistiger Arbeit" verstanden, zeigt auch sehr schön ihre historische Erklärung für die Entstehung des falschen Bewusstseins: Nämlich aus der Teilung der geistigen und körperlichen Arbeit im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung der Produktivkräfte. Diese isoliert die Ideologieproduzenten vom Produktionsprozess, und sie geraten in der Folge in Abhängigkeit von der herrschenden Klasse (vgl. »Deutsche Ideologie«, S. 21):

"Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind."

Nun haben Marx und Engels gewiss insofern recht, als die intellektuelle Oberfläche der psychischen Struktur, die "Ideologie", der unmittelbaren Beeinflussung durch die Ideologieproduzenten der herrschenden Klasse ("die Lakaien des Kapitals", wie Marx sie an anderer Stelle nennt), direkt zugänglich ist: Schule, Kirche, Universitätswissenschaft, Presse etc.

Und sie ist dieser Beeinflussung zugänglich; denn einerseits sind die Massen der Unterdrückten real und intellektuell hilflos, anderer-

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seits ist die Ideologie der herrschenden Klasse der ökonomischen und politischen Situation dieser Massen durchaus angepasst, gibt nur eine falsche, allein in ihrem Interesse liegende Erklärung dafür.

Es ist das bleibende Verdienst von Marx und Engels, diese sehr wichtige Seite der Produktion und Reproduktion der Ideologie aufgedeckt und in den verschiedensten Zusammenhängen dargestellt zu haben. Ihre Resultate sind für alle spätere Forschung -- auch für die Religionsforschung -- grundlegend. Doch betreffen sie nur die objektiv-gesellschaftliche Funktion der Ideologie: Ideologie geschaffen im Interesse der herrschenden Klasse und angepasst der ökonomisch-politischen Situation der Unterdrückten. Doch die Gesetze der subjektiven Aneignung der Ideologie, ihrer Rückwirkung auf die materielle Basis, mussten im Unklaren bleiben, da hier nicht nur jene intellektuelle Oberfläche, sondern tiefere Schichten der psychischen Struktur eine entscheidende Rolle spielen.

Engels hat in seinen 4 berühmten Briefen aus den 90er Jahren wohl die Auffassung von der Trägheit der Ideologie entwickelt, ihr eine Rückwirkung auf die Produktionsverhältnisse zugestanden, die nur "letzten Endes" entscheidend seien. Doch diese Auffassung lässt sich mit der Theorie von der Ideologie als Reflex in keinen rechten Zusammenhang bringen. Sie wird nicht nur in den Analysen bestimmter religiöser Verhältnisse, die ich gefunden habe, nirgends angewendet. Ihre Unklarheit zeigt sich auch darin, dass kein Buch von Marx und Engels so viele unfruchtbare Diskussionen hervorgerufen hat, wie diese beiden unscheinbaren Worte "letzten Endes". *)

Doch die zu enge Auffassung von Religion, Moral etc. bei Marx und Engels wird begreiflich, wenn wir ihre ursprüngliche Ansicht vom Wesen des Menschen näher beleuchten. Nehmen wir einen charakteristischen Abschnitt aus der »Deutschen Ideologie«, der diese Ansicht zusammenfasst:

"Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebenso aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie das Umdrehen der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen."

Dem wirklichen Lebensprozess = materielle Produktion steht also das Bewusstsein (als Ideologie) gegenüber. Während in der idealisti-

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*) Es geht demnach nicht an, die einseitige Charakteristik Hitlers als "Lakaien des Finanzkapitals", oder Naziideologie als "Vernebelung" den Ökonomisten in die Schuhe zu schieben. Die "Ökonomisten" haben hier nur als Schüler von Marx und Engels gehandelt, allerdings als unbegabte Schüler, die die, wie sich zeigen wird, unverschuldeten Schwächen ihrer Meister noch ins Groteske verzerrten. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Engels-Brief, den wir oben zitierten und der diese Schwächen zugibt, in der letzten Auswahl des Marx-Engels-Lenin-Instituts (Karl Marx, Ausgewählte Schriften, 1934) einfach fehlt, während die anderen Briefe von Engels aus der gleichen Zeit abgedruckt sind.

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schen Philosophie das Bewusstsein das Sein bestimmt (ja sogar schafft), bestimmt in Wirklichkeit -- nach dem berühmten Satz von Marx -- das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein.

Dieser Satz stellt zwar die philosophische Auffassung vom Kopf auf die Beine. Indem dem abstrakten Denken bei Marx nicht nach Feuerbachscher Art die abstrakte Sinnlichkeit gegenübergestellt wird, sondern die Sinnlichkeit als "praktisch sinnliche menschliche Tätigkeit" (5te These über Feuerbach), wird der Dialektik der Weg freigemacht nicht nur zur Erfassung der wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch zur revolutionären Tat.

Aber trotzdem trägt dieser Ansatz aus dem Jahr 1843 die Eierschalen seiner Entstehung aus der Opposition gegen die idealistische Philosophie in sich: Wir meinen die Spaltung des Menschen überhaupt in einen denkenden und einen seienden (d.h. materiell produzierenden) Teil. Ist das Verhältnis zwischen den beiden auch grundsätzlich richtig gefasst: In der Schärfe der Gegenüberstellung selbst wird unbesehen die ganze idealistische Verwirrung mitgeschleppt, die aus der Theologie überkommene Gegenübersetzung von "Geist und Fleisch", "Höherem und Niedrigem", "Denken und Sein". Und an jenem Gegensatz halten Marx und Engels grundsätzlich fest, selbst wenn sie ihn bei Gelegenheit einschränken: Denken selbst als Element der Produktivkräfte, Lehre von der Rückwirkung, der Ideologie. *)

Aber in Wirklichkeit kann der Mensch nicht "eingeteilt" werden in Denken und Produzieren, sondern er hat zunächst ein biologisch bestimmtes Trieb- und Affektleben, das bestimmten Gesetzen gehorcht und das zum Motor sowohl des Denkens als der materiellen Produktion wird, umgekehrt aber auch von den selbstgeschaffenen Verhältnissen beeinflusst und geformt wird.

Geben wir ein Beispiel! Moral erschöpft sich nicht in theoretischen Sätzen wie: "Widersetzlichkeit gegen Staatsorgane ist unerlaubt", "Geschlechtsverkehr ausserhalb der Ehe ist verboten". Der "wirkliche sinnliche" Kleinbürger, der nach seiner "Moral" gefragt wird, wird in den meisten Fällen auf diese Frage keine Antwort wissen.

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*) Gewiss haben Marx und Engels die Ideologie, das Bewusstsein an einigen Stellen weiter gefasst als bloss als intellektuelle Spiegelung. Man denke an den berühmten Satz aus der Kritik der »Hegelschen Rechtsphilosophie (Einleitung)«: "... die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift."

Doch hier ist Theorie nur verstanden als revolutionäre Theorie, die ein den realen Verhältnissen entsprechendes, unmittelbar aus ihnen entspringendes Handeln ermöglicht. Also ist es hier doch wieder weniger die Theorie als eben jene Verhältnisse, die die materielle Gewalt aus sich erzeugt. Nirgends wird die reaktionäre "Theorie" in gleicher Weise als materielle Gewalt gefasst. Diese ist vielmehr in den Machtverhältnissen lokalisiert, die diese reaktionäre Theorie bedingen.

Der schwankenden Bedeutung des Marxschen Ideologie- und Bewusstseinsbegriffs wäre nur durch eine ausführliche Untersuchung beizukommen. Für unsere Zwecke hoffen wir genügend klar gezeigt zu haben, dass im Ganzen die intellektualistische Auffassung überwiegt.

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Aber er wird ganz gefühlsmässig moralisch handeln: Vor jedem Polizeimann, der ihn anschreit, werden ihm die Knie zittern, kein Verhütungsmittel wird ihm sicher genug sein, um die unerwünschten Folgen ausserehelichen Geschlechtsverkehrs zu verhüten. Bekommen wir ihn in Analyse, so zeigt sich, wie die Eindrücke seiner frühen Jugend, der strenge Vater, die fürsorgliche, überängstliche Mutter, die ihn von den "bösen Folgen" der Onanie warnte, diese Struktur in ihm erzeugt haben.

Doch ohne das besondere Verfahren der Analyse kann er sich das weder bewusst machen noch die gefühlsmässigen Reaktionen ändern, die die Folge davon sind. Die durchschnittliche Triebstruktur der Eltern, die ganze Institution der bürgerlichen Familie, die diese Erziehung bedingt, sind genau so wie die Gesetze des kapitalistischen Markts Verhältnisse, die -- von den Menschen selbst unter bestimmten Bedingungen erzeugt *) -- sich ihnen als fremde Mächte gegenüberstellen und so ihr Leben bestimmen.

Also: Der wirkliche sinnliche Mensch ist nicht nur der materiell produzierende Mensch, der ausserdem auch Bewusstsein hat, sondern der Mensch mit einer bestimmten Trieb- und Bedürfnisstruktur. Er ist gezwungen, Voraussetzungen für die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu schaffen: Zunächst für die Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse (Wohnungs-, Nahrungsbedürfnisse etc.) durch materielle Produktion -- die darum tatsächlich "letzten Endes" entscheidet; dann aber vor allem für die Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse und endlich für all die Bedürfnisse, die sich aus einer Kombination, Umsetzung, Verfeinerung dieser beiden Grundbedürfnisse ableiten lassen. Die Verhältnisse, die er dabei eingeht, verselbständigen sich und nehmen die Form von fremden Mächten an, die eigenen Gesetzen gehorchen: Eigentum, Klassenteilung, Familie, Kirche, Staat, bürgerliche Moral. Sie wirken gleichzeitig auf Trieb- und Bedürfnisstrukturen zurück: Direkt durch Einsatz bestimmter Machtmittel und durch Produktion bestimmter Ideologien, indirekt durch die Erziehung, in der die Unterdrückung der Sexualität eine entscheidende Rolle spielt.

Es ist interessant, dass Marx und Engels eine richtige Empfindung für diese Zusammenhänge gehabt haben müssen, selbst wenn sie mangels einer naturwissenschaftlichen Psychologie keinen theoretischen Ausdruck dafür finden konnten. Vgl. im Rundschreiben gegen Hermann Kriege aus dem Jahr 1846 (MEGA, Bd. I/6, S. 18):

"Die Kriegesche Religion kehrt ihre schlagende Pointe hervor in folgendem Passus: "Wir haben noch etwas mehr zu tun als für unser lumpiges Selbst zu sorgen, wir gehören der Menschheit." Mit diesem infamen und ekelhaften Servilismus gegen eine von dem Selbst getrennte und unterschiedene "Menschheit", die also eine metaphysische und bei ihm sogar religiöse Fiktion ist, mit dieser allerdings höchst "lumpigen" Sklavendemütigung endigt diese Religion wie

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*) Nämlich beim Übergang von der mutterrechtlichen zur vaterrechtlichen Gesellschaft. Vgl. dazu Reich: »Der Einbruch der Sexualmoral«.

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jede andere. Eine solche Lehre, welche die Wollust der Kriecherei und der Selbstverachtung predigt, ist ganz geeignet für tapfere -- Mönche, aber nimmer für energische Männer, und gar in einer Zeit des Kampfes. Es fehlt nur, dass diese tapferen Mönche ihr "lumpiges Selbst" kastrieren und dadurch ihr Vertrauen auf die Fähigkeit der "Menschheit", sich selbst zu erzeugen, genügend beweisen! ... "

An anderer Stelle (»Die heilige Familie«, MEGA, Bd. I/3, S. 191) erklärt Marx gegen Hr. Edgar:

"Wie sollte die absolute Subjektivität ... nicht in der Liebe ihre bête noire, den leibhaftigen Satan erblicken, in der Liebe, die den Menschen erst wahrhaft an die gegenständliche Welt ausser ihm glauben lehrt ... Die Liebe ist ein unkritischer, unchristlicher Materialist." (Aus dem Zusammenhang geht eindeutig hervor, dass Marx die sinnliche, sexuelle Liebe meint).

Doch diese richtige Einsicht in die Strukturfrage, in den Zusammenhang Religion / Sexualverneinung, Atheismus / Sexualbejahung schwebt ohne materialistische Trieb- und Sexualtheorie in der Luft, kann dem Zusammenhang der materialistischen Gesellschaftslehre nicht eingegliedert werden und ist darum auch geschichtlich wirkungslos geblieben.

An dieser theoretischen Schwäche tragen natürlich Marx und Engels keine Schuld, sondern die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis Mitte des vorigen Jahrhunderts, die ihnen keine Voraussetzungen in die Hand gab, eine solche Trieb- und Sexualtheorie auszuarbeiten.

Aber noch mehr: Der Ideologiebegriff, die schärfste Waffe des Marxismus im Kampf gegen die herrschende Klasse, wandelt selbst seine Bedeutung. War im Anfang die "Entlarvung" von Recht, Moral, Religion als Werkzeuge der Unterdrückung ein Hebel des revolutionären Fortschritts, so wird heute die intellektualistische Einengung, die für die meisten Marxisten mit diesem Begriff historisch untrennbar verbunden ist, zu einem Hemmschuh für die lebendige Weiterentwicklung der revolutionären Theorie und Praxis.

Die Marxschen Lehren von Klassenteilung und Staat, vom Mehrwert, von der Entfremdung und Gegenüberstellung selbstgeschaffener Verhältnisse bleiben auch weiterhin die Grundlage aller revolutionären Arbeit: Doch das meiste, was an konkreter Ideologieanalyse bisher vom Marxismus geleistet wurde, muss neu gemacht werden, wobei die Angst vor Irrtümern und Unvollkommenheiten einen nicht von der Arbeit abschrecken darf.

Ein Problem, wo die Schwäche der Marx-Engelsschen Religionsauffassung besonders deutlich wird, ist das der Naturreligion. Hier ist alles Konstruktion, die Formel "tierisches Bewusstsein der Natur" ist von der neueren ethnologischen Forschung durch konkretes Wissen ersetzt worden, wie es bei der Entstehung primitiver Religion zugeht: Ekstatische Rauschzustände, die durch asketische Prozeduren herbeigeführt werden, spielen dabei eine Hauptrolle. Hier hat die künftige Forschung noch viel zu leisten, besonders wenn wir be-

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denken, wie sehr Vorstellungen und Gefühlseinstellungen aus der primitiven Religion auch in den sogenannten "höheren Religionen" eine Rolle spielen.

Doch die Arbeit wird sich dabei nicht die Äusserungen von Engels in einem Brief an Conrad Schmidt (27. X. 1890) zum Leitfaden machen können:

"Was nun die noch höher in der Luft schwebenden ideologischen Gebiete angeht, Religion, Philosophie u.s.w., so haben diese einen vorgeschichtlichen, von der geschichtlichen Periode vorgefundenen und übernommenen Bestand von -- was wir heute Blödsinn nennen würden. Diesen verschiedenen falschen Vorstellungen von der Natur, von der Beschaffenheit des Menschen selbst, von Geistern, Zauberkräften u.s.w. liegt meist nur negativ Ökonomisches zu Grunde; die niedrige ökonomische Entwicklung der vorgeschichtlichen Periode hat zur Ergänzung, aber stellenweise auch zur Bedingung und selbst Ursache, die falschen Vorstellungen von der Natur. Und wenn auch das ökonomische Bedürfnis die Haupttriebfeder der Naturerkenntnis war und immer mehr geworden ist, so wäre es doch pedantisch, wollte man für all diesen urzuständlichen Blödsinn ökonomische Ursachen suchen. Die Geschichte der Wissenschaften ist die Geschichte der allmählichen Beseitigung dieses Blödinns ... "

"Blasphemie", wie sie Marx und Engels -- nicht nur hier -- lieben, ist zwar unter Atheisten ein amüsantes Gesellschaftsspiel. Doch wenn man bestimmte religiöse Vorstellungen, wie etwa den Geisterglauben, der doch im katholischen Heiligenglauben fortlebt und gesellschaftliche Macht besitzt, als Blödsinn verspottet, versperrt man sich den Weg zur Untersuchung und Bewältigung der Schwierigkeiten, vor die die Religion die revolutionäre Arbeiterbewegung stellt.

Mit Hinblick auf unsere oben formulierten Fragen können wir also zusammenfassend sagen: Da Marx und Engels die subjektive Aneignung und Verankerung von bestimmten psychischen Haltungen nicht sehen konnten -- Haltungen, die sie zu eng als blosse "Ideologie" auffassten --, waren ihnen auch die Gesetze der "Rückwirkung auf die Basis" verschlossen; bloss die Tatsache dieser Rückwirkung haben sie festgestellt. Sie fassten darum auch den Kampf gegen diese "Ideologien" zu einseitig als Propaganda der revolutionären Theorie, während sich aus dem Wissen ihrer Verankerung in bestimmten psychischen Strukturen auch bestimmte neue Kampfformen ergeben, auf die wir im letzten Kapitel eingehen werden. Im folgenden Abschnitt geben wir bloss eine Darstellung dieser Verankerung selbst.

3. Religion als psychische Struktur.

Die Fassung der Religion als Ideologie gibt keine Möglichkeit, ihre Verwurzelung in der psychischen Struktur, im Gefühls- und Triebleben des durchschnittlichen Massenindividuums wirklich zu erfassen. Dazu ist es notwendig, nicht von den religiösen Dogmen, sondern vom religiösen Leben, nicht von der Theologie, sondern von der Religion, als massenpsychologischer Erscheinung auszugehen.

Nehmen wir unsere Beispiele aus dem bereits gesammelten Material. Dann fällt auf:

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a) Der Zusammenhang zwischen Religion und Familienerziehung: Die Familienerziehung muss nach Auffassung der protestantischen Theologen geschützt werden gegen ihre Auflösung durch Erziehung in den nationalsozialistischen Verbänden. Die Familie ist bedroht durch die Duldung des ausserehelichen Geschlechtsverkehrs und der unehelichen Mutterschaft, sagen die katholischen Bischöfe.

b) Der Zusammenhang zwischen Religion und Sexualunterdrückung: Vgl. neben den zitierten Marxstellen die gesamte Erbsündenlehre, die Lehre von der Sündigkeit des Fleisches, die in Widerstreit zur nationalsozialistischen Auffassung von der Rolle des Körpers kommt, den Kampf der katholischen Kirche gegen das Sterilisationsgesetz.

Welches Interesse die Kirche an der sexuellen Enthaltsamkeit, besonders der Jugend, haben muss, zeigt die hinterlistige Art, wie sie ihr die Freude an gesunder, natürlicher Sexualität, an erotisch betontem Schmuck und Spiel zu verekeln sucht. Folgendes Flugblatt bekam der Verfasser im Winter 1931 um 11 Uhr nachts am Bahnhof Friedrichstrasse in Berlin in die Hand gedrückt:

Wilhelm Dornemann, Hagen i.W.

Entmannte Männlichkeit.

Vor kurzem hat ein Volkskenner über unsere Zeit etwa so geurteilt: Das moderne Weibliche siegt immer mehr über das Männliche, der Genuss über die Sittlichkeit, die Weichlichkeit über den Heldengeist. Hat dieser Mann nicht recht? Wir haben heute in der Tat weithin eine entmannte Männlichkeit mit allen ihren Auswirkungen.

Wo wir hinschauen, sehen wir das Vordringen eines modernen Dirnengeistes. Sinnlich, eitel, anmassend und aufdringlich ...

Diese lüsternen Mädels, die auf den Strassen umherschwänzeln und -tänzeln, rechnen offenbar mit der inneren Schlaffheit der jungen Männer. Denn sie würden gewiss nicht immer ihre Beine zur Schau bringen, sich nicht beständig an ihrem Bubikopf zu schaffen machen und nicht dauernd ihre begehrlichen Augen umherwandern Iassen, wenn sie nicht wüssten, dass solches Gebahren auf die jungen Männer Eindruck macht ...

Aber gibt es denn keine harmlose Freundschaft zwischen einem Jüngling und einem Mädel? -- Die "Freundschaften", die so "harmlos" beginnen, werden gar sehr schnell zu schwärmerischen Liebschaften. Und diese frühen Liebschaften zerstören viel Gutes und Edles im Seelenleben tausender junger Menschen, weil sie für eine gottgewollte echte Liebe noch nicht reif sind ...

Diese törichten Liebeleien, die häufig den Grund für soviel Unglück im späteren Leben legen, wären nicht möglich, wenn wir ein straffes, reines, ritterliches Jungmannesgeschlecht hätten.

... Tausende von jungen Männern, die sich in unseren christlichen Jungmännervereinen im Deutschen Sittlichkeitsbunde vom Weissen Kreuz (Sitz Nowawes bei Potsdam, Heinestrasse 1) zur gegenseitigen Stärkung und zum Kampf für ihre Altersgenossen zusammengeschlossen haben, stehen in diesem Erleben.

Sie haben ihre Reinheit, Kraft und Mannhaftigkeit von Jesus Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn und Heiland. Er will auch Dir Deine Schuld vergeben, wenn Du aufrichtig zu ihm kommst. Er will auch in Dir die Macht der Sünde brechen, wenn Du ihm aufrichtig nachfolgst ...

Doch die Kirche wäre die raffinierte Institution nicht, die sie ist, würde sie sich auf eine derart unverblümte Propaganda der Sexualunterdrückung beschränken. Sie verfährt viel geschickter, trifft zugleich viel mehr Fliegen auf einen Schlag mit ihrer Sündenlehre. Um

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ihr Wesen zu erfassen, tun wir gut, von einem Zitat aus dem 7ten Kapitel des Römerbriefs des Apostel Paulus auszugehen:

"Die Sünde erkannte ich nicht, ausser durch das Gesetz. Denn ich wusste nichts von der Begierde, wo das Gesetz nicht gesagt hätte: Du sollst nicht begehren. Da ergriff aber die Sünde die Gelegenheit des Gebots und erregte in mir alle Begierde. Ausserhalb des Gesetzes ist die Sünde tot. Ich aber lebte einst ohne das Gesetz. Als aber das Gebot kam, lebte die Sünde wieder auf ...

... Das Gesetz ist ja heilig und das Gebot ist heilig, recht und gut ...

... Wir wissen, dass das Gesetz geistig ist. Ich bin aber fleischlich und unter das Gesetz der Sünde verkauft. Was ich tue, weiss ich nicht. Nicht das tue ich nämlich, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich das tue, was ich nicht will, so gebe ich doch zu, dass das Gesetz gut ist. Nun [tue] nicht ich es, sondern die in mir wohnende Sünde ...

Ich weiss nämlich, dass nicht in mir, das heisst in meinem Fleisch das Gute wohnt. Das Wollen steht nämlich zu meiner Verfügung, das Vollbringen des Guten aber nicht. Nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, vollbringe ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, tue nicht ich es, sondern die in mir wohnende Sünde ...

... Ich freue mich also an Gottes Gesetz dem inneren Menschen nach, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz in meinem Verstand widerstreitet und mich gefangen nimmt im Gesetz der Sünde in meinen Gliedern.

Ich unglücklicher Mensch ! Wer wird mich aus diesem Todesleib herausreissen? Ich danke Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn."

Diese berühmte Paulusstelle gibt wahrheitsgetreuer als manche philosophische Abhandlung die psychische Situation des Menschen in der auf Triebunterdrückung gegründeten Klassengesellschaft wieder. Die Einschränkung der sexuellen und aggressiven Regungen (das Gesetz) kommt von aussen, ist gesellschaftlich bedingt. Paulus sagt an einer anderen Stelle (im Galaterbrief), das Gesetz sei zwischendurch -- u. zw. seit Moses -- hereingekommen und meint damit ganz richtig, dass es nicht ewig sondern historischen Ursprungs sei.

Erst die Einschränkung aber erzeugt, sobald sie verinnerlicht wird (das Gesetz in meinem Verstand), Angst und böses Gewissen: Denn einerseits nehmen die unterdrückten Triebe infolge der Aufstauung der vegetativen Energie nun einen sadistischen und perversen Charakter an, den sie ursprünglich gar nicht besassen: Der enthaltsame Jüngling z.B. phantasiert davon, alle Mädchen zu vergewaltigen, eine Phantasie, die sich dem sexuell befriedigten Menschen gar nicht aufdrängt. Diesen künstlich entstellten, von Reich sogenannten sekundären Trieben nachzugeben, erscheint aber in der Folge doppelt gefährlich. Und das umso mehr, wenn der ursprüngliche Anlass der Triebeinschränkung nicht mehr erinnert werden kann, nach einem von der Psychoanalyse aufgedeckten Gesetz der Verdrängung verfällt und nur mehr als geheimnisvolle "Stimme des Gewissens" im Innern wirkt. "Die Sünde" ist nichts anderes, als der entstellte, mit schlechtem Gewissen belastete Triebanspruch in uns selbst. Doch diese Sünde ist unvermeidlich: Der aus biologisch bedingter Energie gespeiste Triebanspruch (das Gesetz in meinen Gliedern) setzt sich immer wieder -- und wenn auch in noch so verstellter Form -- gegen das Gesetz im Verstand durch. Und erst

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die Vorstellung von der Gnade Christi, die die Kirche verkündigt, schafft dem bedrängten Gewissen wenigstens auf eine Zeit lang Ruhe.

Aber fragt man die Kirche nach einer genauen inhaltlichen Bestimmung dessen, was Sünde ist, so wird man keine klare Antwort erhalten.*) Die geläufige Antwort nämlich: "Verstoss gegen den in der heiligen Schrift geoffenbarten Willen Gottes" liefert uns völlig der Interpretation aus, die die Theologen dieser sehr vieldeutigen Offenbarung jeweils geben.

Sehen wir uns diese Interpretation etwas näher an. Da steht auf der einen Seite die Aufgabe, das Evangelium der jeweiligen Klassenmoral anzupassen. Der Werktätige, der hungert und sich unterdrückt fühlt, soll auf politischen Kampf verzichten, gehorsam dem Wort: Seid untertan der Obrigkeit. Aus diesem Gehorsam heraus muss er im Fall eines Krieges auch zu den Waffen greifen; aber nicht nur aus Gehorsam, sondern auch aus Liebe zu seinen Nächsten, die er mit der Waffe in der Hand gegen den bösen Feind beschützen muss (gilt natürlich nicht für den Klassenkampf !). Von hier aus rechtfertigt die Kirche auch den Nationalismus, bejaht die "nationalen Werte" der Familie, der Heimat, des Volkstums. Und demjenigen, der sich in der so bestimmten Ordnung der Welt nicht zufrieden fühlt, verspricht sie das Gottesreich, das nicht von dieser Welt sei. In dieser Welt nämlich zieme dem Menschen Demut -- aber vor arlem auch Keuschheit ! Ausserehelicher Geschlechtsverkehr ist als "Hurerei" ebenso verpönt wie Onanie und wie -- im Bereich der katholischen Kirche -- Ehescheidung. Doch diesen Katechismus der bürgerlichen Moral versüsst das Christentum mit illusionärer Bejahung sozialistischer Wünsche und Sehnsüchte: Politischer Kampf ist zwar verboten, aber es heisst trotzdem: "Wehe den Reichen", "ein Kamel geht leichter durch ein Nadelöhr als ein Reicher durch die Pforte des Himmelreichs eingehe." Der tatsächlichen Unterstützung aller Kriegsvorbereitung - man denke nur an die aktive Rolle der Priesterschaft bei der Mobilisierung Abessiniens, um ein aktuelles Beispiel zu geben -- steht die Friedensbotschaft des Christentums gegenüber: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden." Die Friedensschalmei bläst die Kirche immer dann sehr geschickt, wenn es nicht gefährlich ist. Trotzdem weiss sie der Massensehnsucht nach internationaler Verbrüderung entgegenzukommen: "Gehet hin und prediget allen Völkern" heisst es im Matthäusevangelium. -- Nur in den Fragen der Sexualethik hat die Kirche der Klassenmoral, die sie predigt, nichts entgegenzustellen, was wenigstens in der IIlusion die Sexualität

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*) Ein scharfsinniger Theologe (Bultmann in der Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft, 1924) hat das Bestehen einer besonderen christlichen Ethik zum Schrecken weniger scharfsinniger Berufskollegen überhaupt geleugnet. Für den Christen bestehen keine anderen ethischen Forderungen als für den Nichtchristen, nur stellt der Christ sie "unter Gottes Gehorsam", d.h. er fasst sie als Gottes Forderungen auf.

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bejahen würde. Die Kirche kann niemals die Sexualität bejahen, sondern nur die -- Fortpflanzung.

Das Christenturn, wie es die Kirche predigt, hat auf diese Weise eine ähnlich widerspruchsvolle Struktur wie der Nationalsozialismus. Die Durchsetzung der bürgerlichen Wirklichkeit wird erleichtert durch Bejahung der sozialistischen Illusion. Und diese Bejahung ermöglicht der Kirche ein ungeheuer geschmeidiges Lavieren, sie vermag sich auf diese Weise bei einiger Geschicklichkeit stets als Anwalt der jeweiligen Massensehnsucht hinzustellen.

Doch kehren wir zu unserem Ausgangspunkt, der Sündenlehre zurück ! Man könnte vielleicht meinen, die Verschwommenheit und innere Widersprüchlichkeit dessen, was "Sünde" inhaltlich sei, würde ihre Wirkungskraft beeinträchtigen ! Aber gerade umgekehrt ! Gerade diese Verschwommenheit bedingt die massenpsychologische Wirkungskraft des Sündenbegriffs. Von tausenden Kanzeln werden die Gläubigen jeden Sonntag angedonnert: "Die menschliche Natur ist von Geburt an verworfen und böse, ihr seid sündig !" Jeder kleine Mann kann sich zu dieser Melodie seinen eigenen Text machen: Denn sollte er sich etwa zufällig von "Sünde" frei fühlen, so wird ihm gesagt, dies sei ein Zeichen besonderen Hochmuts, besonderer Verstocktheit. So wird er getrieben, in seinem Gewissen zu bohren und zu forschen, die an sich harmloseste Handlung, den von jeder Realisierbarkeit weit enfernten Tagtraum unter die Lupe zu nehmen: Schuldig ist ja bereits, wer die Frau des anderen bloss mit begehrlichen Augen ansieht. Denn nicht nur das Tun, sondern auch schon das Wünschen ist verdammenswert, wenn es gegen das -- jeweils gesellschaftlich herrschende -- Gesetz verstösst.

Und dieses Gesetz -- Paulus sagt es selbst -- ist in Wirklichkeit undurchführbar. Zunächst ist es die Sünde der "sexuellen Begehrlichkeit", mit der die Menschheit nicht fertig werden kann, da sich der biologisch bedingte Triebanspruch niemals völlig unterdrücken lässt. Haben aber die Christen ihre sexuellen Wünsche mit Unterstützung der Kirche brav aus ihrem Bewusstsein verdrängt, *) dann schwellen zum Ersatz andere Triebe mächtig an: Selbstsucht ("Narzissmus", um hier den Fachausdruck der Analyse zu nennen, der sich mit dem theologischen Begriff natürlich nicht ganz deckt), Angriffs- und Rauflust (vgl. eingesperrte Tiere), Sadismus. Aber sogleich ist die Kirche da und wettert gegen die Bösartigkeit und Eigenwilligkeit

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*) "Die menschliche Selbstbeherrschung, ich spreche von der gemäss den griechischen Philosophen, fordert dazu auf, gegen die Begehrlichkeit zu kämpfen und ihr nicht hinsichtlich der Werke nachzugeben; unsere Selbstbeherrschung aber verlangt, überhaupt nicht zu begehren: Nicht dass jemand, der schon begehrt, standhaft sei, sondern, dass man über das Begehren selbst Herr werde. Diese Enthaltsamkeit kann man auf keine andere Weise erhalten, als durch die Gnade Gottes." (Clemens Alexandrinus, Stromateis, Buch II, Kap. 7). Diese Kirchenvaterstelle vom Ende des 2. Jahrhunderts zeigt sehr schön den Fortschritt von der äusserlichen Versagung zur Verdrängung, die die Klassengesellschaft historisch gesehen dem Christentum verdankt.

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des Menschen: Und diesmal nicht ganz mit Unrecht. Nur erwähnt sie dabei nicht, dass es sich nun um Triebstrukturen handelt, die erst durch die Versagung künstlich geschaffen wurden.

Politisch wird damit wiederum erreicht, dass mit den irrationalen, in der Tat praktisch unbrauchbaren Regungen der Aggression und des Selbstgefühls zusammen auch rational berechtigte Regungen der Kritik gegen die herrschende Gesellschaftsordnung der Verdammung durch das mobilisierte böse Gewissen ausgeliefert werden. Für die Kirche aber wird damit erreicht, dass die Gläubigen von der unerfüllbaren Forderung ständig in Spannung gehalten werden. Immer wieder müssen sie letzten Endes bei der Kirche, bei der durch ihre Autorität verkündeten, in Christus geoffenbarten Sündenvergebung Trost und Beruhigung suchen: Was die Bindung an die Kirche stets wach erhält.

So werden die Kirchenfrommen zu treuesten Befolgern der bürgerlichen Moral. Ihrem Respekt vor der Autorität, der kirchlichen wie der staatlichen, ihrer Gleichgültigkeit gegen das Fortbestehen sozialer Unterdrückung, ihrer feindlichen Einstellung gegen das kämpfende Proletariat entspricht subjektiv: Sexualscheu, durch ständige Übung im Sich-selbst-beherrschen entstandene Gehemmtheit, Angst vor dem "Chaos" der Revolution, die nichts anderes ist, als die Angst vor den "chaotischen Trieben" in ihnen selbst, die sie ständig niederhalten müssen.

Wo aber wird der letzte Grund zu dieser Haltung gelegt? Religionsunterricht und Sündenpredigt allein können nicht ausschlaggebend sein. Denn das Kind, das ihrer Einwirkung unterliegt, muss ein Stück Schuldgefühl und Angst vor den eigenen Trieben bereits vorher in sich tragen -- andernfalls wird ihm die ganze Religion mit ihrer Sünden- und Gnadenlehre fremd bleiben.

Bei der Beantwortung dieser Frage ergibt sich allerdings folgende Schwierigkeit: Während wir uns bisher auf Erfahrungen und Beobachtungen berufen haben, die die meisten Leser selbst machen können und z.T. auch gemacht haben, so müssen wir jetzt Beobachtungen und Tatsachen heranziehen, die den meisten neu und fremdartig erscheinen werden. Sie wurden an gesunden und kranken Menschen gemacht, die wir in Analyse bekommen und wo durch ein besonderes Verfahren die Erinnerungssperre aufgehoben wird, die uns die Erlebnisse unserer frühen Kindheit verhüllt. Diese Beobachtungen an erwachsenen Menschen sind in der Folge durch direkte Kinderbeobachtungen bestätigt worden.

Der beschriebenen Haltung des Erwachsenen liegt nach diesen Beobachtungen zu Grunde die Unterdrückung der freien und natürlichen Lebensäusserungen des Kindes: Vor allem das Verbot der kindlichen Onanie und der gemeinsamen sexuellen Spiele der Kinder, verbunden mit vorausgegangener zu strenger Reinlichkeits- und Esserziehung.

Das Onanieverbot kann in grober Form durchgeführt werden:

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Schläge, Festbinden der Hände, Drohung: Das Glied wird dir abgeschnitten. Oder in verhüllter Form: Spielen mit den Geschlechtsteilen, Schlafen mit den Händen unter der Bettdecke wird für ungesund erklärt, es "schwächt", Hände in die Hosentaschen stecken sieht nicht gut aus, ist ungezogen, etc.

Das Verbot, das zunächst von aussen kam, wird in der Folge verinnerlicht. Die Personen, Anlässe, bei denen es gegeben wurde, werden vergessen, aus dem Bewusstsein "verdrängt", die meisten Erwachsenen können sich an die damit verbundenen Erlebnisse nicht oder bloss unvollkommen erinnern. Die Wirkung des Verbots aber bleibt als sexualablehnende Ideologie und als Sexualstörung bestehen.

Doch zusammen mit der Onanie werden auch eine Menge anderer natürlicher Lebensäusserungen der Kinder zerstört, die die Erziehung und Beaufsichtigung in dem Milieu der bürgerlichen Familie, so wie es nun einmal besteht, erschweren, die den Eltern Unbequemlichkeiten machen würden. Ziel der Erziehung ist ja "das brave Kind", das niemals in die Hosen macht, niemals nascht, aber auch niemals etwas bei Tisch stehen lässt, das niemals ein unanständiges Wort sagt oder gar "so etwas" tut, das in Gegenwart Fremder nur spricht, wenn es gefragt wird, das mit anderen Kindern nicht rauft, mit einem Wort: Den Eltern in allen Punkten gehorsam ist. *)

Jede Unterdrückung einer freien Lebensäusserung erzeugt, wie die Erfahrung lehrt, Angst oder Wut -- bzw. oft eine gegen die eigene Person gekehrte Kombination von beiden, z.B. Verzweiflung. So entsteht etwa aus dem Verbot der Onanie die Angst vor der Dunkelheit, die meist zur Onanie benutzt wurde, es kann sich auch eine allgemeine Ängstlichkeit entwickeln. Wut kommt zum Vorschein in Reizbarkeit, Schreianfällen, Quälen von Tieren. Doch all diese Charakterzüge müssen dem Kind nun von neuem abgewöhnt werden.

Hier setzt nun die religiöse Erziehung ein. Dem von Ängstlichkeit und Schuldgefühl gegen die Eltern erfüllten Kind erzählt man nun von einem besseren Vater, der zwar auch streng ist -- wie der Vater zuhause -- aber auch liebevoll -- was der Vater zuhause vielleicht nicht ist; der zwar alle Sünden sieht -- und niemand ist ohne Sünden -- aber der zugleich seinen Sohn zur Vergebung der Sünden sendet: Und welchem Kind wird es nicht leicht fallen, zu diesem Sohn eine Beziehung zu finden (der ja auch seinerseits die Kinder

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*) Freud erklärt in »Zukunft einer Illusion« die Religion folgendermassen (vgl. besonders S. 24ff): "Mit den Übermächten der Natur und des Schicksals wird der Mensch dadurch fertig, dass er auf eine ähnliche Situation in der Kindheit zurückgreift: auf seine Hilflosigkeit den Eltern gegenüber. Aus der kindlichen Erinnerung an den Vater schafft er sich die Göttergestalten, die er nicht nur fürchten muss, sondern an die er sich auch vertrauensvoll um Hilfe wenden kann. -- Freud fasst jedoch dabei eine Situation als absolut, die nur in der heutigen Gesellschaft besteht: Nur das "brave Kind" ist den Eltern gegenüber völlig hilflos, nur der sexuell gestörte, neurotische Erwachsene, zu dem sich in der Folge das brave Kind entwickelt, flieht vor den Schlägen des Schicksals in die kindliche Situation den Eltern gegenüber zurück.

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lieb hat und zu sich kommen lässt) -- selbst wenn der Vater fern und unnahbar erscheint.

So führt die religiöse Erziehung das weiter, wozu schon vorher der Grund gelegt war. Sie erleichtert es dem Kinde, seine aggressiven Impulse iin Sinne der christlichen Nächstenliebe durch Freundlichkeit und Dienstfertigkeit zu kompensieren, die von gesunden Menschen oft als süss und unecht empfunden wird; später wird ihm vielleicht diese übergrosse Weichheit lästig. Vom jungen Mann verlangt man ein männliches Auftreten (vgl. das zu Beginn des Kapitels zitierte Flugblatt), mit dem nun die Weichheit künstlich überbaut wird u.s.w. So legt sich in der Entwicklung des Charakters Schicht auf Schicht: Bis wir den gehemmten, sexualscheuen jungen Mann aus dem christlichen Jünglingsverein vor uns haben, der in Hochachtung und Demut stirbt vor all den Personen, von denen die entscheidenden Versagungen ünd Verbote in seinem Leben ausgegangen sind: Er ehrt nicht nur Vater und Mutter, "auf dass er lang lebe und es ihm wohlergehe auf Erden", sondern auch alle Personen, die ihre Stelle vertreten: Lehrer, staatliche Autoritäten, Gott.

Durch die Sexualablehnung, die ihm anerzogen ist, ist er vorbereitet zur Ablehnung alles Geschlechtsverkehrs, den diese Autoritäten nicht gut heissen. Er wird darum eine streng monogame Ehe eingehen und alle Kritik der Eheinstitution mit moralischer Entrüstung von sich weisen, bzw. den politischen Parteien seine Unterstützung geben, die diese Kritik unterdrücken. In seiner Ehe wird es ihm nicht so sehr auf die Befriedigung der von ihm so genannten "tierischen Lust" als auf "seelische Kameradschaft" ankommen -- während der sexuell gesunde Mensch stets die Einheit von beidem erstrebt --, ferner auf Kinderzeugung. Und seine Kinder wird er nach denselben Prinzipien erziehen, nach denen er erzogen worden ist: Der Zirkel von Produktion und Reproduktion der bürgerlichen Struktur und Ideologie ist geschlossen.

Und zum Schluss noch als Entgegnung auf naheliegende Einwände: Wir wissen natürlich, dass unsere Darstellung der religiösen Entwicklung in keinem Punkt erschöpfend ist; dass je nach den individuellen Bedingungen auch Momente in der kindlichen Entwicklung für die Bildung der religiösen Struktur wichtig werden, die wir nicht ausdrücklich genannt haben; dass andererseits gewisse Erscheinungen des christlichen Lebens wie Demut, Askese, Liebe eine ausführliche psychologische Analyse fordern, zu der auch schon zahlreiche Arbeiten vorliegen. Eine solche Arbeit über die Religion würde aber ein eigenes Buch füllen. Wir haben uns darum begnügt, die wichtigsten Elemente der Verwurzelung der Religion an typischen Beispielen darzustellen. Sexualunterdrückung und Hemmung aller freien Lebensäusserungen, Schuldgefühl und Angst, "Ersatzvater", Beruhigung des Schuldgefühls durch die Sündenvergebung, charakterliche Verarbeitung der gehemmten und umgeformten Triebimpulse.

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Doch noch bleibt eine wichtige Frage übrig: Die Religion legt dem Menschen eine grosse Menge Einschränkungen auf. Das tun aber in gleicher Weise, mit inhaltlich fast den gleichen Forderungen, auch Moral, Recht, ferner bestimmte politische Bewegungen, wie der Faschismus.

Jedes menschliche Wesen strebt aber nach Angstvermeidung und nach Lusterhöhung. Es wird sich also diese Einschränkungen nicht gefallen lassen, wenn ihm dafür nicht etwas anderes als Ersatz geboten wird. Was ist aber dieses Andere, und was bietet die Religion im besonderen für Ersatzbefriedigungen ? (ein nicht sehr glückliches Wort, da wirkliche Befriedigung, wie wir sehen werden, nicht erreicht wird)

4. Religion als "Erlösung".

Moral, Recht, Faschismus, Religion regeln das Leben des Menschen autoritär, rechtfertigen politisch gesehen Ehe, Staat, überhaupt die bestehende Gesellschaft. Aber was bieten sie dem Menschen noch ausserdem ?

Das Recht garantiert demjenigen, der die Gesetze befolgt, Straffreiheit, Ungestörtheit durch den Eingriff der staatlichen Autorität. Die Moral bietet ihm "das gute Gewissen", das "ein sanftes Ruhekissen ist", den Lohn, den "die gute Tat in sich selbst trägt"; die kleinbürgerlich-banale Spruchweisheit, in die sich diese Moral fassen lässt, verweist unmittelbar auf die Schicht, in der sie am meisten verbreitet ist.

Der Faschismus gibt seinen Anhängern Ehrgefühl, Rassen- und Nationalstolz, politische Macht und Achtung und vor allem Anerkennung durch den Führer. Bei dieser Gelegenheit zeigt sich, wie wenig die Definition, die Schleiermacher von der Religion gab ("schlechthinnige Abhängigkeit vom Absoluten") für diese spezifisch ist, d.h. etwas trifft, das sie von anderen Erscheinungen unterscheidet. Denn auch der an einen Führer gebundene ist von ihm als von etwas Absolutem schlechthin abhängig. Ebenso ist Freuds Erklärung der Religion als wiederkehrende Vaterbindung (vgl. Anmerkung S. 82) zwar an sich richtig, aber nicht spezifisch. Denn auch der faschistische Führer spielt im Empfinden des an ihn Gebundenen Vaterrolle (vgl. dazu im einzelnen Reich, »Massenpsychologie... «:).

In der Religion erlebt jedoch der Gläubige die Bindung an Gott, den Lohn für seinen Gehorsam und sein Vertrauen auf eine ganz besondere Weise. Und diese besondere Form des Erlebens unterscheidet die Religion von verwandten Erscheinungen, gibt uns die naturwissenschaftliche Formel für das eigentlich "Religiöse der Religion".

Wir verdanken diese Formel dem norwegischen Religionspsychologen Ola Raknes, auf dessen Ausführungen wir uns im Folgenden weitgehend stützen. Sein ausgezeichnetes Buch »Mötet med det heilage« (Begegnung mit dem Heiligen) ist leider nur in norwegi-

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schem Landsmaal erschienen und darum dem nicht norwegischen Leser nur schwer zugänglich. *)

Eine fremde, jenseitige Macht, Gott, bricht gleichsam in sein Bewusstsein plötzlich ein. Er fühlt sich von ihr entweder bloss in unbestimmter Weise gehoben und getragen, er fühlt ihre Macht im Sakrament der Sündenvergebung, er hört als Prophet oder religiös Entrückter unmittelbar ihre Stimme, er erlebt als Mystiker unmittelbar die Vereinigung mit ihr. So, wenn Paulus davon spricht, dass er in Christus und Christus in ihm sei, wenn katholische Nonnen sich als "Bräute Christi" bezeichnen.

Wir können auf Grund unserer Erfahrungen nicht an das wirkliche Bestehen solcher überirdischen Mächte ausser uns glauben, können darum auch den Theologen nicht beistimmen, die von einem besonderen religiösen Sinn im Menschen reden, dessen Fehlen es unmöglich mache, über religiöse Dinge mitzureden. Wir müssen uns die Sache vielmehr folgendermassen erklären.

Im gewöhnlichen Leben werden in unserer Gesellschaft bestimmte Vorstellungen aus dem Bewusstsein verdrängt, die dazugehörige Energie in krampfhaften Körper- und Charakterhaltungen gebunden. Im Zustand religiöser Erregung, "Erbauung", brechen diese Kräfte plötzlieh in unser Bewusstsein ein: Aber nicht so, dass sogleich eine dauernde organische Verschmelzung stattfände. Der Einbruch geschieht vielmehr bloss an einer Stelle, wie durch ein Loch, das sich nachher wieder schliesst. Und die Kräfte brechen endlich nicht als das ein, was sie wirklich sind, sondern sie werden in einer Form bewusst, auf die das Bewusstsein vorbereitet ist: So wie die hysterische Frau im geheimnisvollen Knacken der Tür den Mann vermutet, der sie vergewaltigen will, der Geizhals den Dieb, der Liebende die Geliebte, der von Gläubigern verfolgte den Gerichtsvollzieher: So ge-

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*) Raknes geht in seinem Buch von den geläufigen wissenschaftlichen Definitionen der Religion aus und zeigt, dass sie unspezifisch sind, d.h. auch andere Erscheinungen als die religiösen umfassen, während die theologische Auffassung der Religion als etwas ganz Besonderem, das dem areligiösen wissenschaftlichen Denken unzugänglich sei, aufhöre, wissenschaftlich zu sein. Um aus dieser doppelten Schwierigkeit einen Ausweg zu finden, greift er auf die Entstehung der Religion in den uns bekannten primitiven Gesellschaften zurück und fragt: Was sind es für Erlebnisse, die ein profanes Ding, einen profanen Menschen in diesen Gesellschaften zu einem heiligen machen ? -- Als typische Erlebnisse dieser Art findet er die ekstatischen Erlebnisse. Er geht nun unter Heranziehung eines reichen ethnologischen, religionsgeschichtlichen und psychopathologischen Materials der Frage nach, wie diese Ekstasen aussehen, findet dabei eine erstaunliche formale Ähnlichkeit -- trotz verschiedenster kultureller Bedingungen und Inhalte. Dabei zeigt sich, dass ekstatische Erlebnisse auch in den Religionen der sogenannten Kulturvölker in mehr oder minder ausgesprägter Form eine entscheidende Rolle spielen. Zum Schluss versucht Raknes eine Hypothese über die individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen ekstatischer Erlebnisse aufzustellen: Seiner Auffassung nach spielt das unterdrückte Nahrungsbedürfnis dabei die entscheidende Rolle. Wir haben in der folgenden Anmerkung kurz die Argumente zusammengefasst, die uns für eine andere Erklärungsmöglichkeit zu sprechen scheinen, ohne jedoch auf diese Fragen im Einzelnen eingehen zu können.

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winnen diese übermächtigen Kräfte für den Religiösen, der von ihrem Einbruch überwältigt wird, die Gestalt der Mächte, denen er als Kind ebenso hilflos gegenüberstand, bei denen er aber auch umgekehrt in den äusseren Nöten des Lebens Schutz finden konnte: Es sind das die Eltern, insbesondere der Vater.

Dieses plötzliche Einbrechen unbewusster Kräfte ins Bewusstsein kennen wir in seiner ausgeprägtesten Form als Ekstase (Ekstasis griech.=Ausser-sich-sein). Raknes hat in seinem Buch vor allem für die primitiven Gesellschaften gezeigt, wie am Ursprung der Religion stets ekstatische Erlebnisse stehen. Sie sind es -- oder die ihnen sehr verwandten Träume --, die ein vorher gewöhnliches, profanes Tier -- oder auch ein Ding, einen Menschen -- zu einem heiligen machen. Das Tier wird zum Totemtier, der Stein, die Pflanze zur Totempflanze dessen, dem es in der Ekstase, im ekstatischen Traum als solches erscheint, der Mensch wird durch die Entrückung zum Priester, zum Medizinmann.

Die Primitiven konnten sich solche Erlebnisse nur aus Einwirkung höherer Mächte erklären, während wir neben dieser in der religiösen Sphäre fortlebenden "Erklärung" auch über andere, naturwissenschaftliche Erklärungen verfügen. *)

Doch wir wollen uns hier nicht weiter mit der Ekstase bei den Primitiven befassen, so wichtig dies auch für die Erforschung des Ursprungs der Religion sein mag, sondern uns an Beispiele halten, die dem religiösen Leben der Gegenwart näher liegen.

Die heilige Theresa, eine spanische Mystikerin des 16ten Jahrhunderts, deren Schriften bis zum heutigen Tag grossen Einfluss auf die Gestaltung des religiösen Lebens in der katholischen Kirche ausüben, beschreibt ihre ekstatischen Erlebnisse folgendermassen (Oeuvres complètes, trad. nouv., Paris 1907, 1., S. 147ff, zit. n. Raknes, S. 122f):

"Theresa spricht in ihrer Selbstbiographie von 4 Graden der Oration (mystische Vereinigung mit Gott) und vergleicht sie mit 4 Arten, einen Garten zu bewässern. "Zuerst kann man mit Mühe und Anstrengung Wasser aus einem Brunnen schöpfen. Dann kann man eine Standpumpe mit Ausguss gebrauchen, die man mit einem Schwengel in Gang setzt, und diese Methode habe ich selbst oft gebraucht: Sie ist minder anstrengend und man bekommt mehr Wasser. Weiter kann man Wasser aus einem Bach oder einem Teich hereinleiten; die Bewässerung ist dann besser, die Erde wird bis in grössere Tiefe feucht, man muss nicht so oft giessen, und der Gärtner hat nicht annähernd so schwere Arbeit

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*) Ohne Zweifel hängt die Vorstellung von einer höheren Kraft, die in der Ekstase in der Gestalt des Totems ins Bewusstsein einbricht, mit der Angst der Primitiven vor den unbewältigten Naturkräften, mit ihrer Angst vor Nahrungssorgen zusammen; Totemtiere sind oft bevorzugte Nahrungstiere. Aber der Umstand, dass sich die Primitiven bei den festlichen Totemmahlzeiten manchmal die Hoden des Tiers zu den ekstatischen Tänzen umbinden, ihre Vorstellung, sich die Kraft des Tiers dabei einzuverleiben, endlich die Verbindung dieser Feste mit Pubertätsriten, Beschneidung deutet -- entgegen Raknes -- darauf hin, dass unterdrückte sexuelle Kräfte bei der Entstehung der ekstatischen Riten eine wichtige Rolle spielen. Die genauere Erforschung der Bedingungen der Ekstase bei den Primitiven muss jedoch künftiger Forschung vorbehalten bleiben.

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mehr. Die vierte Art ist ein reichlicher Regen, und das ist die ohne Vergleich beste Art, denn dann ist es der Herr selbst, der wässert, ohne irgendwelche Arbeit von unserer Seite."

Das "Pumpen" in den ersten Stadien geschieht durch Konzentration der Aufmerksamkeit auf Jesus Christus und sein Leben.

"Wir kommen nun 'zum rinnenden Wasser oder Bach oder Quelle. Man hat noch die volle Mühe, es zu leiten, doch die Wässerung ist viel weniger ermüdend.' Dieses dritte Stadium ist 'ein Schlaf der Seelenkräfte, ein Zustand, da sie nicht völlig verschwunden sind, aber dennoch nicht wissen, wie sie wirken ... Man könnte es vergleichen mit jemand, der schon mit dem geweihten Wachslicht in der Hand jeden Augenblick den Tod erwartet, ihn erwartet mit brennender Sehnsucht. In diesen letzten Atemzügen ist die Seele überflutet von unsäglicher Freude. Nach meiner Meinung heisst das, fast ganz [in] dieser Welt abzusterben und schon die Gemeinschaft mit Gott zu geniessen. Ich finde keine anderen Worte, um es zu sagen, und ich weiss nicht, wie ich es anschaulich machen soll. Im übrigen weiss ja auch die Seele selbst nicht, was sie tun soll. Soll sie reden, soll sie weinen ? Sie weiss es nicht. Es ist eine strahlende Wüste, ein himmlisches Von-sich-sein, das einem das wahre Wissen lehrt. Es ist für die Seele ein unendlich seliges Geniessen... Die Seelenkräfte sind fast ganz vereinigt mit Gott, obwohl sie noch nicht so in ihn eingetaucht sind, dass sie nicht mehr arbeiten... Der Willen ist ganz damit einverstanden, dass die Gnade auf diese Weise über die Seele hereinströmt... In den verschiedenen Orationen, die aus dieser dritten Bewässerungsart kommen -- und dies ist Quellwasser --, hat die Seele solches Glück und solchen Frieden, dass der Körper deutlich an ihrem Glück und ihrer Seligkeit teilnimmt.'

... Die vierte Stufe nennt Theresa 'Vereinigungsoration'. In den früheren Zuständen wusste man noch von sich, aber hier 'weiss man nichts mehr; man geniesst bloss, ohne zu wissen, was man geniesst... Alle Sinne sind so aufgesogen in diesem Genuss, dass keiner von ihnen frei ist, sich mit etwas anderem abzugeben, sei es nun das Äussere oder das Innere... Der Körper ist ohnmächtig, und die Seele ist unfähig, das Glück vorauszusehen, das sie geniesst... Zu Beginn kam dieses Wasser vom Himmel fast immer nach einem innerlichen Gebet... Während die Seele auf diese Weise ihren Gott sucht, fühlt sie mit starkem und süssem Empfinden, dass sie das Meiste nicht weiss. Der Atem steht stille, die Körperkräfte versinken, so dass man nicht einmal die Hände ausstrecken kann, ohne dass es weh tut...

Nach meiner Meinung dauert es niemals lang, dass auf diese Weise alle Seelenkräfte zugleich stille stehn... Ich sage es noch einmal: Dies, dass die Kräfte ganz untätig sind, dass auch die Phantasie nicht arbeitet -- denn meiner Meinung nach ist auch die Phantasie unwirksam -- das dauert niemals lange.

...Wir kommen nun zu den innersten Empfindungen der Seele in diesem Zustand... Ich für meinen Teil halte es für unmöglich, etwas davon zu wissen oder gar, von ihnen zu sprechen. Da ich mich nun zum Schreiben setzte, fragte ich mich, was die Seele da macht; es war nach dem Altargang, und ich kam eben aus dem Orationszustand, von dem ich spreche. Da sagte mir Unser Herr diese Worte: Du wirst aufgezehrt, meine Tochter, von einem Drang, tiefer in mich einzudringen. Es ist nicht mehr länger sie, die lebt, ich bin es, der in ihr lebt."

Aus der Analyse zahlreicher Ekstasen findet Raknes, dass typisch dabei sind: Plötzlichkeit, Passivität, Erkenntnisgefühl verbunden mit Unaussprechlichkeit des Erkannten, gewisse Allgemeinempfindungen, kurze Dauer, Gefühl der Erleichterung, Bereicherung nachher. Wir können noch von uns aus hinzufügen: Bestimmte willkürliche Vorbereitungen, Übungen etc., die aber von einem bestimmten Augenblick an anfangen, in einen unwilkürlichen Prozess überzugehen.

Nun erlebt ganz gewiss der Durchschnittschrist die Ekstase nicht in der gleichen Form und Stärke, wie der Mystiker und Heilige. Aber

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zu der Schilderung der heiligen Theresa gibt es Punkt für Punkt Parallelen im Leben des frommen Menschen. "Andacht" wird durch bestimmte äussere Veranstaltungen -- dunkler Kirchenraum, Händefalten, Musik -- bewusst gefördert, doch ohne dass in der Folge die religiöse Ergriffenheit "über einen kommt", ist alles äussere Tun leer und unbefriedigend. Doch wenn das geschieht, dann hat der Gläubige ein fast körperliches Glücksgefühl, das er aber ebensowenig wie die heilige Theresa in Worte fassen kann. Die Unmöglichkeit, über dieses Innerste zu sprechen, macht ja auch so oft den Diskussionen zwischen Freidenkern und Religiösen ein Ende. Der Fromme hat das Gefühl, etwas zu wissen, was der Andere nicht weiss, und doch kann er es nicht aussprechen: "Den Weisen ist es ein Geheimnis, den Toren ist es offenbar geworden." (Paulus)

Was ist es aber, das in der "mystischen Erhebung" durchbricht ? Das Gefühl der Vereinigung mit dem göttlichen Vater, sagt die heilige Theresa. Das übermächtige Gefühl von seiner Liebe und Gnade der Sündenvergebung, sagen Luther und die frommen Protestanten. *)

Woher aber bezieht dieser Durchbruch seine ungeheure gefühlsmässige Energie ? Hier werden wir uns der Tatsache erinnern, dass es sich bei allen Religiösen um sexualablehnende, bei den typischen Mystikern sogar um streng asketisch lebende Menschen handelt.

Doch wenn wir nun mit unseren Darlegungen weiter fortfahren, so müssen wir uns wieder die Schwierigkeit klar machen, die der unvorbereitete Leser haben wird, ihnen zu folgen. Denn während die Tatsachen, auf die wir uns bisher berufen haben, jedermann zugänglich und verständlich sind, müssen wir in der Folge wiederum Erfahrungen heranziehen, die der charakteranalytischen Klinik entstammen. Für die Leser, die diesen Erfahrungen kein Vertrauen schenken -- und das wird gewiss die Mehrzahl sein -- können wir nur mittels der erstaunlichen Parallelen zwischen den religiösen und gewissen physiologischen Phänomenen einen Wahrscheinlichkeitsbeweis liefern. Der Wert dieser Parallelen wird allerdings dadurch erhöht, dass Raknes seine Phänomenologie der Ekstase aufstellte, ehe er von Psychoanalyse, geschweige denn von der sexualökonomischen Orgasmuslehre die geringste Kenntnis hatte.

Dafür aber, dass es sich um sexuelle Energie handelt, die in der Ekstase allerdings in verhüllter Form durchbricht, dafür spricht die ungeheure Ähnlichkeit der Ekstase mit dem Höhepunkt des sexuellen Erlebens, dem Orgasmus.

Hier wie dort gehen willkürliche Vorbereitungen, Muskelbewe-

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*) Harald und Christian Schjelderup haben in ihrem Buch »Über drei Haupttypen der religiösen Erlebnisformen und ihre psychologische Grundlage« (Berlin 1932) gezeigt, dass auch die Gestalt der Mutter, die Erinnerung an den Zustand phantasierter kindlicher Allmacht im religiösen Erleben die zentrale Rolle spielen können. Sie beschäftigen sich dabei jedoch nicht mit der ekstatischen Form des religiösen Erlebnisses. Eingehen auf die dort aufgeworfenen Probleme würde hier zu weit führen.

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gungen in einem bestimmten Augenblick in unwillkürliche über, hier wie dort wird der entscheidende Höhepunkt plötzlich ansteigend und kurz dauernd in passiver Hingegebenheit erlebt. Hier wie dort ist er mit allgemeiner Erregung und mit bestimmten Körpersensationen verbunden (Gefühl des Strömens, Stocken des Atems), jede Ablenkung durch äussere Vorgänge wird als störend und schmerzhaft empfunden, hier wie dort stellt auch die Phantasie im Augenblick höchster Erregung ihre Tätigkeit ein, Phantasien während des Akts sind Zeichen einer Störung. Kurz vorher hat man das Gefühl des Eindringens und Durchdrungenwerdens, während das Gefühl der eigenen Persönlichkeit sich auflöst (vgl. die letzten Sätze im Bericht der Hl. Theresa). Im Akt selbst ist der Mensch ein Stück Natur geworden, die Empfindungen dabei sind darum nahezu unaussprechlich, und es hat eingehender klinischer Beobachtung bedurft, um die Orgasmusphänomenologie auch nur so weit auszuarbeiten, wie wir heute damit gekommen sind.

Doch die sexuelle Energie kann im sexualverneinenden religiösen Menschen nicht als solche durchbrechen, sie kann auch nicht in der einzig wirklich natürlichen Form als Erregung und Entspannung am Genitale abgeführt werden. An Stelle dessen tritt die phantasierte Vereinigung mit einem Bild des Vaters (oder der Mutter). Die Psychoanalyse hat entdeckt, dass der unbewusste Wunsch nach sexueller Vereinigung mit den Eltern, und zwar in heterosexueller und homosexueller Form, bei fast allen Menschen unserer Kultur vorhanden ist; die Sexualökonomie hat gezeigt, wie er durch die Hemmung der genitalen Befriedigung jedoch ungeheuer an Energie gewinnt.

Mit der phantasierten Vereinigung in der religiösen Ekstase müssen allerdings auch gewisse körperliche Vorgänge Hand in Hand gehen, die mit der körperlichen Erschütterung und Entlastung im sexuellen Orgasmus eine Ähnlichkeit haben: Denn in beiden Fällen berichten die Betreffenden von Körpersensationen, aber auch von dem Gefühl von Befreiung, Erleichterung, unaussprechlichen Glücks nachher. *) Doch wissen wir über die körperliche Grundlage der religiösen Ekstase noch weniger als über die des Orgasmus, nämlich gar nichts. Doch die Minderwertigkeit der "ekstatischen" Befriedigung gegenüber der orgastischen beweist die Angst, mit der diese Befriedigung selbst bei der heiligen Theresa verbunden ist, und die beim orgastisch potenten gesunden Menschen natürlich fehlt. **) Diese Angst spielt bei anderen Mystikern und Propheten, aber auch bei den gewöhnlichen Gläubigen eine entscheidende, oft das ganze Leben beherrschende und,

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*) Hier hat wohl auch das "ozeanische Gefühl" seinen Platz, das Romain Rolland, unserer Meinung nach mit Recht, als ein Grundphänomen der Religion ansieht. Freud hat Rollands Auffassung im »Unbehagen in der Kultur« abgelehnt.

**) Während sie beim Neurotiker gerade im Zusammenhang mit dem Orgasmus auftritt, ebenso die Vorstellung vom Sterben (=sich im Orgasmus auflösen). Vgl. »Psychischer Kontakt und vegetative Strömung« von W. Reich.

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wir können ruhig sagen, vergiftende Rolle. Der religiöse "Orgasmus" ist darum teuer bezahlt. Er schwindet aber zusammen mit aller religiösen Bindung sogleich, wenn wir bei einem religiösen Mensehen in der Analyse die Fähigkeit zum wirklichen Orgasmus herstellen: Und das selbst dann, wenn über Religion in der Analyse gar nicht gesprochen wurde. Dies ist ein weiterer klinischer Beweis für unsere Religionstheorie.

Zusammenfassend können wir sagen: Die Kraft, mit der die Menschen an der Religion festhalten -- ganz abgesehen davon, dass die religiöse Ideologie von der herrschenden Klasse als gesellschaftlich herrschende Ideologie propagiert und durchgesetzt wird -- leitet sieh aus zwei Quellen ab: Einerseits ist es die illusionäre Bejahung gewisser sozialistischer Ziele in der religiösen Moral -- doch diesen Zug teilt das Christentum mit anderen Institutionen, z.B. dem Faschismus. Weit wichtiger aber ist die Form des Gotteserlebnisses selbst, das den Menschen von gewissen quälenden Spannungen erlöst, die die Religion "hinter seinem Rücken", d.h. in diesem Fall, durch die sexualunterdrückende Erziehung selbst verursacht hat.

Dabei liefert die Sexualunterdrückung die Energie, die Bindung an den Vater (eventuell auch die Mutter) den Inhalt, der orgastische Erregungsablauf die Form des religiösen Erlebnisses.

So gleicht die Kirche auf sexualökonomischem Gebiet dem Kapitalisten, der der Arbeiterklasse den Mehrwert, den er aus ihr gepresst hat, zum kleinen Teil in Form von Almosen wiedergibt. Wenn die Arbeiterklasse es gelernt haben wird, sich nicht mit Almosen zu begnügen, sondern aufs Ganze zu gehen, dann wird für den Kapitalisten ebensowenig Platz in der Gesellschaft sein wie für den Priester.

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ZPPS, Band 2 (1935), Heft 2 (6), S.134-136

Jørgen Neergaard
Einige Notizen über Psychoanalyse und Sexualökonomie
[zu Ferenczi, Freud]

Als ein kleines Kuriosum, das auf schlagende Weise den Unterschied zwischen der psychoanalytischen und der charakteranalytischen Arbeitsmethode zeigt, soll hier ein Zitat aus einer Abhandlung des führenden Psychoanalytikers Dr. S. Ferenczi folgen, der die Äusserung eines Patienten folgendermassen wiedergibt:

"Ich kann mich mit dieser Kur, wo man den Patienten allein lässt und seinen Einfällen nicht nachhilft, nicht befreunden. Die Analyse bohrt einfach in die Tiefe und hofft, dass das Verborgene, wie ein artesischer Brunnen, von selbst in die Höhe springen wird; wo aber der innere Druck so gering ist wie bei mir, müsste man mit einem Pumpwerk nachhelfen." (Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. II, S. 167).

Hieran knüpft Ferenczi folgende Bemerkung: "Zum Verständnis des Sexualsymbolischen in diesem Gleichnisse genügt die Angabe, dass es sich um einen Patienten mit ungewöhnlich starker Vaterfixierung handelte, der seine Gefühle auf den Arzt übertrug." Sicherlich gibt dieser Zusatz eine richtige Andeutung über den sexualsymbolischen Inhalt des vom Patienten gebrauchten Gleichnisses. Wir haben jedoch seinen Ausspruch hier hervorgehoben, weil er ausserdem eine charakteristische Empfindung bei psychoanalytisch behandelten Patienten wiedergibt, mit anderen Worten, wir wollen versuchen, den rationalen Inhalt des Gleichnisses zu betrachten.

Der Patient hat das Gefühl, dass "tief gebohrt" wird. Was er dabei findet, kommt nicht frei und natürlich, "springt nicht von selbst in die Höhe." Das ist die bekannte Empfindung davon, dass die psychischen Phänomene, die die Analyse aufdeckt, etwas Fremdes sind, etwas, was Überwindung kostet, um daran zu glauben: oft hat der Patient ausserdem die Empfindung, der Analytiker "suggeriere" ihm das psychische Material, indem er mit Deutungen und Forderungen nach Assoziationen "in ihn eindringt", ehe die abwehrenden Kräfte genügend durchanalysiert sind. Darum ist "der innere Druck so gering", dass man "mit einem Pumpwerk nachhelfen" muss, wozu dann in der Regel die manifeste positive Übertragung benützt wird.

Charakteranalytisch würde man nicht die Sexualsymbolik in einem solchen Gleichnis deuten; man würde vor allem auf sein Verhältnis zur vorliegenden analytischen Situation einzugehen versuchen; man könnte evtl. bei dem Bild bleiben und dem Patienten mitteilen, man wolle nicht versuchen, Löcher in dieTiefe zu bohren -- weil die Gefahr dabei entstehe, dass die Erde wieder zusammenstürze und den Brunnen zuschütte. Man würde stattdessen mit der obersten psychischen Schicht arbeiten und sich vorsichtig "waagrecht" bis zu der Oberfläche des bis jetzt Verborgenen niedergraben, so dass dieses widerstandsfrei an den Tag kommt.

Die Ursache dafür, dass die Charakteranalyse nicht versucht, in die Tiefe zu bohren, ist -- grob gesehen -- die folgende: Die psychische Energie ist gebunden in den Konflikten oberflächlicherer Schichten, des sogenannten Panzers. Diese aktuellen Konflikte holen ihre Energie aus tiefer liegenden Schichten. Durch allmähliche Auflösung der Konflikte an der jeweiligen Oberfläche wird die Schichtenlage immer dünner und dünner (die Widerstände werden abgebaut). Andererseits strömt bei dieser Gelegenheit vorher gebundene Energie in die Tiefe und verstärkt dort den Druck. Der sogenannte Durchbruch der vegetativen Energie aus der Tiefe vollzieht sich nach dieser Arbeit in einem bestimmten Augenblick ohne besondere Mühe. Um zum Bild des Patienten zurückzukehren: das Hervorströmen des Materials erfolgt jetzt von selbst -- aber mit der vollen Energie, die den Widerständen entzogen wurde. Sie erfolgt spontan, ohne dass der Patient das Gefühl dabei hat, man müsse einen Brunnen in ihn hineinbohren, ein Pumpwerk einrichten oder Suggestion benützen, um das Material aus der Tiefe hervorzubekommen.

* * *

Bei den Diskussionen über die Funktion des Orgasmus wird oft geglaubt, dass der sexualökonomische Begriff "orgastische Potenz" ohne weiteres identisch sei mit dem "genitalen Primat" der Psychoanalyse, und dass schon Freud die prinzipielle Scheidung von Genitalität und Fortpflanzungstrieb vorgenommen hätte

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Freud hat die Rolle der Sexualität in der Ätiologie der Neurosen und den Einfluss der Libidostauung auf die psychische Symptombildung nachgewiesen. Doch wurde erst durch Reichs Forschungen die Bedeutung des Orgasmus für den seelischen Haushalt mit seiner somatischen Basis konkret erfasst. Es handelt sich dabei um eine primitive Lebensfunktion, woran das Fortpflanzungselement als Nebenfunktion geknüpft ist. Bei Freud ist die Genitalität noch überaus häufig dem Begriff der Fortpflanzung gleichgesetzt. Hierzu ein paar Zitate aus den Schriften von Freud:

" ...es (ist) der gemeinsame Charakter aller Perversionen, dass sie das Fortpflanzungsziel aufgegeben haben. In dem Fall heissen wir eine Sexualbetätigung eben pervers, wenn sie auf das Fortpflanzungsziel verzichtet hat und die Lustgewinnung als davon unabhängiges Ziel verfolgt. Sie verstehen also, der Bruch und Wendepunkt in der Entwicklung des Sexuallebens liegt in der Unterordnung desselben unter die Absichten der Fortpflanzung. Alles, was vor dieser Wendung vorfällt, ebenso alles, was sich ihr entzogen hat, was allein dem Lustgewinn dient, wird mit dem nicht ehrenvollen Namen des 'Perversen' belegt und als solches geächtet." (Ges. Schriften, Bd. VII, S. 327).

"Die Norm ergab sich aus der Verdrängung gewisser Partial-Triebe und Komponenten der infantilen Anlagen und der Unterordnung der übrigen unter das Primat der Genitalzonen im Dienste der Fortpflanzungsfunktion." (Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität usf., Ges. Schriften, Bd. V, S. 130 f.)

Im Gegensatz dazu hat die Sexualökonomie festgestellt, dass die Funktion des Orgasmus darin besteht, unter höchstmöglichem Lustgefühl die psychophysische Entspannung zu erreichen, die die Kernfrage der Ordnung des vegetativen Energiehaushalts ist.

Die Bedeutung des Orgasmus liegt, sexualökonomisch gesehen, nicht darin, dass mit der orgastischen Entladung die Fortpflanzungsfunktion verknüpft sein kann, sondern darin, dass nur die orgastische Funktion imstande ist, die Stauung abzubauen, die das neurotische Symptom mit Energie versorgt, während die prägenitale "Befriedigung" nur mehr Stauung aufbauen kann als abführen. So reguliert die psychophysische (Lust)funktion des Orgasmus den psychischen Haushalt. Dass dabei das Fortpflanzungsziel in den Hintergrund tritt, ist von einem sexualökonomischen Gesichtspunkt aus klar, selbst wenn man damit riskiert, in Widerspruch zur heute geltenden Moralauffassung zu kommen. Vergl. auch Freuds Äusserung über Sexualentwicklung und Fortpflanzungsfunktion in «Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität», Ges. Schriften, Bd. V, S. 151:

"Weitere Ausblicke eröffnen sich, wenn wir die Tatsache in Betracht ziehen, dass der Sexualtrieb des Menschen ursprünglich gar nicht den Zwecken der Fortpflanzung dient, sondern bestimmte Arten der Lustgewinnung zum Ziele hat. Er äussert sich so in der Kindheit des Menschen, wo er sein Ziel der Lustgewinnung nicht nur an den Genitalien, sondern auch an anderen Körperstellen (erogenen Zonen) erreicht und darum von anderen als diesen bequemen Objekten absehen darf. Wir heissen dieses Stadium das des Autoerotismus und weisen der Erziehung die Aufgabe es einzuschränken zu, weil das Verweilen bei demselben den Sexualtrieb für später unbeherrschbar und unverwertbar machen würde. Die Entwicklung des Sexualtriebes geht dann vom Autoerotismus zur Objektliebe und von der Autonomie der erogenen Zonen zur Unterordnung derselben unter das Primat der in den Dienst der Fortpflanzung gestellten Genitalien. Während dieser Entwicklung wird ein Anteil der vom eigenen Körper gelieferten Sexualerregung als unbrauchbar für die Fortpflanzungsfunktion gehemmt und im günstigen Falle der Sublimierung zugeführt. Die für die Kulturarbeit verwertbaren Kräfte werden so zum grossen Teile durch die Unterdrückung der sogenannt perversen Anteile der Sexualerregung gewonnen."

Hier hat Freud die Selbständigkeit der Lustfunktion bei den prägenitalen Trieben festgestellt. Aber auch hier wird beim Erwachsenen die Genitalität der Fortpflanzung untergeordnet.

Um Missverständnisse zu vermeiden, soll nur hinzugefügt werden, dass Freud in «Neue Folge der Vorlesungen ... » die fünf Jahre nach [Reichs] «Funktion des Orgasmus» erschien, seine Auffassung über diesen zentralen Punkt nicht

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verändert hat; die orgastische Funktion ist vielmehr überhaupt nicht erwähnt. Derart bleibt in der Psychoanalyse die Frage ungelöst, woher die neurotischen Mechanismen ihre Energie beziehen.


ZPPS, Band 2 (1935), Heft 2 (6), S. 138-139

Besprechung:
Sándor Radó: Der Kastrationskomplex des Weibes
Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1934

Radó gibt -- leider ohne auf viele Fragen der bisherigen Diskussion über das Thema einzugehen -- eine klinische Systematik des weiblichen Kastrationskom-

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plexes, der er folgende theoretische Konstruktion zu Grunde legt: Zuerst kam das Erlebnis des anatomischen Geschlechtsunterschiedes; die Entdeckung, durch den Nichtbesitz des Penis benachteiligt zu sein, führt zur Einstellung der bisher geübten Klitorisonanie; der Schmerz darüber wird aber zugleich als Lust erlebt, und zwar als genitalmasochistische Lust; die Schmerzlust muss aber nun durch Phantasieren eines Wunschpenis abgewehrt werden; die Angst vor dem Verlust dieses Wunschpenis (Kastrationsangst) ist im Ich Signal der genitalmasochistischen Triebgefahr. -- Der Genitalmasochismus treibt nach Radó in der Folge die Frau nicht nur zum krankhaften Erröten, Nägelbeissen etc., sondern auch in die Prostitution; ja er ist Ursache jeder Angst. Dies widerspricht so sehr unserer klinischen Erfahrung, dass wir versuchen müssen, auch für die Entstehung des weiblichen Kastrationskomplexes eine andere Erklärung zu finden, wobei wir uns der Ergebnisse der Reich'schen Masochismusanalyse bedienen (vgl. «Charakteranalyse», S. 234 ff). -- Mit Recht hat Radó festgestellt, dass die Penisentdeckung nicht in allen Fällen, sondern nur im Zustand genitaler Erregung traumatisch wirkt: Doch wir meinen, dass es sich hier nicht wie Radó meint, um genitale Erregung überhaupt, sondern um durch Onanieverbot gehemmte genitale Erregung handeln muss. Diese treibt das Mädchen in die masochistische Haltung: "Da ich mich nicht selbst von der unlustvoll gewordenen Spannung befreien kann, komm Du und erlöse mich" (z. B. durch Stechen, Schlagen). In der Folge wird die Vorstellung der lustvollen Spannungsbefreiung verdrängt, es sieht aus, als wäre unlustvolle Spannungssteigerung und Schmerz intendiert. Entdeckt nun das Mädchen den Penis, so muss sie den Jungen um sein scheinbar vollkommeneres Lustorgan beneiden, seinen Nichtbesitz als Strafe -- etwa für Übertretung des Onanieverbots -- empfinden. In der Folge werden diese Vorstellungen zusammen mit Erlebnissen verdichtet, die der sozialen Zurücksetzung der Frau in unserer Gesellschaft entstammen ("der Vater und der Bruder darf, die Mutter und ich dürfen nicht"); sie erhalten so immer neue Besetzungen, es kommt zu Fehlidentifizierungen etc. Die konsequente Berücksichtigung der wirklichen Situation in der Entwicklung der weiblichen Sexualität führt, wenn man die charakteranalytische Technik anwendet, zu anderen theoretischen Konsequenzen. Während nach Radó die Einschränkung der weiblichen genitalen Sexualität einen Schmerz erzeugt, der als Lust erlebt werde und zwar als genital-masochistische Lust, stellt sich uns dieser Tatbestand umgekehrt dar: Die Einschränkung der genitalen Lustbefriedigung erzeugt zwar wirklich psychischen Schmerz und physische Unlust, aber es ist nicht so, dass diese Unlust und dieser Schmerz als Lust erlebt werden, sondern umgekehrt: der lustvolle Vorgang selbst wird schmerzvoll bzw. unlustvoll erlebt. Folge der genitalen Versagung ist also nicht, wie die gesamte psychoanalytische Theorie über den Masochismus behauptet, die "Schmerzlust", sondern umgekehrt: Angst vor der lustvollen Erregung, also "Lustangst".

Mo.


ZPPS, Band 2 (1935), Heft 2 (6), S. 139-140

Besprechung:
Otto Fenichel: Zur Theorie der psychoanalytischen Technik
Intern. Zeitschrift für Psychoanalyse, Jg. 1935, Heft 1

Aus dieser Arbeit, die viel Unverständnis für die Probleme der charakteranalytischen Theorie der Therapie und Technik verrät, sei nur ein Satz hervorgehoben:

"Die dynamische Auffassung der Deutung -- wir haben Widerstände aufzusuchen und aufzudecken, damit das Verdrängte sich meldet -- ist dann noch in ökonomischer Hinsicht zu ergänzen: Wir haben den ökonomisch wichtigsten und stärksten Widerstand anzugreifen, um die Libido wirklich in ökonomisch ausschlaggebender Weise zu befreien, so dass, was bisher in Verdrängungskämpfen gebunden war, zur realen Befriedigung zur Verfügung stehe. Die verdrängt gewesenen infantil-sexuellen Regungen finden dann Anschluss an das Ich und wandeln sich damit zum grösseren Teil in urgasmusfähige Genitalität, bzw. werden zum anderen Teil sublimierungsfähig. ... 'Theorie der Technik' ist Konsequenz dieser Sätze und nichts sonst. ... Es ist das Verdienst Reichs, vor solchem Vorgehen (nämlich sich planlos von der Unsystematik in der Analyse treiben zu lassen) besonders gewarnt zu haben. Die von ihm stammenden Vorschläge zur Reform der Technik leiten sich zum grossen Teil aus einem Ernstnehmen der ökonomischen Auffassung, der Einsicht, dass es gelte, im Befreiungskampf gebundene Energie zu befreien, verdrängte infantile Sexualität durch

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Aufhebung der Verdrängung in erwachsene und orgasmusfähige Sexualität zu verwandeln."

Wir bitten Fenichel, den einseitig ausgezeichneten Kenner der psychoanalytischenLiteratur, uns die Frage zu beantworten, an welcher Stelle dieser Literatur von der "Herstellung orgasmusfähiger Genitalität" vor den Reich'schen Arbeiten seit dem Jahre 1923 die Rede war, und wo sich, ausser in den Arbeiten von Reich, der ökonomische und strukturelle Gesichtspunkt in der Technik dargelegt findet. Vor der Reich'schen Orgasmustheorie gab es in der psychoanalytischen Literatur keinen wie immer gearteten Gesichtspunkt, der die orgastische Betriedigungsfähigkeit als wesentlichstes Ziel der analytischen Therapie auffasste. Das Wesen der Orgasmusfähigkeit musste erst entdeckt werden, ehe eine sexualökonomische Theorie der Therapie erarbeitet werden konnte.

M.


ZPPS, Band 2 (1935), Heft 2 (6), S. 140-141

Besprechung:
Rudolf Allers: Sexualpädagogik
Salzburg / Leipzig: Verlag Anton Pustet 1934

Man würde nicht viel Gewicht auf eine "Sexualpädagogik" wie diese legen, die mehr den Schreibtisch als die Wirklichkeit zur Erfahrungsbasis zu haben scheint -- stünde nicht die Macht der katholischen Kirche hinter ihr. Wirklich wissenschaftlichen Wert hat sie nur für den, der einen Beweis dafür wünscht, dass die "Sexualpolitik" der katholischen Kirche nur verteidigt werden kann, wenn man konsequent von der konkreten Wirklichkeit absieht. Der Verfasser, dessen "Objektivität" von Walter Roner in Heft 1/1935 dieser Zeitschrift behandelt wurde, bekennt sich in diesem Buch zur Tendenzwissenschaft. Vgl. z.B. im Schlussabschnitt:

"Schon die Rede von einer 'voraussetzungslosen' Wissenschaft meint Unmögliches; die sie im Munde führen, haben der Voraussetzungen genug, obwohl sie derer nicht gewahr werden, und noch einige Vorurteile darüber hinaus. Ganz widersinnig ist es, eine solche Forderung an eine angewandte Wissenschaft oder irgendeine Praxis zu stellen. Denn eine solche muss notwendig von bestimmten Anschauungen über ihre Ziele oder Zwecke und über deren Erreichbarkeit, sohin über die Beschaffenheit der Seienden, die so zu gestalten sind, ausgehen." (S. 267)

Das Ziel der Erziehung wird so ausgedrückt: "Erziehung hat dem Menschen dazu zu verhelfen, das zu sein, was, und so zu sein, wie er sein soll." (S. 268) Er ist vollkommen klar über die sexualpolitische Rolle der katholischen Kirche:

"Die 'sexuelle' Frage ist zu einem Feld geworden, auf dem der Kampf verschiedener Auffassungen vom Menschen, vom Leben, von Sittlichkeit überhaupt ausgetragen werden soll. -- Die aussererziehlichen Interessen, die bei derartigen Erörterungen am Werke sind, werden schlaglichtartig beleuchtet, zum Beispiel durch eine Bemerkung, die einem jüngst erschienenen Buche eines psychoanalytischen Autors entnommen ist, welches von den 'zerstörenden Absichten einer Gesellschaft, die an Privateigentum glaubt und an der Unterdrückung des Geschlechtslebens interessiert ist', spricht. Es ist der Mühe wert, hervorzuheben, dass derselbe Verfasser (W. Reich, in einem Buche über Charakteranalyse, S. 277) ausdrücklich sagt, Freud habe als erster, obzwar unbewusst, den Grund zu einer materialistischen und dialektischen Psychologie gelegt. Wir haben von jeher behauptet, dass Psychoanalyse ihrem Wesen nach reiner Materialismus sei und dass ihr System ohne Voraussetzung einer streng materialistischen Grundauffassung gar nicht bestehen könne. Diese unsere Meinung wird von einem 'orthodoxen' Anhänger dieser Schule eindeutig bestätigt. Zwischen der Psychoanalyse und jeder nicht materialistischen Philosophie ist eine schlechthin unüberbrückbare Kluft aufgerissen; wer immer daran glaubt, dass die Welt mehr sei als ein Konglomerat von materialen Elementen, kann auch nicht einen einzigen der psychoanalytischen Lehrsätze annehmen. Wollen wir unsere Kinder weiterhin in christlichem Geiste erziehen, so müssen wir uns von den Meinungen der Psychoanalyse vollkommen fernhalten. Ein Kompromiss zwischen irgendeiner spiritualistischen Weltanschauung und der Psychoanalyse ist wesentlich ausgeschlossen; nur derjenige kann an eine solche Möglichkeit glauben, der weder das Wesen der einen noch den eigentlichen Sinn der anderen verstanden hat."

Und dieser religiöse "Wissenschaftler" hat nicht einmal ganz Unrecht... Allers steht also auf dem Standpunkt der politisch bewussten Wissenschaft;

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das tun wir auch. Doch wir möchten mit Allers nicht verwechselt werden. Während er nämlich das Sollen, also das Ziel der Erziehung von einer abstrakten überirdischen Wertwelt an das Sein heranträgt und dadurch das Sein verschleiert, während der bürgerliche Liberalismus eine Aussage über die Konsequenzen wissenschaftlicher Feststellungen überhaupt ablehnt, weil er diese Konsequenzen fürchtet, stehen wir auf dem Standpunkt, dass das Ziel der Erziehung eindeutig aus den wissenschaftlichen Feststellungen abgeleitet zu werden hat, die sich bei der Untersuchung menschlichen Leidens und seelischer Krankheiten ergeben. Wir möchten noch ausdrücklich darauf aufmerksam machen, dass Allers nach Art aller Reaktionäre und bewusst oder unbewusst schwindelnden Wissenschaftler den dialektischen Materialismus umfälscht ("Konglomerat von materialen Elementen"). Die Wirklichkeit und ihr Prozess ist nicht nur eine Anhäufung von materiellen Gegebenheiten, sondern etwas ganz anderes. Das kann hier nicht ausgeführt werden. Wir müssen unbedingt lernen, derartige Wissenschaftler wie Allers zu begreifen. Erst dann wird sich uns die volle Berechtigung unserer Behauptung bestätigen, dass der Kampf der Weltanschauungen in seinem Kern ein Kampf um die Formen des sexuellen Seins ist, und dass die Kirche die sexualpolitische Organisation der politischen Reaktion darstellt.

J. N.


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