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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 1, Heft 3-4 (1934)

 Band 1, Heft 3/4 (1934) 
169 Wilhelm Reich: Róheims »Psychoanalyse primitiver Kulturen«
196 O. Hansen: Ein Kinderschicksal
207 Wilhelm Reich: Die vegetative Urform des Libido-Angst-Gegensatzes
226 E[rnst] Parell [Wilhelm Reich]: Was ist Klassenbewusstsein? (Teil 3 und Schluss)
256 Karl Teschitz [Karl von Motesiczky]: Zur Kritik der kommunistischen Politik (ein Nachtrag)
259 Zur Geschichte der Sex-Pol-Bewegung
269 Sex-Pol-Praxis ( [...] Zur Homosexualität in der SA [...] )
273 "Der Führer will das nicht."
274 Grundsätze zur Diskussion über die Neuformierung der Arbeiterbewegung
278 Erlebnisse und Beobachtungen
279 Wo liegt die gesellschaftliche Bedeutung der Angstpsychologie ?
281 Julius Epstein: Marx, Peuchet und die Psychoanalyse / Zitate von Lenin, Engels
284 Anfragen: aus England (Betr. Sexualmoral), Deutschland, Tschechoslowakei
289 W[ilhelm] Reich: Einige Gedanken über freundschaftliche Kritik oder »Der Stein von Eslöv«
291 Besprechungen:
R. et Y. Allendy: Capitalisme et Sexualité (K.M.)
Otto Strasser: 30. Juni. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen / Sozialistische Revolution oder faschistischer Krieg? / Der Marxismus ist tot - Der Sozialismus lebt (Bw.)
Adolf Sturmthal: Das amerikanische Experiment (P.S.)
Cassie und Heinz Michaelis, W.O. Somin: Die braune Kultur (Bw.)
Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente (Bw.)
Das III. Reich in der Karikatur (Ro.)
Ilja Ehrenburg: Bürgerkrieg in Österreich (Bw.)
F.C. Weiskopf: Die Stärkeren (Bw.)
Bruno Frei: Hanussen (Pi.)
Joachim von Kürenberg: 14 Jahre - 14 Köpfe (Pi.)
Zeitschrift »Westland« (P.S.)
299 Redaktionelle Bemerkungen

Zur Gesamtübersicht ZPPS
ZPPS, Band 1 (1934), Heft 3-4, S. 269-272

Sex-Pol-Praxis

269

Zum Arbeitsdienstflugblatt aus »Massenpsychologie des Faschismus«, S. 261f

270

[ ... ]

Arbeitsdienst und Sexualproblem

271

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Wie sollen wir zur Frage der Homosexualität in der SA Stellung nehmen

Anmerkung: Dieser Artikel erschien ohne Namensnennung des Autors. Laut "Bibliography on Orgonomy" (Orgone Institute Press, Rangeley/Maine/USA 1953; zugleich Heft 3/4 von Jahrgang 5 des "Orgone Energy Bulletin"), p. 25, war Wilhelm Reich der Autor der Texte der Seiten 269-272, somit auch dieses Beitrags.

Die Nazis haben das Blutbad vom 30. Juli propagandistisch u.a. so gerechtfertigt: Es war endlich notwendig, gegen die Schweinerei und die unnatürliche Unzucht einzuschreiten, die sich in den höchsten Spitzen der SA breit gemacht hat. Der Nationalsozialismus, der stets für die sittliche Ertüchtigung des deutschen Volkes kämpft, konnte einen solchen Schandfleck in seinen Reihen nicht länger dulden. -- Hitler ist in seiner Rede sogar so weit gegangen, Röhms staatspolitische Pläne dadurch zu diffamieren, dass er sie als im wesentlichen aus der unnatürlichen Veranlagung Röhms erklärte.

Unsere Presse hatte dieser Propaganda bisher im wesentlichen keine klare Analyse gegenüberzustellen. Sie konnte zwar zeigen (und das mit Recht), dass die Röhmrevolte in der Unzufriedenheit der Naziproleten mit ihrer Verelendung eine Massenbasis hatte und dass nicht der Spleen einiger Führer dabei entscheidend war. Aber die Homosexualität prangerte sie mit fast denselben Worten wie die Nazis an, warf Hitler höchstens insofern Unehrlichkeit vor, als er über die Veranlagung seines Stabschefs nicht erst seit dem 30. Juni sondern seit Jahr und Tag informiert war, ohne eingeschritten zu sein.

Wir meinen aber, dass diese Stellungsnahme angesichts einer das Leben der Massen so sehr berührenden Frage, wie die Homosexualität in der SA, ungenügend ist, dass wir gerade diesen Anlass benützen können, um die ideologische Propaganda der Nazis noch viel gründlicher zu zersetzen und in ihrer Heuchelei zu entlarven.

Die Nazis spielen sich bei dieser Gelegenheit als Hüter der Sittlichkeit, als Propagandisten eines gesunden Verhältnisses zwischen den Geschlechtern auf ? -- Sie selbst sind es doch, die durch den Aufbau der SA in dieser Truppe die Homosexualität geradezu erzeugten und züchteten. Die strenge Disziplin und Unterordnung unter den "Führer", die Verherrlichung der unbedingten Treue und Hingabe an ihn, musste die unbewussten Neigungen zur Homosexualität, die viele bürgerlich erzogene Jungens in der Pubertät und Nachpubertät haben, aktivieren. Normalerweise macht diese Zeit der schwärmerischen Jungensfreundschaften bald einer Hinneigung zu einem Mädel Platz. Wird dies aber durch ständigen Bereitschaftdienst, Exerzieren etc. schon rein zeitlich erschwert, werden die Jungens durch eine Keuschheitsideologie, durch die Betonung des Werts der "Kameradschaft" auch ideologisch

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verbaut -- kein Wunder, wenn dann ihr natürlicher Trieb mangels eines gesunden Auswegs die verkehrte Richtung einschlägt. Kein Wunder, wenn Menschen, die schon von vornherein homosexuell veranlagt sind, eine Institution wie die SA ausnützen, um zu Führerstellungen zu gelangen und diese dann im Sinne ihrer Neigungen missbrauchen.

Denn Missbrauch ist es, wenn Menschen mit der Möglichkeit einer gesunden Entwicklung künstlich in die Homosexualität hineingedrängt werden. Sogar von schon verheirateten Ehemännern wird erzählt, dass sich ihre Frauen über eine ungünstige Beeinflussung der Männer beklagen.

Mit heuchlerischem Geschick wurde darum auch der SA-Urlaub damit begründet, man wolle die Männer wieder auf eine Zeit lang ihren Frauen wiedergeben. Ob die so homosexuell und sadistisch umgebauten Männer für die Ehe noch sehr brauchbar sein werden ?

Wenn wir hier gegen die Homosexualität auftreten, tun wir es aber nicht, wie manche Kommunisten, aus moralischer Entrüstung; wir Marxisten sind überhaupt nicht "moralisch". Sondern wir sind gegen die Homosexualität, weil 1) der homosexuelle Verkehr niemals so befriedigt und beglückt, wie der heterosexuelle; 2) der Homosexuelle, wenn er aus seinem "Männerbund" draussen ist, in der heutigen Gesellschaft ausserordentlich benachteiligt ist; und 3), weil die Homosexualität eine ausserordentlich starke psychische Verankerung der faschistischen Ideologie darstellt.

Die Homosexuellen selbst dürfen wir -- besonders wenn sie nicht an andern Schaden stiften -- nicht, wie die Bourgeois, moralisch verurteilen. Viele leiden schwer unter ihrer Störung. Moralschnüffelei und moralisches Muckertum ist ihnen gegenüber gänzlich unangebracht. Die meisten verdanken ihre Perversion nicht einer natürlichen Veranlagung, sondern der sexualunterdrückenden bürgerlichen Erziehung. Erst eine kommunistische Gesellschaft, die auch die Sexualunterdrückung abschaffen wird, wird auch die Zahl der Perversen, Sexualverbrecher etc. zum Verschwinden bringen (und nicht die heuchlerischen Nazis mit ihrem Sterilisationsgesetz).

Doch diese Zusammenhänge dürfen wir nicht für uns behalten. Wir müssen sie an die unter ihrer sexuellen Not leidenden Jungen in den faschistischen Verbänden herantragen -- als eine Unterstützung unserer an die ökonomische und politische Unterdrückung anknüpfenden Propaganda.

Nachbemerkung: Dieser Artikel will zeigen, wie etwa in einer illegalen Zeitung in allgemeinverständlicher Weise zu einem aktuellen Ereignis sexualpolitisch Stellung genommen werden könnte. Er wurde kurz nach dem 30. Juni an den Herausgeber einer solchen Zeitung weitergeleitet.


ZPPS, Band 1 (1934), Heft 3-4, S. 279-280

Wo liegt die gesellschaftliche Bedeutung der Angstpsychologie ?

Die Leser dieser Zeitschrift äussern immer wieder ihr Erstaunen darüber, dass wir uns nicht auf unser Fachgebiet beschränken und in einem Rahmen politische Fragen zusammen mit streng fachwissenschaftlichen erörtern. Dieses Erstaunen zeigen auch revolutionäre Sozialisten. Wir haben in der Einführung dieser Zeitschrift angekündigt, dass wir zwar die bürgerliche Forschung im strengsten Sinne fortführen, aber gleichzeitig auch mit dem akademischen Ton und der akademischen Weltabgewandtheit brechen wollen. Das genannte Staunen der Sozialisten beweist, dass die Ideologie unserer Gesellschaft trefflich verstanden hat, sich in den Reihen der Antikapitalisten einzunisten, sonst würden nicht sogar Sozialisten uns mahnen, uns auf Fachliches zu beschränken, würden sie aus eigenem uns auffordern, die Verbindungswege der Wissenschaft zur Politik zu zeigen. Ganz bestimmt wirkt eine Untersuchung wie die über den Urgegensatz des vegetativen Lebens in einer politisch-psychologischen Zeitschrift und in einer Zeit, in der die ganze Welt verrückt geworden zu sein scheint, erstens unzeitgemäss, zweitens eigenbrötlerisch und drittens an den Haaren herbeigezogen. Wir wollen, wie wir es schon anlässlich der Untersuchung der elektrophysiologischen Natur des Orgasmus taten, versuchen, kurz die Zusammenhänge zur Politik zu zeigen. Voraussetzung des Verständnisses bleibt, dass man sich vom üblichen Begriff der "Politik" als einer Geheimwissenschaft von Diplomaten freimacht und darunter das versteht, was man als Sozialist allein daraus zu machen hat: Die wissenschaftlich fundierte Praxis der gesellschaftlichen Ordnung.

Tragen wir zunächst einige scheinbar nicht zusammengehörige, bereits festgestellte Tatsachen zusammen:

1) Die Religion und Mystik ist vielleicht die mächtigste Machtstütze des Kapitals, das die menschliche Arbeitskraft ausbeutet und die Bewohner dieser Erde in Sklaverei hält. Schlussfolgerung: Religion und Mystik müssen ausgerottet werden.

2) Religion und Mystik halten sich seit Jahrtausenden trotz klarster wissenschaftlicher Widerlegung. Schlussfolgerung: Es muss erstens etwas in der Art und Weise, wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse gehandhabt werden, nicht in Ordnung sein; es muss zweitens die Erkenntnis von der Macht der Religion und Mystik selbst unvollständig geblieben sein.

3) Die Achse der Religion und der Mystik ist unzweifelhaft ihr antisexueller Gehalt. In der Psychoanalyse von Individuen zerfällt die Mystik und Religiosität in dem Masse, in dem sie das klare Bewusstsein von ihren sexuellen Notwendigkeiten erlangen. Schlussfolgerung: Die Sexualbejahung und Befriedigung ist das wirksamste Gegengift gegen die Religion und Mystik.

4) Die bürgerliche Wissenschaft zeigt eine merkwürdige Scheu, sich mit der Sexualfrage naturwissenschaftlich korrekt auseinanderzusetzen. Schlussfolgerung: Sexualität muss etwas mit der ganzen Frage zu tun haben.

5) Zwischen Angst und Religion gibt es bestimmte Beziehungen; zwischen Angst und Sexualität ebenfalls. Religion scheint vor allem die zu Ideologie gewordene neurotische Angst zu sein; neurotische Angst wird abgebaut, wenn die sexuelle Stauung infolge Unbefriedigtheit behoben wird. Schlussfolgerung: Die Beziehung von Religiosität und Sexualunterdrückung ist keine unmittelbare, als wichtigstes Zwischenglied wirkt die neurotische Angst, die die Kinder anlässlich der Unterdrückung ihres natürlichen Geschlechtslebens erfahren; die scheinbare Unausrottbarkeit der Religiosität weist auf die Tiefe ihrer Verwurzelung hin.

6) Die Menschen halten an ihrer Religiosität so inbrünstig fest, wie sonst nur sexuelle Triebhaftigkeit dies zuwegebringt; die Religion negiert die Sexualität und bedient sich gleichzeitig zentral dieser negierten Sexualität, um sich zu halten und in den Menschen zu reproduzieren. Schlussfolgerung: Alle Wege, die von der Religion zur Sexualität führen, werden von den bürgerlichen Forschern gemieden, um nicht mit der bürgerlichen Gesellschaft in Konflikt zu geraten.

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7) Der Kampf gegen die Religion kommt mit Verstandesargumenten lange nicht gegen den gefühlsmüssigen Gehalt der Religiosität auf. Schlussfolgerung: Um die Religion und alles, was mit ihr zusammenhängt, wirksam zu bekämpfen, muss man die Menschen umstrukturieren; wenn Religiosität verkehrte Sexualität ist, dann bedeutet Wiederherstellung der natürlichen Geschlechtlichkeit das Ende der Religiosität.

8) Die Umstrukturierung des Menschen erfordert genaue Kenntnis nicht nur seiner psychischen, sondern auch seiner physiologischen Apparatur. Schlussfolgerung: Sexualität und Angst sind Urfunktionen des Lebendigen; sie müssen zu allererst verstanden werden, wenn man die Religion nicht stümperhaft, sondern naturwissenschaftlich korrekt ausrotten will, wie man die Pest nur durch genaueste Erforschung des Pestbazillus, seiner biologischen und sonstigen Natur, auszurotten vermochte.

Aus diesen Gründen ist schon jetzt die "unzeitgermässe", "akademische", "weltabgewandte" Durchforschung der Gesetze des vegetativen Lebens des Menschen notwendig. Denn nur dann können wir hoffen, dass an die Stelle der Verbundenheit des Menschen mit "Gott" einmal seine Verbundenheit mit der eigenen und der ihn umgebenden Natur treten wird.


ZPPS, Band 1 (1934), Heft 3-4, S. 284-286

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[ ... ]

(4) Betreffend Sexualmoral

Da man im Kapitalismus und in der bürgerlichen Gesellschaft gewohnt ist, Regeln zu empfangen, die bei bewusster oder unbewusster Anerkennung zur "Moral" werden, verlangen viele Genossen, die mit Reichs Gedanken in Berührung kommen, "neue" Regeln. Oftmals kann man etwas nicht ausrotten, sondern höchstens ersetzen. Immer wieder kommt die Frage: Alles schön -- alles gut. Aber was sollen wir jetzt und heute tun ? -- Da ist unter anderm die wirtschaftliche Unselbständigkeit der Frau, die nicht arbeiten darf und wegen wirtschaftlicher Abhängigkeit auch nicht könnte. Das Zusammenbleibenmüssen der Kinder wegen. Die grössere, weil innere Unselbständigkeit der Frau, etc. etc., die uns oft zwingen, unhaltbare Verhältnisse hinzuschleppen.

Hierauf muss die Zeitschrift unbedingt einmal eingehn. Reich wäre dazu der einzig Berufene, denn es ist ja doch "seine" Bewegung. Ich sauge mir diese Bitte nicht aus meinen Daumen, sie ist ein praktisches Bedürfnis vieler Genossen.

[ ... ]

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Zu (4): Fragestellung wiederum vollkommen richtig. Was wir anstreben, ist die Ersetzung der moralischen durch die sexualökonomische Regelung des Geschlechtslebens. Was heisst das ? In der bürgerlichen Gesellschaft wird die natürliche Sexualität in dreifacher Weise unterdrückt: a) beim Kind durch das Onanieverbot, durch Verweigerung der Aufklärung u.s.w.; b) in der Pubertät durch Verbot des Geschlechtsverkehrs der Jugendlichen; c) all dies soll die Menschen psychologisch präparieren für die Einschränkung im erwachsenen Alter, die durch lebenslängliche und ausschliessliche Bindung an einen einzigen Partner in der Ehe geschieht, welche die Reaktion nicht mit Unrecht als Keimzelle des (bürgerlichen) Staates bezeichnet. Um aber alle diese Einschränkungen durchzuführen, bedarf es ihrer Verankerung in den Individuen selbst durch zunächst von aussen herangetragene Regeln und Vorschriften, die aber "verinnerlicht", d.h. ins eigene Bewusstsein aufgenommen werden, als wären sie ein Stück dieses Bewusstseins selbst: Das ist die Moral. Bei einer den natürlichen sexuellen Bedürfnissen entsprechenden Erziehung und Gesetzgebung in einer sozialistischen Gesellschaft wird die Moral wegfallen können. Brutalität und Rücksichtslosigkeit gegen die Frau z.B. werden von selbst verschwinden, da sie im wesentlichen in der gehemmten Sexualität begründet sind; gleiches gilt von der Eifersucht. Auf der andern Seite wird die Frau auch keines besondern Schutzes bedürfen, da ihr die Erziehung die psychologische, die Wirtschaft die ökonomische Selbständigkeit gewährleisten. Für die Kinder wird die Gesellschaft sorgen: Sexualökonomische Regelung.

Nun ist es allerdings selbstverständlich, dass der an den Empfang von Regeln gewöhnte Mensch der bürgerlichen Gesellschaft (und auch das Proletariat ist in ihr in dieser Hinsicht meist "ideologisch verseucht") Gefahr läuft, die Erkenntnisse der Sexualökonomie als moralische Regeln misszuverstehen. Z.B. er hört, das Geschlechtsleben sei von den bürgerlichen Hemmungen zu befreien. Und nun setzt er diesen Satz rücksichtslos und mechanisch in die Praxis um, lässt Frau und Kinder im Stich, löst seine Beziehungen zu Frauen, wann es ihm gerade passt, ohne zu fragen, ob die unbewusst vielleicht monogam eingestellte Frau nicht dadurch schwer geschädigt wird; dieses Verhalten entspricht der sogenannten "Glas-Wassertheorie" ("die sexuellen Bedürfnisse werden in der sozialistischen Gesellschaft so leicht zu befriedigen sein, wie der Durst durch ein Glas Wasser"). Doch diese Theorie ist falsch. Der Libertinismus ist bloss eine mechanische Umkehrung der bürgerlichen Gehemmtheit, nicht ihre dialektische Aufhebung. Diese "frei" tuenden Kommunisten sind in Wirklichkeit kaum weniger sexuell gestört als der streng monogame Kleinbürger. Schon die éVersachlichung" der Geschlechtsbeziehung deutet darauf hin -- beim sexuell gesunden Menschen sind Sinnlichkeit und Zärtlichkeit nicht getrennt. Zudem hat man seine Hemmungen noch lange nicht wirklich beseitigt, wenn man sich rein intellektuell über sie hinweg gesetzt hat. Das laute "frei" Tun ist oft nichts als eine Überkompensation einer versteckten Liebesunfähigkeit.

Wir müssen darum die "Glas-Wasser-Theorie" ablehnen: Weil sie das Leben der revolutionären Organisation zerstört; weil sie das Ansehen der revolutionären

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Bewegung innerhalb der Bevölkerung schädigt und endlich, weil sie überhaupt das Zeichen nicht einer gesunden, sondern einer gestörten Sexualität ist.

Was aber nun wirklich jetzt und heute tun ? -- Vor allem: Einsehen, dass die Frage in der heutigen Gesellschaft überhaupt nicht in befriedigender Weise gelöst werden kann; diese Einsicht muss zu einer Triebfeder mehr werden, auf ihren Sturz hinzuarbeiten. Dann: die Auffassungen der Sexualökonomie gründlich sich aneignen, ehe man eine Anwendung versucht; den Schwierigkeiten, die hier durch den Mangel einer populären Einführung gegeben sind, soll nächstens durch Herausgabe eines entsprechenden kleinen Buchs abgeholfen werden. Doch all das ist nur halbe Arbeit, wenn keine Organisation da ist, die die durch die sexualökonomischen Gedankengänge aufgeworfenen Probleme kollektiv bewältigt; die vor allem durch Einrichtung von Beratungsstellen dem Einzelnen bei der Lösung seiner persönlichen Schwierigkeiten hilft. Die Beratungsstellen müssen von wirklich fachlich geschulten Ärzten oder Pädagogen geleitet werden (d.h. diese müssen vor allem selbst eine Lehranalyse durchgemacht haben). Nur eine solche Organisation kann verhindern, dass das Interesse für Sexualfragen nicht in unfruchtbare, organisationsschädliche Grübelei und Diskutiererei ausartet, sondern dass die persönlichen Fragen jedes Einzelnen, soweit dies möglich ist, einer Lösung zugeführt, die frei werdenden Energien für die politische Arbeit fruchtbar gemacht werden. Beim Aufbau solcher Organisationen wird die Sex-Pol natürlich den Genossen, die sich an sie wenden, in jeder Weise Rat und Unterstützung angedeihen lassen. Gleichzeitig warnt sie aber auch vor "wilder" Sexualpolltik und -beratung. Ohne gründliche Schulung wird hier mehr zerstört als gefördert.


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