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ein paraphilosophisches Projekt
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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 5, Heft 1 (15) (1938)

 Band 5, Heft 1 (15) (1938) 
1 Lied der Jugend
4 Selbstverständlichkeiten
7 Wilhelm Reich: Die drei Grundelemente des religiösen Gefühls
13 Gunnar Leistikow: Wem nützt die Sexualmoral ?
24 Harry Prøll: Die Wirkung der Kriminalromane
36 Ola Raknes: Pädagogische Probleme der Pubertät
45 Irma Kessel: Eine Kämpferin für das Recht des Kindes [Montessori]
48 Irma Kessel: Die "Social Party of the Child"
54 Irma Kessel: Aus der pädagogischen Praxis
56 Meine Erlebnisse im Versuchskinderheim
66 Bericht einer norwegischen Mutter (Erwiderung)
70 Sexualpolitische Umschau [Dänemark, Island]
74 Besprechungen:
Almanach der Psychoanalyse (Th. Hartwig)
Willi Münzenberg: Propaganda als Waffe (C.T.)
Edgar Alexander: Der Mythus Hitler (M.)
Konrad Heiden: Europäisches Schicksal (T.)
Gerh[ard] Ockel: Gesundes Liebesleben (G.)

Zur Gesamtübersicht ZPPS
ZPPS, Band 5 (1938), Heft 1 (15), S. 13-23

Gunnar Leistikow:
Wem nützt die Sexualmoral ?


Der folgende Artikel erschien ursprünglich in der Zeitschrift der dänischen sexualpolitischen Organisation «Sex og Samfund». Wir drucken ihn ab, um ihn international zugänglich zu machen.
So sehr wir mit dem Inhalt und der sachlichen Darstellung einverstanden sind, müssen wir feststellen, dass die Antwort auf die grosse Frage der universellen Sexualunterdrückung der Menschheit im vorliegenden Artikel zu eng gefasst ist. Zwar ist richtig, dass letzten Endes einige wenige Kapitalisten enormen materiellen Vorteil aus der allgemeinen Sexualunterdrückung ziehen. Doch dies reicht als Motiv nicht aus, um eine so umfassende und Jahrtausende alte Erscheinung der menschlichen Gesellschaft zu erklären. Der Autor bringt nicht genügend zum Ausdruck, dass die Existenz von Privatkapitalisten selbst Folge und Ausdruck objektiver soziologischer Prozesse ist. Eine der Funktionen des Buches [von Reich] «Der Einbruch der Sexualmoral» war gerade die, nachzuweisen, in welcher Weise in der Vorzeit die ausbeuterische Privatwirtschaft sich aus komplizierten sexualökonomischen Vorgängen entwickelte. So wie die Sexualunterdrückung früher da war als die Moral, ging sie auch der Existenz der privaten Ausnützung fremder Arbeitskraft voraus.

Die Redaktion


Wem nützt die Sexualmoral ? Diese Frage wird wohl vielen unter meinen Lesern sonderbar vorkommen. Wir sind mit der Meinung aufgewachsen, dass die Moral etwas über jeden Nutzen und materiellen Vorteil Erhabenes sei, dass Pflichten und Forderungen an die Menschen ihren Inhalt ausmachten. Moralisch handeln soll man um der Sache selber willen, ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust oder persönliche oder andere Vorteile.

Indessen ist der Gedanke eines Nutzens der Moral gar nicht so absurd, wie er zunächst vielleicht erscheinen könnte. Nehmen wir ein Moralgebot wie "Du sollst nicht töten" oder "Du sollst nicht stehlen", so liegt seine Nützlichkeit durchaus klar zutage. Sie besteht in einer Rechtssicherheit, die der Menschheit allgemein zugute kommt. Nehmen wir gewisse moralische Gebote sexuellen Charakters, wie die Forderung, eine erwachsene Person dürfe nicht Kinder verführen oder gar vergewaltigen, so ist auch hier deutlich, für wen ein Nutzen daraus entspringt: für die Kinder, die gegen körperliche und seelische Schädigung beschützt werden sollen. Auch das be-

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kannte sechste Gebot -- "Du sollst nicht ehebrechen" -- verteidigt ein gewisses persönliches Interesse auf Seiten des betrogenen Ehegatten. Wem aber nützt eine der Hauptforderungen der bürgerlichen Sexualmoral: dass nämlich zwei erwachsene, selbstverantwortliche Menschen nicht ohne den Segen der Kirche oder des Standesamts miteinander zu Bett gehen dürfen ? Das ist nicht so leicht einzusehen -- gleichwohl aber muss es jemanden geben, für den solche Vorschriften einträglich sind. Sonst würden so scharfe Forderungen wie die des Verzichts auf die Befriedigung des stärksten von der Natur in den Menschen gelegten Triebes einfach nicht bestehen können.

Gewiss hat sich manches geändert

Hier wird man vielleicht einwenden, dass die Forderung geschlechtlicher Enthaltsamkeit in so unbedingter Form nicht mehr besteht, dass es unmodern geworden sei, sich daran zu halten. Es stimmt zweifellos, dass man in Grossstädten und vielfach auch auf dem Lande nicht mehr so viel Gewicht darauf legt wie vor zwei bis drei Generationen. Jedoch ein Moralgebot handelt nicht von dem, was geschieht, sondern von dem, was geschehen soll oder doch sollte. So ist es für die Gültigkeit einer moralischen Regel nicht wesentlich, ob sie praktisch befolgt wird, sondern ausschliesslich, ob sie nach Ansicht der Leute befolgt werden sollte. Und hier kann kaum eine Meinungsverschiedenheit bestehen: rechnet man nicht die jüngeren, sexuell begehrenden Menschen, sondern auch die älteren mit ein, die schlechtere Chancen für die Befriedigung ihres Triebes haben und daher "griesgrämig" geworden sind -- kurz, wenn man alle "alten Damen beiderlei Geschlechts", wie die Engländer sagen, mit berücksichtigt, so wird die überwiegende Mehrheit es verwerflich finden, ein mit den Triebansprüchen seines Körpers übereinstimmendes Geschlechtsleben zu führen. Es kommt für uns hier weniger darauf an, wo die Grenze gezogen wird: ob man jede geschlechtliche Beziehung ausserhalb der Ehe als unsittlich und unmoralisch ansieht, oder ob man festere, eheähnliche Verbindungen gutheisst. Die öffentliche Diskussion über die sexuelle Frage hat erwiesen, dass weitaus die meisten Leute losere Verbindungen unter anderm und sogar vorzugsweise aus moralischen Gründen verdammen. Jeder, der unsere Ärzteschaft ein wenig kennt, weiss auch, wie schwierig es z.B. für ein 17-18-jähriges Mädchen ist, von einem Arzt ein Pessar zu bekommen, obwohl sie ein geschlechtlich voll ausgereifter, erwachsener Mensch ist, und obwohl ihre Grossmutter vielleicht im gleichen Alter schon verheiratet war und ein von Kirche und Staat gesegnetes und öffentlich anerkanntes Geschlechtsleben führte.

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Enthaltsamkeit und Gesundheit

Wir stehen also der eigentümlichen Tatsache gegenüber, dass die herrschende Moral es verurteilt, wenn zwei erwachsene Menschen so handeln, wie ihre Natur es von ihnen verlangt -- ausser unter ganz besonderen Umständen. Die moderne Sexualwissenschaft zeigt, dass geschlechtliche Enthaltsamkeit nicht nur keinen erweislichen hygienischen Vorzug hat, sondern sogar bedeutende gesundheitliche Gefahren mit sich bringt. Auf jeden Fall kann also nicht behauptet werden, dass die Sexualmoral demjenigen nützt, an den sie sich wendet. So erhebt sich die Frage: "Wem nützt sie denn ? Irgend jemandem muss sie ja Vorteile einbringen, sonst wäre sie längst verschwunden.

Ein wenig Geschichte

Ehe wir diese Frage beantworten können, müssen wir uns diese Sexualmoral ein wenig genauer ansehen. Ist sie in den verschiedenen Ländern in den verschiedenen Zeiten und für die verschiedenen Klassen immer dieselbe gewesen ?

Bei einem flüchtigen Überblick finden wir da die grösste Mannigfaltigkeit. Vergleichen wir etwa den englischen Puritanismus mit der allgemeinen Leichtlebigkeit am französischen Königshof im 17. und 18. Jahrhundert, oder die ausserordentliche Sittenstrenge in Spanien unter den sogenannten katholischen Königen mit der gleichzeitigen Fessellosigkeit der Renaissance in ganz Italien, so sehen wir, dass die Gebote der Sexualmoral sehr ungleich gehandhabt wurden. Auch was man im einzelnen als moralisch oder unmoralisch betrachtete, war recht verschieden. Aber in all diesen Gesellschaften bestand eine lange Reihe gleicher oder paralleler Vorschriften in Bezug auf geschlechtliche Verhältnisse -- ja, diese Übereinstimmungen sind sogar weit grösser und weittragender als die Verschiedenheiten.

Monogamie

Worin bestehen nun diese Übereinstimmungen ? Vor allem wird die lebenslange Einehe zweier Menschen als die höchste, meist sogar als die einzige sittliche Form der sexuellen Gemeinschaft betrachtet. Dieser Gemeinschaft liegt überall eine wirtschaftliche Organisation zugrunde, die durch Arbeitsteilung zwischen den Eheleuten gekennzeichnet ist: der Frau liegt die häusliche Arbeit, dem Mann das Beschaffen des nötigen Geldes ob. Die politische Organisation der Familie, wenn ich mich so ausdrücken darf, ist eine Art Monarchie mit dem Mann als Oberhaupt. Es hängt nur von Zeit und Ort ab, ob diese Monarchie die Form absoluter Alleinherrschaft, unbedingter Diktatur annimmt oder ob die Frau ein grösseres oder geringeres Mitbestimmungsrecht besitzt und das Familienleben daher mehr konstitutionelle und parlamentarische Formen aufweist. ÜberaII, selbst in den demokratischsten Ländern, ist der Mann zumindest primus

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inter pares -- eine vollständige, ausnahmslose Gleichstellung der Frau findet sich nirgends. Dementsprechend herrscht auch überall eine Doppelmoral für Mann und Frau. Von beiden wird eheliche Treue und geschlechtliche Enthaltsamkeit bis zur Heirat gefordert -- aber eine Verletzung dieser Gebote wird bei der Frau viel schärfer beurteilt als beim Manne, und wo Strafbestimmungen bestehen, muss die Frau für ein solches Verschulden immer weit schwerer entgelten. Selbst in den Ländern und zu den Zeiten mit liberaleren Anschauungen über sexuelle Fragen und weniger strenger Beurteilung von Versündigungen gegen die Moral ist die eigentliche Sexualmoral doch immer die gleiche. Selbst im Italien der Renaissance oder am Hofe Ludwigs XVI, wo Jungfräulichkeit junger Mädchen eine Seltenheit war und wo eheliche Treue geradezu komisch anmutete, verlangte die Moral gleichwohl Enthaltsamkeit vor der Heirat und Unantastbarkeit der Ehe. Der Reiz der ständigen losen Verbindungen wurde nicht wenig gerade dadurch erhöht, dass es eben verbotene Früchte waren, die man naschte.

Diese Haupteigentümlichkeiten der Sexualmoral -- Forderung nach sexueller Enthaltsamkeit vor der Ehe und unbedingter ehelicher Treue, Unterdrückung und Unkenntnis des Sexuallebens der Kinder, doppelte Moral für Mann und Frau -- all das sind keine Besonderheiten der europäischen Kultur. Genau die gleichen Forderungen findet man auf der ganzen Welt, oft sogar in noch weit strengerer Form, wie z.B. bei den Mohammedanern und in Indien und China. Ja, man stösst auf sie sogar bei fast allen primitiven Völkern, selbst wenn die äusseren Formen äusserst verschieden sind.

Ist der Mensch von Natur monogam ?

Kann man daraus nun folgern, dass naturbestimmte Formen menschlichen Zusammenlebens vorliegen ? Viele ziehen diesen Schluss. Besonders konservativ und reaktionär eingestellte Menschen in allen Ländern halten dafür, dass die Frau von Natur ein dem Manne unterlegenes Wesen ist, dass es daher den Naturgegebenheiten entspricht, wenn er verfügt, und dass die als geringwertig betrachtete Hausarbeit Angelegenheit der dem Manne untertänigen Frau ist. In den gleichen Kreisen behauptet man auch, dass die Ehe -- soweit man sie nicht als göttlichen Ursprungs ansieht -- eine nicht von den Menschen errichtete, sondern eine naturbestimmte Institution sei. Zur Stützung dieser Theorie führt man an, dass nicht nur die Menschen, sondern auch verschiedene Tierarten paarweise zusammenleben.

Ist nun diese Auffassung stichhaltig ? Dazu wäre erforderlich, dass die genannten Übereinstimmungen in der Sexualmoral in den verschiedenen Ländern nicht nur meistenorts, sondern ohne jede Ausnahme überall zu finden wären. Ist das der Fall ?

Nein -- das ist nicht so. Es gibt Völker -- freilich nur einige

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wenige -- die eine Unterdrückung des Sexuallebens der Kinder und der unverheirateten jungen Menschen nicht kennen, bei denen das Verhältnis zwischen Mann und Frau ein ganz anderes ist, und die infolge dessen nicht unsere Sexualmoral kennen, sondern ganz andere Regeln für das geschlechtliche Miteinander haben. Und nicht nur sind ihnen unsere Sexualordnung und Moral unbekannt, sondern auch die Schattenseiten, die sie in allen Ländern ihrer Herrschaft ohne Ausnahme begleiten: Prostitution, Perversitäten und neurotische Erkrankungen.

Die Trobriander

Von den meisten Völkern dieser Art wissen wir bislang noch nicht besonders viel, weil die Forscher, die sie beobachtet haben, sich nicht für Sexualfragen interessierten und nur äusserst unvollständige und oft wissenschaftlich unhaltbare Vorstellungen über das Geschlechtsleben der betreffenden Stämme mitbrachten. Wiederum aber haben wir über die Sexualverhältnisse eines dieser Völker sehr reiche und ausserordentlich interessante Aufschlüsse, weil ein polnischer Forscher, Bronislaw Malinowski, der Professor in London ist, sich jahrelang inmitten dieses Volkes aufgehalten und eine Reihe Bücher über sein Sexualleben geschrieben hat. Es handelt sich um die Trobriander, einen melanesischen Stamm, der auf einigen kleinen Inseln in Britisch-Neu-Guinea lebt.

In Europa hat man erst in diesem Jahrhundert entdeckt, dass Kinder ein Sexualleben haben. Früher (und manchenorts heute noch) sah man die Kinder für eine Art geschlechtsloser unschuldiger Engel an und glaubte, dass sexuelle Regungen erst im Pubertätsalter begönnen. Die Trobriander sind uns hierin weit voraus: nicht nur wissen sie vom Sexualleben der Kinder, sie anerkennen es auch durchaus und behindern die Kinder nicht im geringsten in ihren sexuellen Spielen und kleinen Liebeszeugnissen. Da die Häuser der Trobriander keine inneren Wände haben, werden die Kinder unvermeidlich schon in sehr frühem Alter durch ihre eigenen Augen über die Einzelheiten des Sexuallebens der Erwachsenen unterrichtet. Sehr bald, schon im Alter von 6 bis 10 Jahren, beginnen sie auch selber zu versuchen, das Gesehene nachzuahmen. Auch hieran finden ihre Eltern nichts auszusetzen. Wenn die Kinder sich dem Pubertätsalter nähern, haben sie schon einige eigene Erfahrung auf sexuellem Gebiet, und mit der Zeit entwickeln sich ganz zwanglos kürzer oder länger währende Liebesverhältnisse mit dem Partner, der den anderen vorgezogen wird. Die jungen Menschen haben ihre Jungmännerhäuser, in denen mehrere junge Männer mit ihren Freundinnen zusammenwohnen. Ein solches Zusammenleben zieht keine Verpflichtungen nach sich. Es wird aber als dem guten Ton zuwider angesehen, wenn einer der Partner in einer solchen vorläufigen Kameradschaftsehe allzu offensichtlich anderen Umgang

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sucht. Takt und Ton schreiben vor, dass man voneinander wegzieht, wenn das Zusammenleben mit dem betreffenden Partner nicht mehr genügende Befriedigung erbringt. Doch ist dies kein unbedingtes Gebot moralischen Charakters. Hat der Partner gegen die Neigung des andern zur Abwechslung nichts einzuwenden, so zwingt ihn niemand zu einem Bruch.

In der Regel leitet eine länger währende Kameradschaftsehe direkt in eine richtige Ehe über. Diese wird ohne viel Formalitäten eingegangen und kann auch ohne weitere Schwierigkeiten wieder aufgelöst werden. Jedoch sind Scheidungen nicht allzu häufig, da die Ehe nicht eingegangen wird, ehe man einander auch in sexueller Beziehung gründlich kennt und wenn nicht alle Voraussetzungen für ein haltbares Zusammenleben vorhanden sind.

Die Moral bei den Trobriandern

Hiermit soll nun jedoch nicht gesagt sein, dass die Trobriander überhaupt keine Moral kennen. Sie ist nur ganz anders geartet als die unsere und hängt mit der völlig anderen sozialen Organisation dieses Volkes zusammen. Zum Beispiel: Zwei Menschen, die dem gleichen Clan angehören, dürfen zwar geschlechtlichen Umgang miteinander haben, können aber einander nicht heiraten. Sind sie auch vom gleichen Unterclan, so ist das Verbot noch strenger: jede sexuelle Gemeinschaft ist verboten. Strengster Tabu liegt auf der Blutschande zwischen Bruder und Schwester, ebenso zwischen Halbgeschwistern, soweit sie von einer Mutter sind. Haben sie dagegen den Vater gemeinsam, so ist sogar eine Ehe zwischen ihnen möglich.

Um ein noch deutlicheres Beispiel für die von den unsern völlig verschiedenen Moralvorstellungen der Trobriander zu geben: erzählt ein Europäer ihnen von unseren Festen, so stehen ihnen die Haare zu Berge vor Empörung über ein so schändliches und unmoralisches Betragen. Bei den Trobriandern gilt es nämlich als der Gipfel der Unanständigkeit, in Gegenwart eines anderen Menschen zu essen.

Reichs Untersuchungen

Welche Lehren können wir nun aus dem Unterschied in der Betrachtungsweise des Sexuellen bei den Trobriandern und bei den allermeisten andern Völkern ziehen ?

Der Forscher, der diese Frage besonders untersucht hat -- Wilhelm Reich -- macht auf eine spezielle Eigenart der Trobriander aufmerksam. Dieses Volk ist nicht wie die meisten anderen patriarchalisch, sondern matriarchalisch organisiert. Das bedeutet, dass soziale Stellung, persönlicher Besitz und dergl. nicht vom Vater auf den Sohn, sondern über die Mutter vom Mutterbruder auf den Schwestersohn vererbt werden. Das hängt damit zusammen, dass den Trobriandern die Verwandtschaft zwischen Vätern und Kindern unbekannt ist, da sie keinen Zusammenhang zwischen Geschlechtsakt und Ge-

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burt wissen und ihnen folglich der Begriff der Vaterschaft völlig fremd ist.

Reich hat nun einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den ökonomischen Verhältnissen der Trobriander -- sie leben ini sogenannten Urkommunismus --, ihrer mutterrechtlichen Sozialorganisation und ihrem freien Sexualleben nachgewiesen. Ja, dieser Zusammenhang besteht nicht nur bei den Trobriandern, sondern bei allen primitiven Völkern, welche in Urkommunismus und matriarchalisch leben. Reich ist der Meinung, dass Urkommunismus, Matriarchat und sexuelle Freiheit eng zusammengehören und nur im Zusammenhang verstanden werden können. Ebenso hängen auf der anderen Seite Privateigentumsrecht, Patriarchat und Sexualunterdrückung miteinander zusammen.

Urkommunismus und Matriarchat

Reich geht in seinen Untersuchungen von den Trobriandern aus und knüpft dort an, wo Malinowski aufhört. Die Trobriander sind vor anderen matriarchalisch-urkommunistischen Völkerschaften, wie z.B. den Eskimos, besonders geeignet, Reichs Vermutungen zu stützen. Das Matriarchat findet sich bei ihnen nämlich nicht mehr in der ursprünglich reinen Form, sondern in einem Übergangsstadium zum Patriarchat. Im Besonderen finden sich zwei patriarchalische Züge bei den Trobriandern. Erstens kennen sie eine ähnliche Form der Ehe wie die patriarchalischen Völker mit einer entsprechenden Einengung der Geschlechtsfreiheit: Forderung ehelicher Treue nach der Heirat, allerdings ohne dass diese Forderung strenge Geltung hätte. Das zweite ist die Stellung der Häuptlinge. Da die Trobriander, wie gesagt, urkommunistisch leben, kennen sie weder Handel noch Geldverkehr noch Steuern. Die Fischer tauschen einen Teil ihres Fanges mit den Gartenbauern gegen Früchte aus -- andere Formen des Tauschhandels sind praktisch unbekannt. Auf diese Weise kommen weder Reichtum noch Armut zustande, und es findet sich keine Klassenteilung. Nun haben aber die Häuptlinge die Pflicht, bei den grossen religiösen Festen das ganze Volk zu bewirten. Dazu bedarf es aber eines weit grösseren Einkommens, als aus dem eigenen Gartenbau herauszuholen ist. Woher dieses grössere Einkommen nehmen ? Die den Trobriandern einzig bekannte Form arbeitslosen Einkommens sind die Zuschüsse, die ein Mann von der Familie seiner Frau bekommt. Bei den Trobriandern herrscht nämlich die eigentümliche Sitte, dass jeder Mann verpflichtet ist, seine Schwester zu ernähren, indem er alljährlich ihr und ihrem Mann einen bestimmten Teil seiner Ernte abgibt. Hat nun ein Mann als Häuptling besondere Ausgaben und braucht daher auch besondere Einkünfte, so besteht für ihn nur die einzige Möglichkeit, sich mehrere Frauen zuzulegen. Wir sehen daher hier auch die Eigentümlichkeit; dass -- während die Trobriander im allgemeinen nur die Ehe

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zwischen einem Mann und einer Frau kennen -- die Vielweiberei ein Privilegium der Häuptlinge ist. Sie kann hier sogar sehr grosse Dimensionen annehmen: Malinowski berichtet, dass er Häuptlinge mit bis zu 60 Frauen gefunden habe.

Der Häuptlingssohn

Man sieht, dass ein Häuptling mit einer so stattlichen Frauenschar ein recht wohlhabender Herr sein muss, wenn er jährlich von 60 Schwägern Zuschüsse erhält. Und es ist nur natürlich, dass er von all dieser Herrlichkeit einiges seiner Familie zu erhalten wünscht, z.B. einem Sohn, der ihm besonders lieb ist. Da der Sohn indessen nicht erbberechtigt ist, sondern nach trobriandischem Recht der Schwestersohn, wird der Häuptling danach streben, seinen Sohn mit der Tochter seiner Schwester zu verheiraten, da diese ja von ihrem Bruder, dem Erben, ausgesteuert werden muss. Gelingt es, eine solche Vetter-Basen-Heirat zustande zu bringen, so strömt der Wohlstand auf diesem Umwege wieder zur Familie zurück. Solche Heiraten werden nun auch in der Tat von den Trobrianderhäuptlingen energisch angestrebt. Vetter-Basen-Ehen in ihren Familien sind geradezu zu einer Nationaleinrichtung der Trobriander geworden. Zur Sicherung der eigentlich ungesetzlichen Erbfolge vom Vater zum Sohn zögert man nicht, Vetter und Kusine schon als Kinder zu verloben. Und hier treffen wir auf eine äusserst interessante Erscheinung: für eine solche als Kind verlobte Häuptlingsnichte besteht die sonstige ungebundene Sexualfreiheit der Trobrianderjugend nicht ! Von ihr wird sexuelle Enthaltsamkeit bis zur Hochzeit verlangt, und das gleiche gilt für ihren kleinen Bräutigam. Gewiss ist es in einer so liberalen und toleranten Gesellschaft wie der trobriandischen nicht möglich, die strikte Befolgung des Verbots durchzusetzen. Jeder weiss, dass viele der verlobten Häuptlingskinder ihren Trieben gemäss leben. Aber das muss im Verborgenen geschehen und gilt als unmoralisch.

Für uns ist hier vor allem die Feststellung interessant, dass der erste Einbruch einer sexualfeindlichen Moral in dies freie, ungebundene Geschlechtsleben der trobriandischen Jugend in enger Verbindung mit dem langsam entstehenden Privateigentumsrecht erfolgt. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Unterdrückung des freien Sexuallebens der verlobten Häuptlingskinder erfolgt, um zu verhüten, dass sie an dem Zusammenleben mit einem freigewählten Kameraden soviel Gefallen finden, dass dadurch die von den Eltern gewünschte und für sie so profitable Verbindung in die Brüche geht.

Das beginnende Privateigentumsrecht

Wenden wir nun den Blick von den Trobriandern fort auf einige ihrer nächsten Verwandten und Nachbarn in der Südsee, die eine

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weitere Entwicklungsstufe erreicht und den Urkommunismus durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln und dem Produktionsertrag ersetzt haben, so finden wir dort eine absolut sexualverneinende Moral, die keine Spur der Freiheit des Trobrianderstadiums für die Jugend zurückgelassen hat. Und mit der weiteren Entwicklung des Patriarchats sehen wir auch die Sexualunterdrückung immer stärker werden.

Wir können daher mit Reich feststellen, dass Sexualunterdrückung, Privateigentum und Patriarchat zueinander gehören, und dass die Sexualunterdrückung und ihr ideologisches Spiegelbild, die Sexualmoral, eine besondere soziologische Funktion haben: nämlich die Festigung und Stärkung der auf Privateigentum und Patriarchat gegründeten Gesellschaft.

Wie nun das Privateigentum und die patriarchalische politische Organisation der Gesellschaft in den verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeiten höchst bunte Formen annehmen, so tritt auch die Sexualunterdrückung in äusserst mannigfacher Verkleidung je nach den örtlichen Verhältnissen auf.

Andere primitive Völkerschaften

Bei primitiven Völkern in den tropischen Ländern, die in Hütten wohnen und dauernd im Freien leben, ist natürlich ein Schutz der ökonomisch wertvollen Jungfräulichkeit geschlechtsreifer Töchter durch Einsperren, wie das beispielweise bei den Mohammedanern üblich ist, undurchführbar. Man hilft sich hier nun auch auf andere Weise, mit Mitteln, die uns barbarisch und grausam erscheinen. Zum Beispiel näht man unverheirateten Mädchen die Schamlippen zusammen, um ihnen den Beischlaf unmöglich zu machen. Andernorts setzt man ihre Leidenschaftlichkeit künstlich durch Abschneiden des Kitzlers herab. Bei wieder anderen Völkern greift man nicht zu solchen Operationen, sondern schreckt die Menschen von vorehelichem Verkehr durch Androhung von Todesstrafen oft denkbar grausamster Art ab. Ich will hier nicht auf Einzelheiten eingehen, sondern nur noch einmal unterstreichen, dass alle die mannigfachen Formen der Sexualunterdrückung und grausamer Pubertätsriten nur bei patriarchalisch organisierten Völkerschaften gefunden werden, bei denen die Ehe vor allem eine Produktionseinheit und die Frau ein Anhängsel einer Mitgift ist. Für alle Völker gilt, dass das Bewusstsein des Sinnes dieser Sexualunterdrückung vollständig verloren gegangen ist und die an sich unverständlichen und schmerzbereitenden Gebräuche mit religiösen Argumenten begründet werden.

Wir sahen, wie die Sexualunterdrückung in die Welt kam und welches ihr Sinn war. Wie steht es nun mit der Sexualmoral ? Die Sexualmoral ist, wie gesagt, eine Art ideologischen Spiegelbildes der äusseren Unterdrückung -- aber sie ist mehr als nur das. Sie ist eine Kraft, die in den Menschen steckt, an die sich wendet, und sie

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verhindert zu tun, was die Natur von ihnen verlangt. Eine ungeheure Kraft muss das sein, wenn sie einen der stärksten Naturtriebe in Schach halten kann, und dort, wo sie unterliegt, immer noch Angst, böses Gewissen und stärkste Seelenqualen hervorzurufen imstande ist.

Die moralische Kraft

Woher stammt diese unerhörte Seelenkraft ? Auf diese Frage antwortet uns die moderne Psychologie: diese Kraft ist nichts anderes als verwandelte Sexualenergie. Die geschlechtliche Energie, die stärkste im Menschen, hat nämlich die eigentümliche Fähigkeit, sich umformen zu können, wenn das eine oder andere Hindernis ihre freie Abfuhr unmöglich macht. Lassen äussere Umstände ein normales, natürliches Sexualleben nicht zur Entfaltung kommen, so schlägt die Sexualität in ihr Gegenteil um: in Sexualangst. Und diese Sexualangst wiederum zeigt sich in verschiedenster Gestalt. Die häufigsten Formen sind auf der einen Seite eine gefühlsbetonte, sexualverneinende Moral, die aus der Not eine Tugend macht und proklamiert, dass freie sexuelle Entfaltung -- bald aus diesen, bald aus jenen Gründen -- verwerflich sei, auf der anderen die vielen neurotischen Erkrankungen, von denen in unserer kapitalistischen Gesellschaft so ziemlich jeder Mensch geplagt wird.

Diese umwegige Auslösung der Sexualität in Form sexualverneinender Moral und neurotischer Leiden ist vom kapitalistischen Standpunkt aus von allerhöchster gesellschaftserhaltender Bedeutung. Es ist durchaus nicht zufällig, dass es gerade die kapitalistisch interessierten reaktionären Kreise sind, die das Banner der Moral hochhalten und verhindern, dass die Erkenntnisse der modernen Sexualwissenschaft Gemeinbesitz aller werden.

Privateigentum und Sexualunterdrückung

Auf dreierlei Art vor allem tritt die Sexualunterdrückung und damit die sexualverneinende Geschlechtsmoral in den Dienst des Privateigentumsrecht, heute also der kapitalistischen Gesellschaft.

Erstens schwächt sie die Widerstandskraft der ökonomisch unterdrückten und ausgebeuteten Gesellschaftsklassen, indem sie jeden Einzelnen sich mit einem ungeheuren, nahezu unüberwindlichen Problem herumschlagen lässt: mit der sexuellen Frage. Zweitens wird mit Hilfe eines riesigen Propagandaapparats erst in der Familie selbst, dann in der Schule und schliesslich auf alle mögliche Weise draussen im Leben ein sehr bedeutender Teil der Sexualenergie der Massen zum Kampf gegen die Sexualität mobilisiert: es wird den Menschen eingebläut, dass die Sexualität etwas Hässliches und Sündiges sei, dessen man sich eigentlich schämen müsse und an das man am besten gar nicht denken sollte. Auf künstliche Weise werden gewisse Organe und ihre Funktionen den Menschen verekelt, so dass sie sich erst ein Herz fassen müssen, um die Dinge auch nur bei

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ihrem rechten Namen zu nennen. Geschieht dies aber schliesslich doch unter Einhaltung grosser Vorsicht, so sollen möglichst unverständliche lateinische Bezeichnungen gebraucht werden; denn die einfachen im Volke üblichen Namen sind durch den jahrhundertelangen Aufenthalt im Dunkeln und in lichtscheuen Winkeln "unanständig" und "hässlich" geworden.

Die idealen Untertanen

Die sexualfeindliche Erziehung mit ihrer Herabwürdigung natürlicher Prozesse wie der Entfernung der Abfallprodukte des Körpers, also mit ihrem Erwecken von Ekel- und Angstempfindungen gegenüber bestimmten Körperteilen, mit ihrem strengen Verbot der Onanie, der natürlichen Form des Sexuallebens des Kindes, mit ihrer ständigen Vertiefung eines naturwidrigen Risses zwischen den Generationen und ihrer Vergottung des Vaters als unantastbarer Autorität, ihrem Mangel an Verständnis für die besonderen Bedürfnisse des Kindes, was Bewegung, Wissbegier, Schaffensdrang betrifft -- diese Erziehung bringt beim Kinde eine ganz eigentümliche seelische Struktur zustande, die es lebenslang beibehält und durch die Erziehung der nächsten Generation auf diese überträgt. Diese seelische Struktur ist bei nach bürgerlicher Anschauung wohlgelungener Erziehung gekennzeichnet durch Ängstlichkeit, Autoritätsglauben, Fügsamkeit, Unselbständigkeit im Denken, Kritiklosigkeit, Geniertheit, Unbeholfenheit, Minderwertigkeitsgefühl. Kurz: sie lähmt jede persönliche Initiative und macht die Menschen gerade zu dem, was die kapitalistische Gesellschaft braucht: zu den idealen Untertanen, die zum Bestehenden halten und weiter nichts wollen als Ruhe und Ordnung.

Wem nützt die Sexualmoral ?

Drittens endlich führt die Annahme der bürgerlichen Sexualmoral durch die Massen nicht nur dazu, dass diese Massen selbst für diese Moral eintreten, sondern dass sie auch ihre eigene ökonomische und politische Unterdrückung bejahen. Das Letztere geschieht vorzugsweise auf dem Umwege über Religion und Kirche, die überall zu den stärksten Stützen der bestehenden Gesellschaftsordnung gehören. Sie lehren die Menschen, gehorsame und treue Untertanen zu sein, die alle Schickungen als gottgesandt annehmen. Der liebe Gott wird schon wissen, zu was dies oder jenes Unglück gut ist !

Nunmehr sind wir imstande, unsere grosse Frage zu beantworten: wem die Sexualmoral nützt. Sie nützt denselben, denen auch die herrschende kapitalistische Gesellschaftsordnung nützt: wenigen herrschenden Grossen, die auf Kosten der vielen unterdrückten Kleinen wohlleben.


ZPPS, Band 5 (1938), Heft 1 (15), S. 74-75

Rezension:
Almanach der Psychoanalyse.
Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1937, 247 S.

Die seit 1926 alljährlich erscheinenden psychoanalytischen Almanache bieten -- zumeist in Ausschnitten aus Neuerscheinungen der psychoanalytischen Literatur -- einen guten Einblick in die Problemstellungen der fortschreitenden Forschungsarbeit auf diesem Gebiete. Da ist es nun bemerkenswert, dass neuerdings einige Psychoanalytiker die grosse Bedeutung des sozialen Moments für das Seelenleben der Menschen anzuerkennen beginnen. Am deutlichsten tritt dies in einem Beitrag «Die Beziehung zwischen sozialer und persönlicher Desorganisation» von Paul Schilder (New York) hervor. Das Triebleben ist biologisch gegeben, aber schon beim Kinde hängt es von sozialen Momenten ab, in welcher Weise sich der Mensch in dieser Welt zurechtfindet.

Insbesondere ist die herrschende Sexualmoral ein Hemmnis der gesunden Entwicklung des Kindes: "Die Psychoanalyse hat gezeigt, dass auf sexuellem Gebiet frühe Versagungen, Einschüchterungen und Strafen zu schweren Störungen in der persönlichen Entwicklung führen." Denn das Kind prüft und sondiert unaufhörlich seine Umgebung, um sich an die Umwelt anzupassen, was oft nicht ohne seelische Verkrüppelung zu erreichen ist. Die "Abwegigkeit des Individuums in seiner Anpassung an die Welt" verrät sich dann in einer seelischen Erkrankung: "Die Neurose kann somit als eine falsche Einstellung auf Grund einer Unterbrechung des Prüfungs- und Sondierungs-Prozesses definiert werden", der im Dienste des Realitätsprinzips steht. Aber schliesslich sind auch die Erzieher für das hilflose Kind eine sehr bemerkenswerte Realität und so "werden unrichtige Einstellungen von dem fehlangepassten Elternteil auf die Kinder übertragen."

Hier schliesst sich der Zirkel, der letzten Endes auf soziale Faktoren zurückzuführen ist, denn die ganze Erziehung -- und erst recht die öffentliche Schulerziehung -- ist Ausfluss der sozialen Struktur der Gesellschaft, in die wir hineingeboren werden. Und wenn Freud von einem «Unbehagen in der Kultur» spricht, dann darf man nicht vergessen, dass diese Kultur in ihren Spitzenleistungen nur einem sehr begrenzten Kreis von Menschen in gehobener gesellschaftlicher Stellung zugute kommt, in sozialer Hinsicht jedoch als Unkultur zu bezeichnen ist, da sie die primitivsten Voraussetzungen materieller und emotionaler Bedürfnisbefriedigung vermissen lässt. Innerhalb der heutigen menschlichen Gesellschaft werden alle Hassregungen hochgezüchtet und deren Sublimierung wesentlich erschwert. Wer soll da noch seelisch "normal" bleiben ? Die Flucht in die Neurose, in das Anormale wird zur Norm.

Der stärkste psychische Heilfaktor wäre demnach die Beseitigung der heute bestehenden sozialen Desorganisation. Vorbeugen ist besser als Heilen. Die psychoanalytische Therapie kann sich derzeit nur auf die individuelle Behandlung

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einzelner Neurotiker beschränken und muss in vielen Fällen versagen, weil die "Geheilten" innerhalb der gegebenen sozialen Wirklichkeit in neue Konflikte geraten. Aber die Psychoanalyse könnte uns auf Grund ihrer Einsichten beraten, welche sozialen Voraussetzungen erfüllt sein müssten, um eine künftige Sexualhygiene zu ermöglichen. Ein erster Versuch nach dieser Richtung ist in der Arbeit von Schilder zu erblicken, denn er will "den Weg zu einer Theorie eröffnen, die auch soziale Faktoren in Erwägung zieht". Hier mündet die Psychoanalyse notwendig in die Politik, und die Feinde des sozialen Fortschritts werden wieder einmal den Ruf nach "Entpolitisierung der Wissenschaft" ertönen lassen. Als ob nicht unser ganzes gesellschaftliches Leben durchsetzt wäre mit einer -- hauptsächlich durch die Kirche geförderten -- lebensfeindlichen Sexualpolitik. Diese reaktionäre Sexualpolitik muss bekämpft werden, will man die seelische Gesundheit der Menschheit erreichen. Die Psychoanalyse ist, wie der vorliegende Almanach beweist, auf dem Wege, ihre eigentliche Aufgabe -- wenn auch vorläufig nur erst tastend -- zu erkennen, nachdem schon vorher ein Flügel unter der Führung von Dr. Wilhelm Reich (Oslo) diesen Weg mit viel Erfolg beschritten hat.

So weit sind die meisten Psychoanalytiker noch nicht. Wohl spricht Lawrence S. Kubie (New York) in seinem Beitrag «Psychoanalyse praktisch gesehen» auch von einer Prophylaxe, doch er meint nur die rechtzeitige Behandlung neurotischer Erkrankungen. Auch die Vorbeugung durch eine von analytisch geschulten Erziehern geleitete Aufzucht der Kinder dürfte da nicht viel helfen, selbst wenn man einige "Missverständnisse in der psychoanalytischen Pädagogik" ausschaltet, worüber Stefi Bornstein-Windholz (Prag) berichtet. Denn was nützt es, wenn es auch gelänge, in einem pädagogischen "Zauberberg", fern der rauhen Wirklichkeit, alle Aggressionen zu sublimieren ? In einer von sozialen Gegensätzen durchtobten Umwelt würden dann noch die vor ihren eigenen inneren Dämonen so sorgsam behüteten Kinder sich der äusseren Realität wenig angepasst fühlen.

Nein, es bedarf vor allem einer Umgestaltung der sozialen Struktur unserer Umwelt, sonst lässt sich auch durch die beste Pädagogik das Inferno der menschlichen Seele nicht meistern. Trotzdem ist es nicht nutzlos, die psychoanalytische Pädagogik zu verfeinern, denn die Nuranalytiker werden schliesslich erkennen, dass ihrer Arbeit durch die gesellschaftliche Struktur Schranken gesetzt sind; sie werden erkennen, dass ihre gut gemeinten Reformvorschläge unter den gegebenen sozialen Verhältnissen undurchführbar sind. Genau so wie die pazifistischen Forderungen in der heutigen Gesellschaft unerfüllbar sind. Aber es ist eben schon ein Fortschritt, wenn erkannt wird, woran es liegt, dass die meisten Menschen gegenwärtig mehr oder weniger neurotisch eingestellt sind.

Diese Erkenntnis ist auch in der Vorlesung zu verspüren, die Heinrich Meng an der medizinischen Fakultät der Universität Basel beim Antritt des neu errichteten Lektorats für Psychohygiene unter dem Titel «Über Wesen und Aufgabe der seelischen Hygiene» gehalten hat. Meng kommt zwar nicht direkt auf die sozialen Vorbedingungen einer seelischen Prophylaxe zu sprechen, doch stellt er fest, dass "die vorbeugende Hygiene in die Zeit der Aufzucht, der Pflege und Erziehung fällt." Die unausgesprochene Schlussfolgerung liegt nahe: Wie soll denn unter den gegebenen sozialen Verhältnissen eine solche "Aufzucht, Pflege und Erziehung" der Kinder in breiten Schichten der Bevölkerung überhaupt möglich sein ?

Man merkt, dass die Psychoanalyse -- wie jede Wissenschaft -- notwendig an die Grenzen ihrer praktischen Wirksamkeit gelangen muss, wenn sie das soziale Moment auf die Dauer auszuschalten sucht. Die eminent praktische Bedeutung einer Sexualtheorie liegt in der Sache selbst begründet. Die Psychoanalyse muss -- will sie nicht in sterilen, doktrinären Betrachtungen versanden -- notwendig zur Forderung einer gesunden Sexualökonomie gelangen, wie eine solche von der Sexpol längst erhoben wurde.

Ihren eigentlichen Wert wird die Psychoanalyse erst erweisen, wenn sie sich, wie oben erwähnt, in den Dienst der sozialen Umgestaltung stellen wird.

Th. Hartwig (Prag)


ZPPS, Band 5 (1938), Heft 1 (15), S. 76-78

Rezension
Edgar Alexander: Der Mythus Hitler
Zürich: Europa-Verlag 1937

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Ausgehend von Hitlers Lebensgeschichte gibt A. eine Darstellung und Kritik vor allem der ideologischen und psychologischen Voraussetzungen des Nationalsozialismus. Ohne auf die im Kampf um die Familienmoral begründeten tieferen Ursachen des nationalsozialistischen Erfolges einzugehen, bringt er eine Menge

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kluger Beobachtungen, zeigt Entsprechungen in Hitlers persönlicher Entwicklung und der sozialen Situation der Nachkriegszeit auf, zeigt sich im Ganzen sehr gut orientiert -- ohne allerdings tatsachenmässig viel Neues zu bringen.

Denn nicht die Tatsachen als solche sind ihm das Wesentliche, sondern ihre Beleuchtung von der katholischen Geschichts- und Moralauffassung aus. Das dritte Reich wird für ihn zum Reich vor allem des Hasses; dann jedoch auch der Unmoral, Brutalität, Geistlosigkeit und letzten Endes der Gottlosigkeit, des "braunen Bolschewismus":

"Der nationalistische Mythus ist der organisierte Wille zum Rückfall in die Primitivität der vorchristlichen Entwicklung der deutschen Kultur." (S. 251)

Hitler ist der moderne Mohamed, der mit Feuer und Schwert alle Werte der "abendländischen Kultur", vor allem aber der christlichen Kirchen, zerstört und ausrottet.

Hinter dieser Betrachtungsweise steht nichts anderes als die alte, christlich-mythologische Auffassung des Weltgeschehens: Reich des Teufels gegen Reich Gottes, Reich des Hasses gegen Reich der Liebe (vgl. bes. S. 229 ff), oder mit A.s eigenen Worten:

"Rom, das alte, machtvolle, geistige Rom der Päpste, steht gegen den braunen Bolschewismus, den Koloss auf tönernen Füssen; Christus steht gegen Hitler." (S. 309)

Überflüssig zu sagen, dass eine solche Betrachtungsweise natürlich jeden Weg verbaut, die positiven, fortschrittlichen Momente im Nationalsozialismus zu sehen, die für grosse Teile der Jugend gerade im Kampf gegen die christliche Moral gegeben sind.

Und wie stellt sich A. die Überwindung dieses "Reichs des Satans" vor? Er warnt seine Freunde,
"die Notwendigkeit eines praktischen Zusammenschlusses oder zumindest einer ernsthaften Diskussion aller Hitlergegner zum Zweck eines positiven Aufbauprogramms der deutschen Zukunft nicht immer nur unter der Ausschliesslichkeit der religiösen Weltanschauungsproblematik des deutschen Katholizismus zu beurteilen." (S. 357)
und gibt im Folgenden etwa die Perspektive: Schwerindustrie und Reichswehr sind die eigentlichen Träger der politischen Macht in Deutschland. Sie werden Hitler fallen lassen, wenn er eine weitere Aufrüstung und die damit verbundenen Profite nicht mehr garantieren kann. Die Reichswehr ist im besonderen auch daran interessiert, das der "braune Bolschewismus" nicht die auf der christlichen Moral fundierte soldatische Disziplin zerstört (vgl. z.B. S. 366. Eine zweifelhafte Spekulation).

Wir müssen damit rechnen, dass diese Mächte Hitler fallen lassen, wenn er ihren Interessen nicht mehr Rechnung tragen kann. Dann kommt es zur Militärdiktatur als Übergangszustand. In diesen Prozess müssen sich die Hitlergegner einschalten ("damit ist die Notwendigkeit einer zukünftigen Verständigung des deutschen Militarismus mit der Arbeiterschaft zwangsläufig gegeben", S. 363). Ziel ist dabei natürlich immer ein von allem "Bolschewismus" gereinigter "Sozialismus". Er ist "als konkrete Sozial- und Gesellschaftsbewegung die Forderung der Stunde, der alle wirklichen Gegner des Bolschewismus genügen müssen." (S. 331)

Unter Führung der Reichswehr, der Grossindustrie und mit der katholischen Kirche als ideologischem Rückhalt?

Eine vom "realpolitischen" Standpunkt gewiss kluge Perspektive. Denn A. betont richtig, "dass die deutsche Wehrnacht bereits heute einen so gewaltigen Machtfaktor des deutschen Lebens darstellt, dass zumindest auf absehbare Zeit -- und für sie allein wollen wir zunächst einmal kämpfen und sorgen -- keine Wandlung der deutschen Verhältnisse eintreten kann, an der nicht die deutschen Militärs wesentlich beteiligt wären ... Auch wir stehen aus persönlich-weltanschaulichen Gründen dem Geist des deutschen Militarismus höchst skeptisch und ablehnend gegenüber, aber wenn wir uns sachlich um eine Urteilsfindung über das Wenn und Aber der deutschen Zukunft bemühen, werden wir uns ebensosehr mit der Anerkennung der Realität der deutschen Wehrmacht und ihrer inneren Kraft und Fähigkeit, den jetzigen anarchischen Zustand in Deutschland zu ändern, abfinden müssen, wie es vor Jahren bereits Hitler getan hat." (S. 363 f)

Steht aber hinter dieser Perspektive nur die "nüchtern-praktische Sachlich-

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keitserwägung"? -- Nein. Um nämlich "dem echten Wohl des deutschen Volkes und seiner Zukunft zu dienen ... wehren wir uns" (nicht nur gegen das jetzige System des dritten Reichs, sondern) "auch gegen alle revolutionär-anarchistischen Pläne und Absichten, die darauf hinausgehen, das jetzige Terrorsystem des dritten Reichs lediglich mit roter Farbe und den dem heutigen Hitlersystem weithin wesensverwandten kommunistischen Ideen einzutauschen." (S. 363)

A. hat nicht nur das fortschrittliche Element im Nationalsozialismus, sondern auch die grundsätzlich zu bejahenden Leistungen des russischen Kommunismus nicht begriffen. Und darum ist seine Perspektive gefährlich. Darauf müssen alle Sozialisten, die mit bürgerlichen Gegnern der Nazis zusammenarbeiten wollen, aufmerksam sein.

M[otesiczky, Karl]


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