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ein paraphilosophisches Projekt
nicht in der Zeit, aber -- an der Zeit

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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 4, Heft 2 (13) (1937)

 Band 4, Heft 2 (13) (1937) 
65 Wilhelm Reich: Jørgen Neergaard, gest. 2. Februar 1937
65 Arnulf Øverland: Rede bei der Beisetzung [Jørgen Neergaards]
67 Jørgen Neergaard: Leunbach - verdienter Lohn ?
76 Wilhelm Reich: Der Orgasmusreflex
88 Wilhelm Reich: Aus dem "Internationalen Institut für Sexualökonomische Forschung"
90 Sigurd Hoel: Der Moskauer Prozess
109 Aus dem chinesischen Patriarchat. Gedanken über [Agnes] Smedleys Buch »China blutet«
115 Zur Entlassung unserer Kollegen Dr. Leunbach und Dr. Philipson aus dem Gefängnis
118 Sexpol-Korrespondenz [Spanien, Deutschland, Italien, Österreich, Norwegen, Dänemark]
133 Besprechungen;
Norman Haire: Birth Control Methods (N.H.)
Marc Lanval: Les Mutilations Sexuelles dans les Religions Anciennes et Modernes (M.E.D.)
D.V. Glass: The Struggle for Population (C.T.)
Sigmund Freud: Selbstdarstellung (L.)

Zur Gesamtübersicht ZPPS
ZPPS, Band 4 (1937), Heft 2 (13), S. 88-90

Aus dem «Internationalen Institut
für sexualökonomische Lebensforschung»


Wir erhielten folgende Mitteilung, die wir mit Freude abdrucken:

Im Jahre 1921 enthüllte ein besonders günstig gelegener Fall die zentrale Bedeutung der orgastischen Funktion für die seelische Hygiene sowie ihrer Störung für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Neurose. Die konsequente Durchforschung des Orgasmusproblems, das bis dahin in seinen wesentlichsten Stücken unbekannt und ungeklärt

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geblieben war, führte zur Ablehnung der Freudschen Todestrieblehre. Was Freud als Todestrieb zu fassen glaubte, war in Wirklichkeit die orgastische Sehnsucht nach Auflösung, Auslösung, mit der Welt verschmelzen, kurz: nach orgastischem Erleben: psychische Strebungen, die durch die Lebensunterdrückung der heutigen Gesellschaft behindert sind und sich infolgedessen in Verhaltungsweisen äussern, die einem Streben nach dem Tod ähnlich sehen. Die Todestrieblehre Freuds hielt keiner klinischen Kritik stand. Im Gegensatz dazu erwies sich die Hypothese, dass die Sexualtriebe die «Lebenstriebe» seien, als korrekt. Schon die klinischen Details der orgastischen Funktion ergaben im Zusammenhang mit der Beachtung physiologischer Erregungszustände eine Formel, die 1934 in dieser Zeitschrift zum ersten Male in der Abhandlung «Der Orgasmus als elektr[ophysiolog]ische Entladung» publiziert wurde. Sie lautet: Mechanische Spannung oder Füllung -- Elektrische Ladung -- Elektrische Entladung -- Mechanische Entspannung. Es zeigte sich, dass sie in der unbelebten Natur nicht anwendbar ist und im Gegensatz dazu nicht nur die orgastische Sexualfunktion, sondern sämtliche vegetativen Funktionen des Organismus beherrscht. Im Verlaufe der weiteren Forschung konnten alle Zweifel an der Identität der Orgasmusformel mit der Lebensformelt beseitigt werden. Sie bestätigte sich 1935 auch experimentell. Sexualerregung und Angsterregung erwiesen sich als einander entgegengesetzte Richtungen elektrischer Ladungstätigkeit an den sexuellen Organen («Experimentelle Ergebnisse über die elektrische Funktion von Sexualität und Angst» 1937). Im Winter 1935/36 wurden nun auf Grund der klinischen und bis dahin vorliegenden experimentellen Tatbestände Versuche eingeleitet, die zeigen sollten, ob die ldentität der Orgasmusformel mit der Lebensformel zu Recht besteht oder nicht. Es gelang bereits im Mai 1936, biologische Versuche durchzuführen, die diese Annahme bestätigten. Es ergaben sich hochsterile kolloidale Gebilde bei bestimmter Behandlung verschiedener lebloser Stoffe, die in Bewegung, Kontraktion, Expansion und Form von tierischen Einzellern nicht zu unterscheiden waren. Noch stand die Frage offen, ob es sich nur um eine Imitation, also um Modelle lebender Organismen handelte, oder ob tatsächlich die Organisierung nichtlebendigen Stoffes gelungen war. Diese Frage konnte nur durch Kulturversuche entschieden werden. Nach monatelanger angestrengter Arbeit gelang im Dezember 1936 die erste Kultur der Gebilde. Die Kulturversuche wurden bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt soweit durchgeführt, dass wir uns berechtigt fühlen, das positive Ergebnis nunmehr als einwandfrei mitzuteilen.

Seit Dezember steht unser Institut mit einer französischen naturwissenschaftlichen Gesellschaft in Verbindung. Es wurde eine Kommission von Fachwissenschaftlern gebildet und ein Laboratorium zur Verfügung gestellt, das die Aufgabe bekam, die hier durchgeführten Versuche zu kontrollieren. Gleichzeitig ging eine Meldung über die Herstellung der Gebilde an die Französische Akademie der Wissenschaften in Paris. Die experimentellen Versuchsleiter in Frankreich unterzogen sich in dankenswerter Weise der Aufgabe, nach Kontrollierung der Versuche eine offizielle Meldung an die Akademie zu erstatten. Vor kurzem erhielten wir die erfreuliche Nachricht, dass die ersten

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Kontrollversuche am Französischen Laboratorium positiv ausgefallen sind.

Die experimentell erhaltenen lebenden und kultivierbaren Gebilde erhielten den Namen Bione. Die Ergebnisse der Bion-Versuche wurden am 7. März in der Naturphilosophischen Gesellschaft in Nizza der Öffentlichkeit mitgeteilt.

Sobald die wichtigsten Versuchsreihen abgeschlossen sein werden, wird das Ergebnis im Rahmen unserer experimentellen und klinischen Berichte detailliert mitgeteilt werden.

Mit dem Gelingen der oben genannten biologischen Versuche ist nicht nur die Orgasmusformel als Lebensformel experimentell bestätigt worden; darüber hinaus wurde der Grundstein für die biologische Forschung auf sexualökonomischem Gebiet gelegt. Dass hierbei der dialektische Materialismus als naturwissenschaftliche Forschungs- und Erkenntnis-Methode einen entscheidenden Sieg an der wissenschaftlichen Front gegen den Vitalismus und Mystizismus in der Naturwissenschaft buchen kann, soll ausdrücklich hervorgehoben werden.

Oslo, im April 1937
Wilhelm Reich


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ZPPS, Band 4 (1937), Heft 2 (13), S. 90-109

Der Moskauer Prozess

von Sigurd Hoel

Die Hauptbegebenheiten des zweiten und vorläufig letzten grossen Moskauer Prozesses sind wohl bekannt. Ich begnüge mich damit, in aller Kürze an die wichtigsten Tatsachen zu erinnern:

Von dem abwesenden Hauptangeklagten Trotzki abgesehen, wurde über 17 Angeklagte Gericht gehalten.

Die Siebzehn waren angeklagt, teils Leiter, teils Agenten eines «Parallelzentrums» zu dem konterrevolutionären Zentrum gewesen zu sein, das von Sinowjew und Kamenew geführt worden war und das durch den ersten Moskauer Prozess im August vorigen Jahres ausgerottet wurde. (Geständnissen in diesem letzten Prozess zufolge gab es sogar noch ein Zentrum um Bucharin, Tomski und Rykow. Der Prozess gegen dies dritte Zentrum hat noch nicht stattgefunden. Tomski beging übrigens Selbstmord im Sommer vorigen Jahres, als die GPU ihn verhaften wollte.)

Was hatte nun dieses «Parallelzentrum» begangen ? -- Der erste und man möchte fast sagen mildeste Teil der Anklage lautete auf terroristi-

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sche Wirksamkeit: Das «Zentrum» hätte Stalin und seinem nächsten Kreis nach dem Leben gestrebt.

Der zweite Teil der Anklage beschuldigte die Angeklagten der Sabotage. Sie hätten Gasexplosionen in Fabriken, Einstürze und Explosionen in Gruben, Eisenbahnzusammenstösse in grosser Zahl organisiert und im Übrigen auf alle mögliche Weise versucht, die ökonomische Aufbauarbeit zu hindern und zu bremsen.

Der dritte Teil der Anklage schliesslich lautete auf Spionage. Die Angeklagten hätten hochverräterische Spionagearbeit für Deutschland und Japan teils organisiert, teils direkt ausgeführt.

Der Leiter dieser ganzen hochverräterischen, sowjetfeindlichen Arbeit war Trotzki. Er verlangte das Leben Stalins und seiner nächsten Ratgeber, er forderte die Durchführung der Spionage und der Sabotageakte. Die siebzehn Angeklagten erhielten seine Befehle und Direktiven und gehorchten -- teils unter Zweifel und Angst und Beben -- aber sie gehorchten. Trotzki hielt es -- der Anklageschrift und den Geständnissen der Angeklagten nach -- für aussichtslos, allein mit seinen und seiner Mitverschworenen Kräften die Macht in der Sowjetunion erobern zu wollen. Hinzu kam, dass er nach dem Siege des Nationalsozialismus in Deutschland einen Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion für unvermeidlich ansah. Japan würde in diesem Kriege auf Seiten Deutschlands stehen. Im Jahre 1937, meinte Trotzki zu wissen, würde der Krieg ausbrechen und die Niederlage der Sowjetunion würde unumgänglich sein. -- Von diesen Gesichtspunkten aus nahm Trotzki geheime Verhandlungen mit Deutschland und Japan auf. Als Unterhändler für Deutschland figurierte Hitlers Stellvertreter Hess; wer für Japan verhandelte, wurde nicht bekanntgegeben. Trotzki verpflichtete sich, Sabotageakte zu organisieren im Eisenbahnwesen, im Bergbau und in der Industrie der Sowjetunion, besonders in dem Teil der Industrie, der Waffen und Kriegsmaterial produzierte. Trotzki verpflichtete sich, Spionagearbeit für die beiden Mächte zu organisieren. Wenn der Krieg ausbräche, sollten Sabotage und Spionage aufs höchste Mass gesteigert werden, um Zersetzung und Zusammenbruch der Sowjetunion zu bewirken und so Deutschlands und Japans Sieg zu sichern.

Zum Entgelt versprachen diebeiden Mächte «wohlwollende Haltung» zur eventuellen Machtübernahme der Trotzkisten in der Sowjetunion nach der Niederlage. Diese «Macht» würde freilich ein wenig begrenzt werden. Man musste damit rechnen, dass Deutschland die Ukraine für seine Bemühungen würde haben wollen. Japan würde grosse asiatische Gebiete fordern, besonders das Amur-Gebiet. Des weiteren würden beide Mächte sich grosse Konzessionen im übrigen Sowjetgebiet sichern. Die Herrschaft über die Industrie würde in Deutschlands und Japans Hände übergehen, die gesamte Kollektivwirtschaft würde aufgelöst und das kapitalistische System in der Sowjetunion wieder eingeführt werden, die so eine Art Kolonie der beiden faschistischen Militärstaaten werden würde.

Von dieser Einstellung aus, mit diesem offen ausgesprochenen Ziel vor Augen sandte also Trotzki seine Direktiven an Radek. Radek war, wie wir ja wissen, als treu und zuverlässig bekannt. Und Trotzki hatte

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einen besonderen Grund, sich auf ihn zu verlassen. Im Jahre 1930 hatte einer von Trotzkis Freunden, Blumkin, ihn auf der Insel Prinkipo besucht. Als er nach Moskau zurück kam und seine illegale Arbeit beginnen wollte -- die Verbreitung von Schriften Trotzkis -- gab Radek ihn der GPU an (so hat jedenfalls Trotzki geglaubt) und Blumkin wurde erschossen. -- An Radek also sandte Trotzki jetzt seine Direktiven. Und das «Parallelzentrum» organisierte sich und ging an die Arbeit.

Die Zentralfigur im «Parallelzentrum» war Pjatakow. Er beteiligte sich nicht nur an der Organisierung der Terrorakte (die zu nichts führten) und der Spionage. Er, der nach Ordschonikidse der oberste Leiter der russischen Industrie war, machte sich nun daran, die Zerstörung des Werkes zu organisieren, das er selbst aufgebaut hatte.

In derselben Richtung, wenn auch im geringeren Massstabe, wirkten die anderen Angeklagten. Das geht nicht nur aus der Anklageschrift, sondern aus den Geständnissen sämtlicher Angeklagter hervor. Diese Geständnisse, wie sie jetzt in dem offiziellen, 637 dichtbedruckte Seiten starken Bericht vorliegen, lassen nichts ungesagt. Sie stimmen in allen Punkten überein, wo Geständnisse übereinstimmen müssen und sie ergänzen einander in allen Punkten, wo sie sich ergänzen müssen. In keinem einzigen wesentlichen Punkt weichen sie von einander ab, die verschiedenen Geständnisse fügen sich im Gegenteil mit mathematischer Präzision in einander wie die einzelnen Teile einer fein konstruierten Maschine. Insofern bietet der Bericht als Ganzes bei seiner ganzen Unheimlichkeit ein Bild von, ich hätte fast gesagt, vollkommener künstlicher Harmonie. Ich glaube, damit steht er ziemlich allein da unter allen Prozessberichten der Welt. Chorgesang und Sologesang lösen einander ab und sind gegeneinander ausbalanciert, wie in einem Oratorium eines Komponisten von höchstem Rang.

Es ist vor allem eine Eigentümlichkeit, die zur Schaffung dieser Harmonie beiträgt. Es war ja, wie wir sehen, eine Bande gemeiner Verbrecher, die hier vor Gericht stand. Aber in einem Punkte unterschieden sich diese hier auffällig von anderen Verbrechern und zeigten eine sehr hohe Moral: Keiner von ihnen suchte sich herauszureden, indem er die Schuld auf andere schob, jeder Einzelne nahm ohne Feilschen und Handeln sein Teil auf sich. Und keiner versuchte seine Handlungsweise zu entschuldigen. Alle gaben einer hundertprozentigen Reue Ausdruck und einer gewiss etwas verspäteten, aber dafür umso mehr, brennenden Bewunderung für Stalin -- den Mann, den sie zu stürzen versucht und dem sie nach dem Leben gestrebt hatten, und der dafür sie gestürzt hatte und ihnen jetzt das Leben nahm. In einer einstimmigen Huldigung Stalins klingt das Oratorium aus.

Kann man mehr verlangen als Geständnisse ? Nach siebzehn gleichlautenden Geständnissen sollte eine Sache klar sein.

Für alle rechtgläubigen stalinistischen Kommunisten liegt der Fall klar, das versteht sich von selbst. Aber darüber hinaus kann man feststellen, dass dieser zweite Moskauer Prozess eine weit «bessere Presse» in der ganzen Welt bekommen hat, als der erste im August vorigen Jahres.

Das gilt besonders für die Sensationspresse. Sie fand die Geständ-

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nisse sensationell, wie sich das gehört, und teilweise durchaus unerklärlich. Aber ... es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde usw. ... kurz, die Weltpresse anerkannte die Geständnisse (mit gewissen Vorbehalten), ganz wie sie die Geständnisse der Hexen anerkannt hätte (mit gewissen Vorbehalten), wenn sie zur Zeit der Hexenprozesse existiert hätte. Reisen zum Blocksberg auf dem Besenstiel und dort Beischlaf mit den Teufeln ? Tja, das mutet merkwürdig an, aber es gibt ja mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als...

Sensation ist das letzte und beste Opium für das Volk, und man darf nicht erwarten, dass Opiumhändler sich zumeist für die chemische Zusammensetzung des Stoffes interessieren.

Für uns Andere dagegen, die die beiden letzten Moskauer Prozesse für eine der grössten Katastrophen unserer Tage halten -- eine Katastrophe, für deren Grösse es nahezu gleichviel bedeutet, ob die Geständnisse richtig oder falsch sind -- für uns erhebt sich hier eine Reihe schwieriger und unheimlicher Probleme.

Z. B. dieses:

wenn die Geständnisse wahr sind -- wie sollen wir es da erklären, dass so viele der besten, tüchtigsten und erprobtesten alten Bolschewiken so tief gesunken sind ? Denn es ist ja nicht mehr und nicht weniger als die Elite der ursprünglichen Bolschewistischen Partei, die nun ausgerottet ist oder im Gefängnis auf ihr Urteil wartet. Eine kleine Übersicht (aus einem Artikel von S. Schwarz: Die Vernichtung des alten Bolschewismus) wird uns das zeigen:

Im Juli-August 1917 hat die bolschewistische Partei ein 21-köpfiges Zentralkomitee gewählt. Von seinen Mitgliedern sind 7 längst tot; von den übrigen 14 sind 6 völlig aus der Politik ausgeschaltet und einfach zu Beamten geworden. Den Rest bilden 7 «Konterrevolutionäre» (Bucharin, Sinowjew, Kamenew, Rykow, Smilga, Sokolnikow, Trotzki) und Stalin.

Der 7. Parteikongress im März 1918 wählte ein 15-köpfiges Zentralkomitee. 6 sind längst tot, 2 politisch ausrangiert, die restlichen 7 sind: 6 «Konterrevolutionäre» (Bucharin, Sinowjew, Smilga, Sokolnikow, Trotzki und Schmidt) und Stahn.

Der 8. Parteikongress im März 1919 wählte ein 19-köpfiges ZK: 3 längst tot, 3 politisch ausrangiert, von den restlichen 13 sind 11 «Konterrevolutionäre» (Beloborodow, Bucharin, Ewdokinow, Sinowjew, Kamenew, Radek, Rakowski, Serebriakow, Smilga, Tomski, Trotzki) und Stalin mit Kalinin.

Der 9. Parteikongress im März-April 1920 wählte wiederum ein 19-köpfiges ZK: 3 längst tot, 2 politisch ausrangiert, von den restlichen 14 alle mit Ausnahme von Stalin, Andrejew und Kalinin -- «Konterrevolutionäre» (Bucharin, Sinowjew, Kamenew, Preobraschenski, Radek, Rakowski, Rykow, Serebriakow, I. N. Smirnow, Tomski, Trotzki).

Diese Aufzählung könnte fortgesetzt werden. Doch sie mag auch so genügen. Es sei hier nur noch hinzugefügt: der 7. Kongress (1918) hat eine Kommission zur Ausarbeitung des Parteiprogrammes gewählt. Sie bestand ausser Lenin aus 6 Mitgliedern: Stalin und 5 «Konterrevolutionären» (Bucharin, Sinowjew, Trotzki, W. Smirnow, Sokolnikow).

Und endlich, bereits nach dem Tode Lenins wählte der 13. Partei-

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kongress im Mai 1924 das ZK und dieses sein 7-köpfiges Politbüro. Wer war es ? 6 «Konterrevolutionäre»: Bucharin, Sinowjew, Kamenew, Rykow, Tomski, Trotzki -- und Stalin. ,

Es ist unvermeidlich, dass eine solche Übersicht -- oder vielmehr die Entwicklung, die daraus abzulesen ist -- einen dahin bringt, den Prozessbericht mit gesteigerter Kritik zu lesen.

Was ist, von der seltenen und merkwürdigen inneren Harmonie der Bekenntnisse abgesehen, das Eigentümliche an diesem Bericht ?

Die Antwort ergibt sich sofort:

Das Eigentümliche ist, dass ausser diesen Geständnissen in dem ganzen Bericht nicht die kleinste Spur an konkreten Beweisen geliefert wird. Es wird von Direktiven Trotzkis gesprochen, von Briefen, die in die Sowjetunion in Schuhsohlen eingeschmuggelt werden. Aber diese Briefe sind dermassen verschwunden, dass nicht einmal eine ausgetretene Schuhsohle übriggeblieben ist.

Wir müssen uns also an die Geständnisse halten. Da sind es zwei Fragen, die nach Antwort drängen:

1) kann irgend ein Teil davon kontrolliert werden ? Wenn ja, was ergibt die Kontrolle?

2) leiden die nicht kontrollierbaren Teile der Geständnisse an irgendeiner entscheidenden inneren Unwahrscheinlichkeit?

Es versteht sich von selbst, dass Menschen ausserhalb Russlands nach so kurzer Zeit nur ganz wenige und zufällige Teile der Geständnisse kontrollieren können. Die zweite Frage ist daher die umfassendere. Beginnen wir mit ihr.

Die Geständnisse beschuldigen Trotzki (und eine Reihe anderer früher leitender Bolschewiki), individuellen Terror durch Attentate und Morde zu organisieren gesucht zu haben. Ein derartiges Verhalten würde allem widerstreiten, was Trotzki in Schrift und Rede dreissig Jahre hindurch gelehrt hat. Aber nehmen wir einmal an, dass er, wie andre grosse romantische Verbrecher, ein Doppelleben führt und eine Garnitur Prinzipien zum öffentlichen, eine ganz andere aber zum privaten Gebrauch hat.

Jedoch die Geständnisse beschuldigen, wie angeführt, Trotzki weiterhin, Verhandlungen mit Deutschland und Japan geführt zu haben, die gegen die jetzige Sowjetunion gerichtet waren, und Sabotage und Spionage organisiert zu haben mit den Ziel, die Niederlage der Sowjets im kommenden Krieg zu bewirken.

Um nachher selbst zur Macht zu kommen, wohlgemerkt.

Überlegen wir einen Augenblick:

Ist es überhaupt denkbar, gibt es überhaupt die entfernteste mathematische Möglichkeit dafür, dass ein solches Verhalten in einem solchen Fall einen Mann zur Macht führen kann ?

Wir setzen voraus, dass Deutschland und Japan, um die Sabotage- und Spionagedienste zu erhalten, Trotzki versprochen haben, ihm zur Macht zu verhelfen. Welche Garantien hat Trotzki jedoch dafür, dass ein solches Versprechen gehalten werden würde ? Niemand, nicht einmal der öffentliche Ankläger, hat zu behaupten gewagt, dass Trotzki, erst einmal an die Macht gelangt, Hitlers ehrlicher Freund und Geschäftsteilhaber sein würde. Aber hieraus ergibt sich der Schluss, dass,

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je besser Trotzki seinen Teil des Kontrakts innehielte -- mit andern Worten, je vollständiger die Niederlage der Sowjetunion würde -- desto weniger Grund würde für die andern vorliegen, zu ihrem Teil zu stehen. Welches irdische oder himmlische Motiv liesse sich überhaupt finden, das die Nazis bewegen könnte, einem solchen Mann ein solches Versprechen zu halten ? Vielleicht die Stimme des Gewissens ?

Die Stimme des Gewissens, falls sie eins hätten, würde den Nazis gerade befehlen müssen, einem so niedrigen Verräter ihr Wort zu brechen. Und alle Vernunftgründe müssten dasselbe gebieten. Ein solcher Wortbruch wäre ja nicht nur eine moralisch lobenswerte, sondern auch eine völlig gefahrlose Handlung. Trotzki könnte ja protestieren, so viel er wollte, und mit seinem Kontrakt fuchteln, wenn er einen hätte -- eine einstimmige Weltmeinung würde den Leuten Recht geben, die ihn zum Narren gehalten hätten.

Vielleicht hatte ja aber Trotzki gar nicht daran gedacht, seinen Teil des Kontrakts innezuhalten ? Vielleicht wollte er selbst die dummen Nazis anführen ? Bei allen derartigen Übereinkünften besteht ja sozusagen ein ungeschriebener Paragraph darüber, dass die Partner einander zu betrügen beabsichtigen.

Aber wie hätte Trotzki hier jemanden betrügen können ? Der Weg zu seiner Machtergreifung nach dieser Methode ginge ja unweigerlich über die Niederlage. Aber in und mit der Niederlage hätte er keine physische und noch weniger eine moralische Macht hinter sich, die seine Forderungen stützen könnten.

Im übrigen aber laufen ja der ganze Prozess, die gesamte Anklage, alle Geständnisse darauf hinaus, dass Trotzki mit allen Kräften seinen Tell des Kontrakts innehielt, dass er mit aller Macht auf die Niederlage der Sowjets hinarbeitete. Das ist geradezu die Pointe des Prozesses.

Alles in allem: Wir können nicht beweisen und wollen nicht behaupten, dass Trotzki diese Verhandlungen mit Deutschland und Japan nicht geführt habe. Aber wohl wollen wir behaupten, dass er, wenn er es getan hat, völlig verrückt, irrsinnig, geisteskrank sein muss.

Aber vielleicht ist er tatsächlich geisteskrank ? Das Emigrantenleben soll ja nicht gerade gesund sein, und wenn eins zum anderen kommt...

In diesem Fall müsste er wirklich ein Geisteskranker mit magischen Fähigkeiten sein. Er, der einsame Emigrant, führt Verhandlungen auf gleichem Fuss mit zwei Grossmächten; er sitzt in seinem Exil, und sendet seine Direktiven an eine Gruppe der bedeutendsten Männer der Sowjetunion, und es sind, wie wir wissen, keine Bagatellen und keine selbstverständlichen Dinge, die er von ihnen verlangt; aber sie gehorchen, sie gehen sofort daran, seinen verrückten Plan in die Tat umzusetzen. Man möchte fast glauben, dass er mehr wäre als ein Mensch, -- dass er der Teufel selbst wäre, der gestürzte Luzifer, und dass diese Männer ihm ein für alle Mal ihre Seele verkauft hätten.

Oder sollen wir glauben, dass sie alle Siebzehn ein wenig verrückt waren ?

Einzelne Teile der Geständnisse könnten wirklich darauf hindeuten. Bekanntlich hatte die Gruppe unter anderem sich terroristischer Tätigheit schuldig gemacht, hatte versucht, Stalin und seinen engsten Kreis

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zu töten. Den Hauptpunkt in diesem Teil des Prozesses bildet das Attentat auf den Kriegsminister Molotow, von Muralow und Schestow organisiert und ausgeführt durch den Chauffeur Arnold.

Offensichtlich hatte dies Ereignis sehr wenig Ähnlichkeit mit einem Attentat. Es kam auch kein Mensch dabei zu Schaden. Das Ganze verlief so:

Molotow kam auf einer Dienstreise nach dem Bergwerksort Prokopjewsk im Kusnezk-Gebiet. Er liess sich in die Stadt fahren, um sich umzusehen. Arnold führte das Auto. Sie fuhren einen geraden Weg entlang, zu dessen einer Seite ein Steilhang war. Ein Lastauto kam ihnen in starker Fahrt entgegen, und um Kollision zu vermeiden, musste Arnold das Auto scharf zur Seite lenken. Es kam direkt am Rande des Abhanges zum Stehen.

So sah das aus. In Wirklichkeit aber war das also ein Attentat mit einer Vorgeschichte. Die Vorgeschichte sah so aus: Der Angeklagte Muralow hatte zum Angeklagten Schestow und Schestow hatte zu Tscherepuchin (der nicht vor Gericht erschien) und Tscherepuchin hatte zu Arnold gesagt, jetzt müsse eine Terrorhandlung geschehen. Etwas später kam der Volkskommissar für die Industrie, Ordschonikidze, in die Stadt, und Schestow sagte zu Tscherepuchin und Tscherepuchin sagte zu Arnold, jetzt müsse also Ordschonikidze durch ein Automobilunglück getötet werden (wobei auch Arnold umkommen würde). Arnold sagte ja und bekam detaillierten Bescheid darüber, wo er das Auto gegen eine Felsenwand fahren sollte. Er fuhr auch mit Ordschonikidze davon, aber angesichts der festgelegten Stelle verliess ihn der Mut: er verlangsamte die Fahrt und fuhr vorbei...

Wieder nach einiger Zeit kam dann also Molotow in die Stadt, und Schestow sagte zu Tscherepuchin und Tscherepuchin sagte zu Arnold, nun müsse er dafür sorgen, dass Molotow bei einem Automobilunglück umkäme (bei dem auch Arnold selbst draufgehen würde). Arnold sagte ja, und es wurde abgemacht, dass er Molotow den genannten Weg entlang fahren, die Fahrt beschleunigen und dann schroff seitlich steuern sollte, so dass das Auto über den Steilhang in die 15 Meter tiefe Schlucht stürzen müsste.

Da Arnold jedoch schon einmal versagt hatte, richtete Tscherepuchin es zur Sicherheit so ein, dass ihm ein Lastauto in starker Fahrt entgegen käme und seinem Auto einen Stoss versetzte, so dass es in den Abgrund fahren müsste. Das Lastauto erschien auch, wie berichtet, aber Arnold vermied den Zusammenstoss. (Der Führer des Lastwagens erschien nicht vor Gericht.)

Wer war nun eigentlich dieser Arnold, der Held dieses seltsamen Volksmärchens ? -- Er war eine ganz aussergewöhnliche Person. Wenn van der Lubbe als der tragische Narr des Reichstagsbrandprozesses erschien, so wirkte Arnold wie der «dumme August» des Moskauer Prozesses. Seine Vernehmung war die grosse Erheiterungs-Nummer des Prozesses. Er hiess übrigens gar nicht Arnold. Wahrscheinlich war er zur Hälfte Finne und hatte möglicherweise ursprünglich einen finnischen Namen. Er hatte jedoch seinen Namen so oft gewechselt, dass er selbst nicht mehr bestimmt wusste, wie er eigentlich hiesse, und er hatte so lange auf falsche Papiere gelebt und sich so lange durchs

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Leben gestohlen und gelogen, dass er auch nicht die leiseste Ahnung von dem Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge mehr hatte. Mit dem Trotzkismus oder irgend einer andern politischen Bewegung hatte er nichts zu tun -- er streifte herum und nahm die Gelegenheiten, wie sie sich boten. Zur Erklärung für seine Verbrechen brachte er vor, dass er sich in den Sumpf des Trotzkismus verirrt habe, weil er überzeugt worden wäre, «dass die trotzkistische Organisation stark sei, dass sie an die Macht gelangen wird und dass ich nicht in den letzten Reihen bleiben werde.»

Arnold war einer der vier, die nicht zum Tode verurteilt wurden.

Diesem Landstreicher, von dessen miserabler Vorzeit die Verschworenen auf jeden Fall eine gewisse Ahnung hatten, diesem Burschen, der weder politisch noch persönlich irgend eine unbeglichene Rechnung mit dem Stalin-Regime hatte -- ihm also wurde die anspruchsvollste aller terroristischen Aufgaben zugeteilt: sein Leben zu opfern, um zu töten -- zuerst Ordschonikidze und dann, nachdem er dies Attentat hatte fehlschlagen lassen, Molotow.

Es wäre viel zu ilde, zu sagen, dass die Verschworenen geisteskrank gewesen sein müssen.

*

Kommen wir nun zur Beschuldigung der Sabotage.

Hier bildete einen der Hauptpunkte der Anklage ein Eisenbahnzusammenstoss in der Stadt Schumicha, bei dem 29 Rotarmisten getötet und 29 verwundet wurden. Der Angeklagte Knjasew, früherer Eisenbahndirektor, gestand seine Schuld ein. Er war freilich selbst nicht an der Unglücksstelle zugegen, aber einer seiner Untergebenen, der zur Verschwörung gehörte (und der nicht vor Gericht erschien) hatte den Unfall so zuwege gebracht, dass er eine weibliche Angestellte, die erst 14 Tage an der Station arbeitete (und die der Verschwörung nicht angehörte und nicht vor Gericht erschien) an den Weichenstellapparat setzte. Sie leitete einen ankommenden Militärzug auf ein Gleis, auf dem bereits ein mit Erz beladener Güterzug stand. Und das Unglück -- der trotzkistische Sabotageakt -- fand statt...

Einige der anderen Sabotagehandlungen sind noch merkwürdiger. Zwei der Verschworenen hatten zum Beispiel eine Grubenexplosion «organisiert», die einen ganzen Monat nach ihrer Verhaftung erfolgte.

All diese Sabotagehandlungen sind überaus listig organisiert worden, so schlau, dass sie zum Verwechseln solchen Unfällen ähneln, die durch Saumseligkeit, Schlamperei und Ungenauigkeit entstehen. Wir wissen aus anderen Quellen, dass Industrie, Gruben- und Eisenbahnwesen der Sowjetunion von diesen Unglücken besonders stark heimgesucht worden sind -- eine unvermeidliche Sache übrigens, wenn ein primitives Bauernland mit einer zurückgebliebenen Bevölkerung durch eine Riesenanstrengung innerhalb eines halben Menschenalters in ein modernes Industrieland verwandelt werden soll.

Soviel über die «innere Wahrscheinlichkeit» der Geständnisse. Die Beispiele könnten vertieft und vervielfacht werden, doch müssen wir uns in diesem Artikel beschränken.

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Wie gesagt, zur Zeit sind wir, die ausserhalb der Sowjetunion leben, im grossen und ganzen ausserstande, den Tatsacheninhalt der Geständnisse zu kontrollieren. Einige Aussagen jedoch beziehen sich auf Dinge und Ereignisse ausserhalb der Sowjetunion, und einzelne davon können wir zufällig kontrollieren.

Und hier ist es auffällig, dass in jedem einzelnen dieser Fälle die Aussagen sich als der Wahrheit und Wirklichkeit widerstreitend erweisen.

Ein Zeuge, der Tass- und Iswestija-Korrespondent Romm, erklärte, dass er an einem bestimmten Tage Ende Juli 1933 ein heimliches Zusammentreffen mit Trotzki im Bois de Boulogne bei Paris hatte und dort von ihm Instruktionen erhalten hätte. Aber zu diesem Zeitpunkt wohnte Trotzki in Südfrankreich und stand unter Polizeibewachung.

Ein Angeklagter, Grasche, gestand, dass er Spion für Deutschland gewesen sei, und dass er Umgang mit drei dänischen Trotzkisten gehabt habe: Mit Sigvard Lund, Kjärulf Nielsen und Windfeld-Hansen. Er hätte zusammen gewohnt mit Windfeld-Hansen, der die Wohnung als konspirativen «Treff» benutzt hätte usw. Dieses Geständnis erregte Aufsehen in Dänemark und die dänische Presse untersuchte die Sache. Es zeigte sich, dass die Geständnisse Grasches in allen Punkten unrichtig waren, wo sie diese drei Leute betrafen.

Nun -- Grasche war eine geringe Nebenperson des Prozesses. Weit grösseres Interesse knüpft sich an die Hauptperson, Pjatakow, und seine berühmte Flugreise nach Oslo.

Pjatakow gestand bekanntlich, dass er im Dezember 1935 mit einem Flugzeug von Berlin (wo er sich in dienstlichen Angelegenheiten aufhielt) nach Oslo zu Trotzki gefahren sei. Er flog vom Tempelhofer Feld ab und landete auf «dem Flugplatz bei Oslo». «Dort stand ein Auto bereit. Wir (die mystische Person «Gustav», die Pjatakow selbst nicht kannte, und Pjatakow selbst) setzten uns in dieses Auto und fuhren los. Wir fuhren wahrscheinlich 30 Minuten lang und kamen in einem Villenort an. Wir stiegen aus, gingen in ein nicht übel eingerichtetes Häuschen, und dort erblickte ich Trotzki, den ich seit 1928 nicht gesehen hatte. Dort fand meine Unterredung mit Trotzki statt.»

Es gibt zwei «Flugplätze bei Oslo»: Kjeller und Bogstadvannet. Als Pjatakows Geständnis in Oslo bekannt wurde, nahmen interessierte Leute Untersuchungen vor, und es stellte sich heraus, dass überhaupt keine ausländische Flugmaschine im Dezember 1935 auf einem der beiden Flugplätze gelandet war (und ebensowenig im vorhergehenden und im folgenden Monat). Von verschiedenen Stellen in Oslo wurden Telegramme an den öffentlichen Ankläger Wyschinski gesandt. Diese Teiegramme (und vielleicht auch die Besprechung der Angelegenheit in der Weltpresse) führten dazu, dass Wyschinski diese Frage noch einmal am Ende der Verhandlungen zur Sprache brachte. Wir zitieren:

Vorsitzender: Das Verhör der Angeklagten ist abgeschlossen, ebenso die Vernehmung der Zeugen. Ergänzende Fragen liegen nicht vor ?

Wyschinski: Ich habe Fragen an Pjatakow. Angeklagter Pjatakow, sagen Sie bitte, Sie sind in einem Flugzeug nach Norwegen geflogen,

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um Trotzki zu sprechen ? Wissen Sie nicht, auf welchem Flugplatz Sie gelandet sind ?

Pjatakow: In der Nähe von Oslo.

Wyschinski: Hatten Sie bei der Landung oder bei Zulassung des Flugzeugs auf diesem Flugplatz keinerlei Schwierigkeiten ?

Pjatakow: Ich war durch die Ungewöhnlichkeit der Reise erregt und habe dem keine Aufmerksamkeit geschenkt.

Wyschinski: Sie bestätigen, dass Sie auf einem Flugplatz in der Nähe von Oslo gelandet sind ?

Pjatakow: In der Nähe von Oslo, daran erinnere ich mich.

Wyschinski: Ich habe keine Fragen mehr. Ich habe einen Antrag an das Gericht. Ich habe mich für diesen Umstand interessiert und das Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten gebeten, mir eine Auskunft zu verschaffen, da ich die Aussagen Pjatakows hierüber nachprüfen wollte. Ich habe die offizielle Auskunft erhalten, die ich den Akten beizulegen bitte (liest):

«Die Konsularabteilung des Volkskommissariats für auswärtige Augelegenheiten teilt dem Staatsanwalt der UdSSR hierdurch mit, dass laut einer von der bevollmächtigten Vertretung der UdSSR in Norwegen erhaltenen Auskunft der Flugplatz in Kjeller in der Nähe Oslos das ganze Jahr hindurch, entsprechend den internationalen Regeln, Flugzeuge anderer Länder aufnimmt, und dass Landung sowie Start von Flugzeugen auch in den Wintermonaten möglich ist.»

(Zu Pjatakow): Das war im Dezember ?

Pjatakow: Ganz recht.

Wyschinski: Ich bitte dies den Akten beizulegen.

Mit anderen Worten: Es wird kein Beweis dafür erbracht (und konnte keiner erbracht werden), dass Pjatakow wirklich in Oslo gewesen ist. Im Gegenteil steht es nach wie vor nach diesem «Zusatz-Geständnis» fest, dass er nicht dort gewesen ist.

Also: Pjatakow gibt hier eine Handlung zu, von der er weiss, dass er sie nicht begangen hat. Er ist nicht in Oslo gewesen, er hat nicht mit Trotzki gesprochen, (und er muss gewusst haben, dass dieser wirkliche Zusammenhang würde aufgeklärt werden).

Die Schlussfolgerungen aus dieser Tatsache sind so weitreichend, dass nur sehr wenige der Kommentatoren des Prozesses sie zu ziehen gewagt haben. Diese Reise nach Oslo und das Gespräch mit Trotzki -- das ist ja der Grundpfeiler aller Geständnisse. Stürzt er zusammen, so stürzt das ganze Bauwerk, und dann können wir kein Wort der Geständnisse mehr ohne weiteres glauben. Wir sind auf Abschätzungen auf Grund anderweitig erworbenen Wissens verwiesen -- wenn wir überhaupt an irgendwelche Verschwörung, an Terror, Sabotage und Spionage glauben sollen.

Die Konsequenzen erstrecken sich so weit, dass man sich unwillkürlich dagegen wehrt:

Nun gut -- nehmen wir also Wyschinskis kleines Zusatzverhör über Pjatakow noch einmal her und lesen es gründlich ! Wir sehen unzweideutig: Wyschinski wünscht keinerlei genauere Untersuchung über diesen Punkt. Die Folgerungen aus dieser Entdeckung sind so unbe-

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haglich, dass man sich direkt scheut, sie zu Papier zu bringen. Es fällt nach und nach ein unheimlich ironisches Zwielicht über Radeks schon berühmt gewordene Schlusserklärung (in seinem «letzten Wort»):

«Welche Beweise gibt es für diese Tatsache (die Verbindung der «Verschwörer» mit Trotzki) ? Für diese Tatsache gibt es die Aussagen von zwei Leuten -- meine Aussagen, dass ich Direktiven und Briefe von Trotzki erhalten habe (die ich leider verbrannt habe), und die Aussagen Pjatakows, der mit Trotzki gesprochen hat. Alle anderen Aussagen der übrigen Angeklagten -- sie beruhen auf unseren Aussagen.»

II.

Nun gut: Wir sind zu dem Resultat gekommen, dass der Prozess keinen Glauben aufs Wort verdient, sondern dass sich sozusagen bei jedem Punkt der Anklage wie der Geständnisse Zweifel und Fragen melden. Aber damit erheben sich auch neue Probleme. Zum Beispiel: Wie ist es zu erklären, dass die Sowjetbehörden eine so fantastische Anklage gegen Trotzki erhoben haben -- eine Anklage, die durch ihre eigene innere Ungereimtheit auf der Stelle in sich zusammenbrechen würde, wenn es überhaupt noch Vernunft in der Welt gäbe ? Hier scheint mir Otto Bauer die beste Erklärung gegeben zu haben. In der «Arbeiter-Zeitung» vom 17. Februar veröffentlichte er einen Artikel über den Moskauer Prozess, aus dem ich einen Abschnitt hier ein wenig gekürzt wiedergebe:

Trotzki, schreibt Bauer, vertritt jetzt folgende Ansichten: Die S.U. hat die Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft geschaffen. Aber die weitere Entwicklung zu einer wirklichen sozialistischen Gesellschaft wird gefährdet durch die Herrschaft der neuen stalinistischen Bürokratie. Nach Marx und Lenin soll in einer sozialistischen Gesellschaft der staatliche Gewaltapparat allmählich absterben; in der S.U. aber befestigt sich immer mehr der bürokratische Apparat, der die Arbeiter beherrscht. Nach Marx soll der Sozialismus die Klassen aufheben; in der S.U. dagegen ist der Bürokratismus auf dem Wege, eine neue privilegierte Klasse zu entwickeln. Es besteht die Gefahr, meint Trotzki, dass sich die S.U. nicht zu einer wirklich sozialistischen Gesellschaft entwickelt, sondern zu einer neuen Form der Klassenherrschaft. Diese Gefahr kann nur behoben werden durch den Sturz der despotischen Bürokratie, d.h. durch eine neue Revolution.

Es ist Grund anzunehmen, dass Trotzki glaubt, eine solche Revolution wird während des kommenden Weltkrieges stattfinden. Der Krieg wird aufs Neue die Massen revolutionieren, die Arbeiterschaft wird die Bürokratie brechen, die dadurch entfesselten Volkskräfte werden den Krieg in einen wahren Revolutionskrieg verwandeln und dadurch den Sieg über die faschistischen und kapitalistischen Mächte sichern, ganz wie ähnliches während der Grossen Französischen Revolution geschah.

Das ist Trotzkis subjektive Überzeugung. Aber es kommt in der Politik, sagt Otto Bauer, nicht auf die Absichten, sondern auf die tatsächlichen Wirkungen einer politischen Idee an.

Wenn die S.U. mitten im Kriege gegen zwei riesenhafte Militärmächte stände, gegen Deutschland im Westen und Japan im Osten, dann

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würde jede neue Revolution, was immer die Absichten ihrer Urheber wären, die furchtbare Gefahr hervorrufen, dass die Kriegsführung der S.U. desorganisiert würde und dadurch ihre Niederlage, der Sieg Hitlerdeutschlands und Japans herbeigeführt würde. Dann würde freilich die neue Revolution mit der Abtretung der Ukraine und des Amurge-bietes und mit der Wiederherstellung des Kapitalismus in der S.U. enden. Das ist nicht der Wunsch Trotzkis; aber das könnte die Wirkung seines Rufs zu einer neuen Revolution sein, wenn er von den Volksmassen der S.U. gehört würde. Deshalb will die SowjetregierungTrotzki und alle, die mit ihm einmal verbunden gewesen sind und sich in Zeiten der Kriegsnot wieder mit ihm verbinden könnten, kompromittieren und vernichten.

Soweit Otto Bauer, der auf jeden Fall kein Trotzkist ist. Bauers Hypothese wirkt weitgehend überzeugend. Eins jedoch erklärt sie nicht:

Warum hielten die Sowjetbehörden gerade jetzt eine öffentliche Auseinandersetzung mit Trotzki für notwendig ? Seine Schriften sind in der Sowjetunion unterdrückt, sein Name ist soweit möglich aus der offiziellen Geschichte der Revolution ausgemerzt, man hat das Ziel verfolgt, seinen Namen aus dem Bewusstsein des russischen Volkes zu löschen. Woher dieser plötzliche Umschlag ? Welche zwingenden Gründe haben dafür bestanden ? -- Denn es ist doch klar, die neue Methode hat durchaus ihre riskanten Seiten für das Stalin-Regime. Ganz gewiss schikaniert und diffamiert der Prozess Trotzki gewaltig, stellt ihn dem russischen Volk als den Teufel selbst hin, als die Personifikation und das Prinzip alles Bösen -- mit dem klaren Ziel, alle abzuschrecken, die sich in diese Richtung gezogen fühlen könnten. Aber wer kann blind dafür sein, dass der Prozess gleichzeitig eine kolossale Reklame für ebendenselben Trotzki bedeutet ? Wieder ist sein Name auf allen Lippen und es werden ihm fürchterliche, übermenschliche, teuflische, das heisst primitiv göttliche Eigenschaften zugeschrieben.

Im Bewusstsein der Allgemeinheit stand Trotzki in der letzten Zeit in Gefahr, in gewissem Masse als lächerlich und querulantisch zu erscheinen -- dieser ewig Landflüchtige, dieser widerborstige Mensch, der nie aufhören konnte mit seinem: «Stalin ! Stalin !»

Jetzt aber hat das Blatt sich gewendet. Jetzt ist es plötzlich die ganze gewaltige Sowjetunion -- oder jedenfalls doch alles, was dort Mund und Stimme hat -- die unaufhörlich «Trotzki ! Trotzki !» ruft.

Nie war die Macht des Teufels grösser, nie beschäftigte er die Phantasie der Menschen lebhafter, nie wirkte er in all seiner Unheimlichkeit anziehender, nie wurde er leidenschaftlicher angebetet als gerade in der Zeit der Inquisition und der Hexenprozesse.

Die Sowjetbehörden sind sich eines ähnlichen Risikos auch sicherlich bewusst. Warum aber nehmen sie es auf sich ? Eine Erklärung liegt ausserordentlich nahe: im Lande muss irgendeine nicht ganz unbedeutende Unzufriedenheit bestehen, und man hat für nötig befunden, auf diese so nachdrücklich und abschreckend wie möglich einzuwirken.

Was für eine Unzufriedenheit ?

Das folgende wird vielleicht einen, Beitrag zu einer Erklärung liefern können.

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Nun zu den Geständnissen der Siebzehn über ihre eigenen Verbrechen -- was ist mit denen ? Sind sie alle von derselben Art wie Pjatakows Oslo-Reise ? Gewiss nicht. Nehmen wir zum Beispiel die Geständnisse über Spionage für Deutschland und Japan. So unwahrscheinlich, ja undenkbar es ist, dass Trotzki je Konferenzen mit Hess gehabt und es übernommen hat, einen Spionagedienst zu organisieren -- ebenso denkbar und wahrscheinlich ist es, dass ein solcher Spionagedienst gemacht worden ist. Und wir müssen aus einfachen Vernunftgründen annehmen, dass die Geständnisse über einzelne Spionagefälle im wesentlichen wahr sind. Ob diese Spione (Stroilow und einige andre) «echte» Spione gewesen sind oder Provokateure, die ihre Auftraggeber zum Narren gehalten haben -- das ist eine andre Sache. Und es ist auch eine Sache für sich, dass sie, die doch aller Wahrscheinlichkeit nach keinerlei Verbindung mit Pjatakow, Radek usw. gehabt haben, in diesen Prozess hineingezogen worden sind, um Trotzki und seine «Mitverschworenen» noch weiter herabzusetzen und ihre Schuld zu beweisen. Diese Art «Amalgame» sind aus allen politischen Prozessen bekannt.

Wir müssen überhaupt damit rechnen, dass der Prozess zwischen zwei Extrempunkten hin und her pendelt -- der klaren, unverfälschten Lüge und der relativ unverfälschten Wahrheit. An welchem Punkte zwischen diesen beiden Polen die einzelnen Geständnisse stehen, darüber ist vorläufig nichts Sicheres zu wissen möglich.

Zum Beispiel die vielen Geständnisse über Sabotage: Einige von ihnen wirken, milde ausgedrückt, unwahrscheinlich. Es ist auch einleuchtend, dass gerade solche Geständnisse praktischen Wert haben für ein Regime, dessen ungefähr grösste und wichtigste Aufgabe es ist, mit guten und bösen Mitteln den eingefleischten Hang der Massen (und der Beamten) zu Faulheit, Korruption, Schlendrian und Nachlässigkeit zu überwinden. Ein drohendes Schwert hängt von nun an über jedes einzigen saumseligen Funktionärs Haupt: Denunziation und Anklage -- Sabotage ! Trotzkismus ! Faschismus !! Auf tausende und zehntausende Faulpelze und Bummelanten rings in dem grossen Russland hat sicherlich der letzte Moskauer Prozess wie ein äusserst notwendiger anfeuernder Tritt in den Hintern gewirkt.

Andererseits wäre, es sinnlos zu behaupten, dass alle Geständnisse über Sabotage nur Lüge und Erdichtung sind. Sicherlich: Pjatakow nahm die Schuld auf sich für eine Menge von Sabotagehandlungen, die er nie gekannt hatte, die ausgeführt waren von Personen, die er nie gekannt hatte. Das gleiche taten die anderen Hauptpersonen des Prozesses. Sie waren Vorgesetzte und nahmen die Schuld ihrer Untergebenen auf sich. Soweit ist das eine klare Sache, und hier liegt auch nicht das Problem, sondern in der folgenden Situation: wenn ein Mensch eine Arbeit ausführt, die nach seiner besten Überzeugung nach falschen Prinzipien geleitet wird, wenn er vergebens gegen diese Prinzipien protestiert hat, wenn er folglich mit Unlust und weniger ergiebig arbeitet als er im besten Falle könnte, und wenn all dies schliesslich zu schlechten Resultaten der Arbeit führt -- wo liegt da die Grenze zwischen Protest, Unlust und Sabotage ? Jeder weiss aus eigener Er-

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fahrung, dass diese Grenzen fliessend sind. Jeder hat einmal eine Arbeit mit Unlust und also schlecht ausgeführt und folglich mit Schuldgefühl.

Schuldgefühl -- damit kommen wir zu dem, was man die innere Struktur der Geständnisse in diesem merkwürdigen Prozess nennen könnte. Zum Verständnis dafür ist es jedoch notwendig, sich des historischen Hintergrundes für den Prozess zu erinnern.

Wir wissen, diesen Hintergrund bildet der lange und bittere Kampf zwischen Trotzki und Stalin, oder vielmehr zwischen den beiden Grundgesichtspunkten, die durch diese zwei repräsentiert werden. Trotzki -- die permanente Revolution, die Weltrevolution; Stalin -- Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Lande.

Stalin hat gesiegt, sagt man. Ja, er steht unbestreitbar an der Spitze des Sowjetstaates und Trotzki ist ein friedloser Emigrant. Doch Stalins Sieg ist kein Marsch auf Rosen gewesen. Mal um Mal hat die Entwicklung in der Sowjetunion harte Krisen durchlaufen, wiederholt ist die Stimmung in grösseren oder kleineren Teilen der Partei dem offenen Protest nahe gewesen.

Es ist Stalin jedesmal gelungen, die Opposition niederzuschlagen. Seine Methode dabei bestand in einer ständig strengeren und rücksichtsloseren Anwendung der Machtmittel der Parteimaschinerie. Die Demokratie innerhalb der Partei, die zu Lenins Zeiten bestand, ist vollständig verschwunden, das Diktaturprinzip ist bis zur letzten Konsequenz auch in der Partei durchgeführt. Alle Beschlüsse erfolgen jetzt einstimmig, wie in Hitlers deutschem Reichstag.

Mit anderen Worten heisst das, dass jede Nicht-Zustimmung in einem gewissen Grade das Gepräge des Aufruhrs erhält, dass jede Opposition Mehrerer den Charakter einer Verschwörung bekommt. Haben also die Angeklagten an einer Verschwörung teilgenommen ? Ja, unzweifelhaft, soweit sie zu verschiedenen Zeiten in einer gewissen Opposition zu Stalins Politik gestanden haben.

Wir wissen: Stalins Gesichtspunkt -- Sozialismus in einem Lande -- siegte, unter anderm aus dem einfachen Grunde, dass die Weltrevolution ausblieb; doch zog diese Grundeinstellung Konsequenzen nach sich, die nicht von allen mit gleicher Freude begrüsst wurden. Eine Folge war ein wachsender russischer Nationalismus. Stalin, der nicht besonders stark international orientiert und interessiert ist, konnte sich aus natürlichen Gründen leichter mit dieser Konsequenz aussöhnen als ein Mann wie Radek, ein galizischer Jude ohne eine bestimmte Muttersprache. Der nationale Sozialismus jedoch zieht wieder andre Dinge nach sich. Er gründet sich auf das Heimatgefühl, dies wieder bildet sich in der Kindheit und diese ist an die Familie geknüpft...

Es gelang im grossen und ganzen dem Staatsanwalt Wyschinski, die Angeklagten an prinzipiellen Betrachtungen zu hindern. Auf die Frage aber, warum und gegen was die «Verschworenen» in Opposition standen, wird, glaube ich, auch eine ganz kurze Übersicht über gewisse Züge der sowjetrussischen Entwicklung in den letzten Jahren uns ganz unmittelbar die Antwort geben.

Am 1. April 1934 wird der Begriff «Vaterland» in der Sowjetunion

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von neuem offiziell anerkannt. (Das geschah in der nationalen Begeisterung nach der Rettung der Tscheljuskin-Expedition.)
Am 18. September 1934 tritt die S.U. in den Völkerbund ein.
Am 2. November 1934 trinkt Stalin auf das Wohl der «Parteilosen» und hebt hervor, dass sie eben so gute Bolschewiki seien wie die Parteimitglieder.
Am 15. Mai 1935 wird der französisch-russische Pakt abgeschlossen.
Um diese Zeit kommt Russlands Geschichte wieder als Schul-Lehrfach zu Ehren.
Am 25. Mai wird die «Vereinigung der alten Bolschewiki» aufgelöst.
Am 7. Juni wird Lenins alter Freund Jenukidze aus der Partei ausgeschlossen.
Am 25. Juni wird der «Verband der politischen Gefangenen des Zarismus» aufgelöst.
Juni/Juli: Heftige Pressekampagne zur Schaffung einer neuen und besseren Moral, deren Zentrum Familie und Heim sein sollen.
Am 22. September wird die Rangeinteilung in der Roten Armee und der Roten Flotte verstärkt eingeführt.
Am 9. Dezember werden Offiziersabzeichen eingeführt (das erste, was beim Revolutionsausbruch abgeschafft wurde).
Am 1. Januar 1936 werden Weihnachten und Neujahr zum erstenmal wieder mit Weihnachtsbäumen und andern bürgerlichen Zeremonien gefeiert.
Im Laufe des Januar wird die Kommunistische Akademie in Moskau liquidiert. Man braucht nicht zwei Akademien, und da ist es das beste, die wissenschaftliche Akademie aufrecht zu erhalten.
Am 1. Februar veröffentlicht die Prawda einen Artikel, in dem das grossrussische Volkselement als das erste unter den Brudervölkern der S.U. hervorgehoben wird.
Anfang April gebietet Stalin den Komsomolzen, aus ihren Satzungen den Artikel zu streichen, der besagt, dass die Komsomolzen aktiv und schonungslos gegen die Religion, dies Opium des Volkes, kämpfen sollen.
Ende April erlässt Stalin ein Dekret, dass die Kosaken den Arbeitern und Bauern gleichstellt. Die Kosaken werden feierlich als eigene Gruppe der Roten Armee eingegliedert.
Am 27. Juni erscheint ein Dekret, das die revolutionäre Abortgesetzgebung aufhebt. Die Presse macht Propaganda für Dauerehen und stempelt «lose Verbindungen» als «wahrer Bolschewiki» unwürdig. Die «physiologische Liebe» wird für «ein kleinbürgerliches Laster» erklärt. Die Bolschewiki sind immer für «Poesie und Liebe» gewesen, für die Bewahrung des Heims, und immer gegen Aborte.
Anfang August beginnt der grosse Prozess gegen die «Trotzkisten» (Sinowjew, Kamenjew usw.). Er endete bekanntlich damit, dass alle sechzehn Angeklagten zum Tode verurteilt und erschossen wurden.
Die neue Sowjetrussische Marineflagge hat inzwischen die alten russischen Farben -- weiss, blau und rot -- zurückerhalten, jedoch auch den Stern, Sichel und Hammer bewahrt.
Die Stachanow-Bewegung blüht unter dem Schutz der Autoritäten

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auf und führt unter den Arbeitern zur deutlichen Unterscheidung einer Oberschicht von einer unteren Schicht.
Anfang November 1936 eröffnet die Sowjetpresse eine Kampagne gegen eine Reihe Dichter, Verfasser und Regisseure, die Russlands Geschichte in einem unvorteilhalften Lichte dargestellt haben. Die Iswestija schreiben: «Man soll die grossen Söhne seines Landes achten und ehren und Liebe und Interesse zeigen für die Geschichte seines Volkes und seines Landes.» Im weiteren wird unterstrichen, dass die Einführung des Christentums eines der grössten Ereignisse in der Geschichte des Landes wäre. Auf einem Kongress in Jaroslowa wird gesagt: «Christus war der Sohn eines einfachen Zimmermannes und eines armen Bauernmädchens und muss daher als wahrer Vater und Begründer der Kommunistischen Partei angesehen werden.»

Zur selben Zeit werden an den Russischen Universitäten und Gymnasien von neuem Uniformen eingeführt, wie sie in der Zarenzeit üblich waren, und den Schülern wird Ehrerbietung gegenüber Eltern und Vorgesetzten eingeschärft. Unter denen, den Ehrerbietung erwiesen werden soll, finden wir vor allem den Teil der neuen Oberklasse, der aus den sogenannten «Helden des Vaterlandes» besteht -- Leuten, die sich um das Sowjetrussische Vaterland besonders verdient gemacht haben: Ordensträgern, höheren Parteileuten und militärischen Leitern.

Es ist eine Anweisung erlassen worden, die weisses Hemd, Schlips und möglichst Smoking für die offiziellen Bälle vorschreibt -- ein Ausdruck des Dranges nach einem «wohlgehaltenen und schönen Leben». Die neuen Gala-Uniformen der Offiziere mit goldenen und silbernen Tressen bilden hier einen der ersten Schritte.

All dies geht unter einer grossartigen kommunistischen Terminologie vor sich. Patriotismus, Familienpflege, das Heim, das Recht auf Privateigentum -- all das ist die «Verwirklichung des wahren Leninismus».

«Wofür hat das russische Volk von allem Anfang seiner Geschichte her bis in unsere Tage gekämpft ?» Antwort: «Für die nationale Befreiung». Und «Wonach strebten Russlands grösste und beste Söhne im Laufe der Jahrhunderte ?» Antwort: «Nach sozialer Gerechtigkeit». -- Nun ist das Ziel erreicht, «unser Lehrer, der wahre Dolmetsch des Marxismus-Leninismus, der grosse Freund, Führer und Vater der Brudervölker, unser lieber Genosse Stalin» hat dafür gesorgt.

Gegen diese Entwicklung standen die Angeklagten in Opposition. Gegen diese Entwicklung steht Trotzki in Opposition. Soweit waren die Angeklagten «Trotzkisten». Gegen diese Entwicklung besteht ringsherum im Lande eine Opposition. Insofern gibt es in der S.U. einen ziemlich verbreiteten «Trotzkismus».

Wenden wir uns wieder den Geständnissen selbst zu.
Von Leuten, die der kommunistischen Bewegung fernstehen, sind viele mehr oder weniger fantastische Hypothesen über diese Geständnisse vorgebracht worden. Man hat von Tortur, von Hypnose, von Giften mit seltsamen psychischen Wirkungen usw. gesprochen. Die meisten dieser Hypothesen braucht man gar nicht weiter zu erörtern. Das waren keine hypnotisierten Schlafwandler und keine vergifteten Men-

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schenwracks, die da vor Gericht standen -- das waren Leute, die Verstand und Denkfähigkeit, teilweise sogar Selbstgefühl bewahrt hatten, selbst wenn die Depression sich bei einigen, wie Pjatakow und Muralow, stark geltend machte.

Was Tortur (psychische Tortur) betrifft, so muss man eins im Auge behalten: die meisten Angeklagten hatten Angehörige im Lande, deren künftiges Schicksal ihnen sicher schwer auf dem Herzen lag. Doch damit kann man nicht die ganze Flut der Geständnisse erklären.

Ich glaube nicht, dass man sich überhaupt der richtigen Erklärung annähern kann, ohne das ganz besondere Verhältnis dieser alten Bolschewiki zur Partei in die Betrachtung einzubeziehen.

Wir haben es mit Menschen zu tun, die grossenteils durch Denken, Lesen, Diskussion und revolutionäre Erfahrung sich freigemacht haben oder gelöst worden sind von vielen der Vorurteile und Illusionen, in denen die Menschen meistens Wärme und Ruhe suchen.

Wo haben sie nun Schutz gesucht und gefunden gegen die Einsamkeit und die Kälte der Erkenntnis ?
In der Partei.

Die Partei hat ihnen Vater und Mutter ersetzt, Geschwister und Kinder, Staat und Religion.

Diese starke Bindung an die Partei hat die kolossale Kraft der Bolschewiki ausgemacht -- sie kann gegebenenfalls zur Schwäche des einzelnen Bolschewiken werden. Mit dieser seiner Partei zu brechen: das ist für einen alten Bolschewiken ein ungeheuerlicher, ein nahezu unausdenkbarer Gedanke.

Die Angeklagten, jedenfalls die führenden unter ihnen, sind zu wiederholten Malen in Opposition gestanden, einige von ihnen waren verbannt und sind wieder in Gnaden aufgenommen worden -- nach Abgabe von Reue- und Zerknirschungserklärungen, wie das nach und nach in der russischen Partei Brauch geworden ist. Aber diese Opposition ist immer eine Opposition innerhalb der Partei gewesen.

Eine solche Opposition ist jedoch nicht mehr möglich, seitdem Stalin die Partei diktatorisch gleichgeschaltet und alle Macht in ihrem Zentrum vereinigt hat. Freilich hat er die alten Bolschewiki nicht hindern können, zu sehen, zu hören, zu denken und zuweilen auch zu reden -- wenn sie unter Freunden zu sein glaubten. Einige von ihnen glaubten zu sehen, dass Stalins Politik sich ständig stärker in reaktionärer Richtung entwickelte. Sie sind vielleicht auch direkt der Meinung gewesen, dass diese Entwicklung -- der wachsende Nationalismus, die wachsende Bürokratie -- geradenwegs weg vom Sozialismus führte. Sie haben daran gezweifelt, dass Stalin der richtige Mann sei, sie haben die Person Stalins kritisiert, vielleicht sogar verachtet -- sagen wir, dass einige von ihnen auch innerlich seinen Tod gewünscht haben. (Für irgend einen direkten Anschlag gegen sein Leben hingegen besteht nicht der geringste konkrete Beweis.)

Doch all dies haben sie unter innerem Zwiespalt getan. Denn -- im Innersten ist für jeden einzelnen von ihnen die Partei gleich der Klasse gleich dem Staate gleich dem Sozialismus. Ja, wir können es noch mehr zuspitzen: Der Führer der Partei gleich der Partei gleich

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dem Staate gleich dem Sozialismus. Abgekürzt: Stalin gleich dem Sozialismus. Also: wenn sie gegen Stalin opponieren (und das heisst «konspirieren»), weil sie meinen, dass er den Sozialismus schlecht verwaltet und repräsentiert, indem er ihn mehr und mehr in einen nationalen Sozialismus verwandelt -- so kommen ihnen gleichzeitig Schuldgefühle, eben weil er doch die Partei repräsentiert und die Partei, der Sozialismus, Vater, Mutter, der Staat und die Religion ist.

An dies Schuldgefühl haben sich die Anklagebehörden sowohl bei der Voruntersuchung wie beim Prozess wenden können. Sie verlangten von den Angeklagten, ihre Sünde gegen die Partei zu sühnen, indem sie sich für die Partei opferten. Die Zeiten sind kritisch, Krieg droht -- und gleichzeitig herrscht an nur allzuvielen Stellen Schlendrian, und Unzufriedenheit regt sich an den verschiedensten Stellen, Leute der gleichen Art wie die Angeklagten sehen sich diese Entwicklung an und stecken die Köpfe zusammen ringsum im Lande. Die Einheit der Partei ist in Gefahr. Wer die Einheit der Partei bedroht, bedroht den Staat, bedroht den Sozialismus, unterstützt den Feind, den Faschismus, ist selbst Faschist...

Und so sind jetzt Opfer notwendig geworden... Die unzufriedenen Massen brauchen Sündenböcke, die heimliche Opposition muss abgeschreckt und gewarnt werden. All das kann erreicht, alle Sünde kann gesühnt werden durch die richtige Art Geständnisse...

Man hat nicht gegenüber allen die gleiche Methode angewandt. Es besteht im Gegenteil Grund anzunehmen, dass die Methode bei jedem einzelnen eine andre war. Der alte General Muralow z.B. ist wahrscheinlich zur Erkenntnis von Sünde und Wahrheit gedrängt worden, als er in der Voruntersuchung sehen musste, in was für eine Horde von Spionen und Landesverrätern er nichtsahnend geraten war. Bei einem Mann wie Radek bedarf es wieder einer eigenen Erklärung. Doch für das Auftreten von Pjatakow und mehrerer anderer kann man, glaube ich, kaum eine andre brauchbare Erklärung als die hier angeführte finden.

Der Partei, will sagen ihren Untersuchungsbehörden, gelang es, sie zu überzeugen, dass ihre Opposition in dieser Zeit schicksalsschwanger werden könnte (jede Opposition ist zu jeder Zeit «schicksalsschwanger» unter einer Despotie). Als Sühneopfer war nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Ehre als Kommunisten erforderlich.

Sie beugten sich der Forderung. Aber sie beugten sich auf eine solche Weise, sie gaben ihren Geständnissen eine solche Form, dass diese das aktuelle Bedürfnis befriedigten, gleichzeitig jedoch Vorbehalte und Selbstwidersprüche enthielten, die später zur Aufklärung und zu ihrer Rehabilitierung führen mussten.

Sie brachten im übrigen ihr Opfer auf höchst verschiedene Weise, ihrer Natur entsprechend. Muralow war erfüllt von der Verzweiflung des einfachen Menschen über die unverständliche und abscheuliche Situation, in die er geraten war. Vielleicht der ergreifendste Ausbruch im ganzen Prozess ist der Satz, mit dem er sein «letztes Wort» einleitet:

«Ich habe auf einen Verteidiger verzichtet, ich habe auf eine Verteidigung verzichtet, weil ich gewohnt bin, mich mit tauglicher Waffe

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zu verteidigen und anzugreifen. Ich habe keine taugliche Waffe, um mich zu verteidigen.»

Pjatakows Geständnis und seine ganze Haltung sind vom tiefsten Lebensüberdruss geprägt. Radek dagegen bewahrt den ganzen Prozess hindurch seine Ironie und seine Schlagfertigkeit, er ist es, der den Ankläger am meisten nervös macht und der am deutlichsten in seinen Worten etwas «zwischen den Zeilen» durchschimmern lässt. Ab und zu ist geradezu etwas wie eine Freude an diesem Spiel bei Radek spürbar -- für sein Teil ist es ja auch noch nicht zu Ende.

Wir haben unsere Aufmerksamkeit bisher im wesentlichen der individuell-psychologischen Seite dieser Tragödie zugewandt. Doch der Prozess -- hat noch eine andre, massenpsychologische Seite, die in Wahrheit nicht minder wichtig und nicht minder tragisch ist.

Wie konnten die Massen all dies glauben?

Soweit wir sehen können, glaubten und glauben sie -- glauben blind, dass es die Revolution und der Sozialismus sind, die heute fordern, dass die alte Garde der Revolution und des Sozialismus nun bis zum letzten Mann ausgerottet würden.

Jahrelang haben jetzt die kommunistische Partei und alle Behörden des Landes systematisch daran gearbeitet, eine «Führer»-ldeologie und einen entsprechenden Führerkult heranzuzüchten, die in hohem Grade denen in Deutschland ähneln. Anfangs wurde diese Propaganda durchaus als eine taktische und praktische Verhaltensregel gehandhabt -- man war sich klar darüber, dass die primitiven und ungeschulten Massen einfacher und leichtfasslicher Symbole bedurften. Und Hitlers Sieg in Deutschland machte es -- so meinte man -- dringend notwendig, eine gleichartige «Kupferschlange in der Wüste» für die russischen Massen zu schaffen, wie Hitler sie für die deutschen geworden war. Im Anfang war das taktisch und praktisch. Die Frage jedoch ist, ob nicht Ziel und Mittel, Politik auf kurze und auf lange Sicht sich längst unauflöslich ineinander verwoben haben. Stalins Führerschaft ist nicht mehr ein mehr oder weniger brauchbares Mittel -- bei immer mehr Leuten scheint sie mit dem Endziel des Sozialismus selbst verwechselt zu werden.

Aber wenn diese Führerschaft also in der Sowjetunion eine so fest gegründete Massenbasis bekommen hat wie sich das aus mancherlei Anzeichen schliessen liesse, so erhebt sich folgende Frage: Müssen wir, die viele Jahre hindurch die Sowjetunion mit all ihren möglichen Mängeln und Unvollkommenheiten als die grosse Zukunftshoffnung in der Welt betrachteten -- müssen wir nicht trotz allem auf das Bestehen des Stalin-Regimes hoffen -- ohne Rücksicht auf seine Fehler, seine reaktionäre Tendenz, seine Härte und Grausamkeit, ja teilweise sogar gerade auf Grund dieser Eigenschaften -- selbst wenn wir auf lange Sicht und unter günstigeren Verhältnissen es für durch und durch verwerflich halten würden ? Eine Reihe von Justizmorden, wie die Moskauer Prozesse sie darstellen, wirkt unmittelbar empörend. Aber waren sie vielleicht trotzdem politisch zu rechtfertigen ? Ein ganzer Teil der Entwicklung der Sowjetunion in den letzten Jahren weist unzweifelhaft in reaktionäre Richtung -- aber ist das vielleicht unver-

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meidlich angesichts der Primitivität und Zurückgebliebenheit der Massen und des drohenden Krieges ?

Es wäre lächerlich zu behaupten, dass eine solche Frage einfach und leicht zu beantworten sei. Zunächst wäre unter anderm die Frage zu beantworten: Wie viele der sozialistischen Werte innerhalb und ausserhalb der Sowjetunion werden nur vorläufig starker Belastung ausgesetzt, und wieviele gehen auf die Dauer zugrunde unter einem solchen «vorläufig» reaktionären Regime ? Zum Beispiel: Zwischen der Haltung der deutschen Massen zu Hitler und der russischen zu Stalin bestehen auffallende Ähnlichkeiten (und diese Ähnlichkeiten werden ja auch angestrebt). Bleibt die Frage: In welcher Weise und in weIchem Grade besteht dennoch ein Unterschied ? Oder man könnte so fragen: Wie weit ist der sozialistische Aufbau trotz allem in der Sowjetunion gediehen ? Ist er so weit entwickelt, ist die soziologische Struktur so weit verändert, dass eine solche Führerideologie und eine solche Bürokratie wie sie jetzt im Lande herrschen früher oder später von selbst hinfällig werden könnten, wenn sie ihren Dienst getan haben?

Frage nach Frage erhebt sich. Sie zu beantworten ist zu einem grossen Teil unmöglich. Wir befinden aus tief drinnen im Gebiet der Vermutungen, Hoffnungen und bangen Ahnungen.

Eins aber ist klar, über eines dürfen wir uns nicht selbst täuschen: Die «revolutionäre» Begeisterung, die sich in der Sowjetunion über die letzten und die vorigen Moskauer Urteile erhob -- sie unterschied sich in keinem Punkte von der entsprechenden «revolutionären» Begeisterung, die Hitlers SA-Leute erfüllte, als Hitler die Macht ergriffen hatte und sie vorwärts zu marschieren glaubten, einem neuen, nationalen, revolutionären Deutschland entgegen.

Und doch: in der jetzigen Welt, verwirrt und unklar wie kaum je -- in diesem Chaos steht die Sowjetunion heute als die eine Macht, die die Arbeiterbewegung der ganzen Welt stützt und stützen muss -- ganz gleich, ob die stalinistische Bürokratie das in jedem einzelnen Falle wünscht oder nicht, ganz gleich, ob wir der Politik Stalins in dem und dem Punkte Beifall schenken oder nicht. Wie stünde es jetzt in Spanien ohne die Hilfe der S.U. ? Wie sähe es aus mit der noch gebliebenen Freiheit der übrigen Welt, wenn die spanische Freiheit erwürgt worden wäre ?

Diese Tatsachen bestehen. Keine noch so abscheulichen Moskauer Prozesse können sie vernichten.


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ZPPS, Band 4 (1937), Heft 2 (13), S. 136

Besprechung
Sigmund Freud: Selbstdarstellung [1925, erw. 1935]
Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1936


Man kann die Selbstdarstellung Freuds nicht lesen, ohne immer wieder ergriffen zu werden von der Klarheit und Einfachheit, der Grösse und subjektiven Ehrlichkeit dieses Mannes. Ein Forscher geht hier unbeirrbar seinen Weg. Er lässt sich nicht stören durch die Anwürfe seiner Feinde und nicht durch die Ratschläge «wohlmeinender Freunde». Er folgt einzig und allein der Linie, die ihm seine Forschung vorschreibt. Das kostet Enttäuschungen, Freundschaften; öffentlicher Ruhm ist nicht damit zu erwerben. Aber niemals hat er die Sache aus persönlichen Motiven verraten. Wenn er in seiner Arbeit nicht zu den Konsequenzen kommt, die vom Standpunkt der Sexualökonomie aus gesehen notwendige Folge seiner Forschung hätten sein müssen, dann liegen da Grenzen vor, die nichts mit bewusster Rücksichtnahme auf Konvention zu tun haben.

Freuds Lehre enthält Explosivstoff. Sie zu Ende zu denken, heisst an allem Bestehenden zu rütteln und alles neu zu denken, was bisher als selbstverständlich Gegebenes galt. Aber Freud ist zugleich Sohn seiner Zeit, des Liberalismus, und zählt sich trotz des Stoffes, den er bearbeitet, zu den «unpolitischen» Wissenschaftlern. Ein paar Mal führt ihn seine Arbeit bis hart an die Grenze (z.B. in seinem Aufsatz «Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität», 1908). Aber er überschreitet sie nicht, er will die politischen Konsequenzen nicht sehen, die sich bei weiterer Verfolgung seiner Arbeit mit Notwendigkeit ergeben müssten. Das hat vor allem 2 Folgen: er sieht zwar die Probleme, die sich auf ethnologischem und entwicklungsgeschichtlichem Gebiet auftun. Aber er vermeidet, sie von einem anderen als vom psychologischen Standpunkt aus zu betrachten. Bei völliger Ausserachtlassung der sozialökonomischen Entwicklung muss er dabei zu Schlüssen kommen, die den Tatsachen nicht gerecht werden können. Das zeigt sich besonders deutlich in «Totem und Tabu» und in «Massenpsychologie und Ich-Analyse».

Noch verhängnisvoller wirkt sich die Angst vor der Politik in dem weiteren Aufbau seiner Lehre aus. Es gab da nur zwei Möglichkeiten: entweder die Forschung exakt auf dem Boden der Tatsachen weiterzuführen oder die Tatsachen zu verlassen und statt dessen zur Hypothese zu gelangen. Freud wählt den letzteren Weg. Damit gelingt es ihm zwar, den Menschen als Einzelobjekt, aus dem grossen Zusammenhang gerissen, als Gegenstand seiner Arbeit zu behalten. Aber er kann das nicht tun, ohne zugleich den Weg zur Mystik und zur Erstarrung zu öffnen.

Seine Schüler sind diesen Weg zum grössten Teil mit einer Selbstverständlichkeit gegangen, die merkwürdig erschiene, wenn man nicht auch bei ihnen die Angst vor den politischen Konsequenzen als Hauptmotiv aufdecken könnte. Sie setzen seine Hypothesen als Fakten ein, während Freud selbst immer wieder an eine Möglichkeit der Umänderung denkt. Er schreibt in der «Selbstdarstellung» anlässlich seines Versuches, verschiedene Instanzen und Systeme aufzustellen: «Solche und ähnliche Vorstellungen gehören zu einem spekulativen Überbau der Psychoanalyse, von dem jedes Stück ohne Schaden und Bedauern geopfert oder ausgetauscht werden kann, sobald seine Unzulänglichkeit erwiesen ist.» (Seite 43) Diese Stelle ist auch in der Neuauflage von 1936 nicht korrigiert !

Diejenigen von Freuds ehemaligen Schülern, die sich später von ihm trennten, taten diesen Schritt, weil sie den Kern seiner Lehre, die Bedeutung der Sexualität, nicht bejahen konnten. Sie schalteten gerade dieses Hauptstück mehr oder minder aus und machten «gesellschaftsfähigere», weniger anstössige Lehren daraus. Es liegt eine gewisse Tragik darin, dass Freud nicht mehr den einzigen seiner ehemaligen Schüler verstehen kann, der sein Werk wirklich begriffen hat. Reich hat den Zentralpunkt der Freudschen Lehre aus allen Verschleierungen herausgeschält, ihn von allem Mystischen befreit und ihn als Ausgangspunkt zu einer Neuschöpfung genommen, die gerade durch ihre noch nicht zu übersehende Tragweite die ganze Grösse der Freudschen Arbeit erhellt.

L[iebeck, Lotte]


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