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ein paraphilosophisches Projekt
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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 4, Heft 1 (1937)

 Band 4, Heft 1 (12) (1937) 
1 Einige aktuelle Fragen der zweiten Front [Katalonien]
12 "Jonny": Der Film "The Shape of Things to Come"
19 Kriegsfilmdämmerung
23 Karl Teschitz [Karl von Motesiczky]: Religiöse Extase als Ersatz der sexuellen Auslösung
34 Hintergründe der Neurosen
39 "Hala": Bericht aus einem Kindergarten
45 J.H. Leunbach: An wen wenden wir uns ?
50 Sexualpolitische Jahresübersicht
52 Zum 60. Geburtstag des Psychoanalytikers Leo Kaplan
55 Sie vergessen gern - wir bringen in Erinnerung [über den Berliner Psychoanalytiker Felix Boehm]
58 Mitteilungen aus Deutschland
59 Besprechungen:
Brief an [Ludwig] Renn
N.E. Himes: Medical History of Contraception (C.T.)
Erich Wittkower: Einfluss der Gemütsbewegungen auf den Körper (X.)
Peter Kilian: Die Brockengasse (Roman)

Zur Gesamtübersicht ZPPS
ZPPS, Band 4 (1937), Heft 1 (12), S. 1-12

Einige aktuelle Fragen der zweiten Front
[Katalonien]

Wir betonen immer wieder, dass die in und mit der Sexpol arbeitenden Naturwissenschaftler keine Politiker (zumindest nicht solche in dem sonst üblichen Sinne) sind. Wir legen Gewicht darauf, allen unsern Freunden und Lesern begreiflich zu machen, dass wir bestimmte menschliche Interessen und Bedürfnisse erforschen und vertreten. Dass wir wissen: In der auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln aufgebauten und an der wirtschaftlichen und geistigen Unterdrückung interessierten Gesellschaft gibt es keinen Platz, keine Möglichkeit für die praktische Durchführung unserer naturwissenschaftlichen Ergebnisse. Unser Interesse ist also naturgemäss auf der Seite des revolutionären Sozialismus, dem wir nicht etwa passiv zuschauen, den wir vielmehr aktiv durch unsere Arbeit unterstützen. Wir haben an vielen Stellen unserer Literatur versichert, dass wir fest entschlossen sind, unsere wissenschaftliche Arbeit und auch die praktische Durchführung ihrer Ergebnisse unter allen Umständen zu sichern und Behinderungen dieser Arbeit gegen jede Hemmung zu verteidigen, mag diese Hemmung woher immer kommen. Dies ist unser Standpunkt als Facharbeiter. Als Sozialisten können wir uns nicht darauf beschränken, von den Politikern die Durchführung unserer Anschauungen zu fordern, sondern wir müssen selbst dafür sorgen, durch aktive Teilnahme an allen wesentlichen gesellschaftlichen Vorgängen, dass unsere Arbeit sich in der kommenden sozialistischen Gesellschaft praktisch und massenmässig durchsetzen kann. Es ist nicht ganz selbstverständlich, dass eine sozialistische Gesellschaft -- das lehrt die Sowjetunion -- unsere Anschauungen und unsere Arbeit ohne weiteres und widerstandslos begreifen und zur Praxis zulassen wird. Das darf nicht missverstanden werden: Wir beteiligen uns am gesellschaftlichen Kampf des Sozialismus nicht, um uns dann einen Platz zu sichern, sondern weil der Sieg

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des Sozialismus die Voraussetzung unserer Arbeit in vollem Umfange ist.

Von diesem Standpunkt her wollen wir uns nun über die gegenwärtige Situation orientieren, besonders soweit sie die Frage betrifft: Inwiefern verändert die massenpsychologische Fragestellung die Anschauung der Dinge in der Politik ?

Man wirft uns gelegentlich vor, dass wir "Katastrophenpolitikier" wären, weil wir nämlich sagen, die eigentliche Katastrophe der revolutionären Bewegung stehe noch bevor. Deutschland wäre nur ein Auftakt gewesen. Wir müssen uns selbst korrigieren und hinzufügen: Die Katastrophe kommt sicher, wenn nicht eine Wendung, und zwar eine sehr gründliche und radikale Wendung, in der Gesamtarbeit des revolutionären Sozialismus eintritt. Wenn wir uns nun heute in der sozialistischen Bewegung umsehen, so können wir mit Freude feststellen, dass diese Wendung bereits eingesetzt hat, wenn auch noch sehr unklar, wenn auch noch sehr unvollständig, jedoch mit sicheren Anzeichen. Die Katastrophe, von der wir immer sprechen, kann noch immer eintreten, aber es sind bereits sehr hoffnungsvolle Anzeichen vorhanden, dass sie nicht mehr unbedingt eintreten wird oder muss. Versuchen wir nun Vorgänge, die in der Richtung der Katastrophe liegen, einigen typischen Vorgängen im politischen Kampf der Sozialisten gegenüberzustellen, die uns berechtigen, die Wendung festzustellen.

In der Richtung der Katastrophe wirken Vorgänge folgender Art:
Während reaktionäre Offiziere mit Fremdenlegionären und Marokkanern einen Aufstand gegen die bürgerlich-demokratische Regierung Spaniens unternehmen und sowohl von Deutschland wie von Italien offen vor aller Augen mit Waffen beliefert werden, hält das sozialistische Kabinett Frankreichs an einer hoffnungslosen, katastrophalen Neutralitätspolitik fest. Desgleichen versäumte die Sowjetunion, den Angriff der Faschisten sofort und schlagkräftig mit der gleichen Massnahme zu beantworten. Das war die Wirkung der Zuversicht auf Bündnisse mit bürgerlichen Regierungen. Als wir die Litwinow'sche Friedenspolitik zwar als sehr geschickt, aber gleichzeitig als unsozialistisch, nicht proletarisch-international charakterisierten, wurden wir mit anderen unter die "Helfer der Reaktion" eingereiht. Es ist nun eine hoffnungsvolle Wendung eingetreten, indem der linke Flügel unter Dimitrow die Litwinowpolitik unterbrach und, wenn auch sehr spät, wieder in die korrekte Bahn der solidarischen Aktion eines sozialistischen Staates einlenkte. Wir sagen "wenn auch spät", denn spät war es wirklich, vielleicht zu spät. Die Verspätung der sowjetrussischen Hilfe kostete zehntausenden sozialistischen Kämpfern in Spanien das Leben und gefährdete den Gesamtausgang der spanischen Revolution. Ob es sich nur um eine Geste handelt, wie manche behaupten, wird ja die Zeit lehren. Das kann man heute nicht wissen. Doch die Ereignisse werden er-

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barmungslos jede Phrase entlarven. Wir warten also auf weitere Taten Dimitrows.

Es gibt heute niemanden in der sozialistischen Bewegung, der die sehr verwickelten und neuartigen Zusammenhänge in den sozialen Kämpfen, die wir durchleben, mit einem überschauen, erfassen und begreiflich machen könnte. Doch es lassen sich hier und dort von dem einen und dem andern unserer Mitkämpfer einzelne neuartige Vorgänge sichten. Während bis vor einem halben Jahre alte, verkrachte, unbrauchbare Anschauungen und Dogmen den Widerstand gegen den Vormarsch der politischen Reaktion bremsten, sehen wir heute ein Stück des Umbaus und der Wendung darin, dass sich ganz allgemein, unabhängig voneinander an vielen Orten der Welt, die Erkenntnis mit Sicherheit durchringt: Mit den bisherigen Mitteln geht es nicht weiter. Es muss andere Methoden geben, die den Schwierigkeiten, die der Faschismus mit sich gebracht hat, gewachsen sind. Ein Stück der alten unbrauchbaren, zur Katastrophe führenden Methoden ist es, wenn z.B. sozialistische Zeitungen sich "objektiv" gebärden und neben den Berichten der Madrider Regierung, um "gerecht" zu sein, die Berichte von Burgos bringen. Diese "Objektivität" ist ein gefährlicher Missgriff in der Politik von Sozialisten. Der Gegner ist nicht objektiv, im Gegenteil, er bemüht sich sehr darum, jede irgendwie für ihn gefährliche Meldung der Madrider Regierung dem Publikum zu unterschlagen.

In der Richtung einer schweren, katastrophalen Verunglimpfung und Schädigung der sozialistischen Bewegung liegt der Trotzkisten-Prozess in Moskau. Dieser Prozess hätte niemals in dieser Weise und nie mit der Erschiessung der Genossen Lenins enden dürfen, unter keinen Umständen. In der sozialistischen Welt hat nicht nur die Erschiessung der alten Leninisten, sondern auch ganz besonders die unmögliche, den Leser dumm-machen-wollende Prozessberichterstattung katastrophal gewirkt. In der gleichen Linie liegt, mag das nun so oder so begründet sein, die Internierung Trotzkis. Keiner, der den sozialistischen Kampf wirklich bejaht und kennt, kann dazu ja sagen. Es geht nicht nur um Prinzipien des Asylrechts, sondern es geht auch um den Revolutionär Trotzki, mag er auch das oder jenes tun oder denken, womit der oder jener "nicht einverstanden" ist; das ist hier vollkommen gleichgültig. Niemals darf die sozialistische Bewegung vergessen, dass Trotzki der siegreiche militärische Leiter der russischen Revolution war. Es ist ein Zeichen hoffnungsvoller Wendung, dass sowohl der Trotzkistenprozess in Moskau als auch die Internierung Trotzkis eine kräftige Gegenbewegung, Kritik und Protest erweckt haben.

Es war ein Stück der Vorbereitung der Katastrophe, dass diejenigen, die die Volksfront bildeten, mit Sozialisten in Konflikt gerieten, die gegen die Volksfront waren. Sofort hatten sich zwei Lager gebildet: für oder gegen Volksfront. Man spricht so viel und so gern

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von Dialektik, aber an dieser Stelle, wo sie sozusagen mit Händen zu greifen ist, versagte der dialektische Mut. Wir werfen damit eine sehr wesentliche Frage auf, die wir als die zentrale Frage der sich bildenden zweiten Front der Arbeiterbewegung behandeln wollen. Wer den Krieg mitgemacht hat, kennt folgenden typischen Hergang: Der Feind hatte angegriffen, durchbrach eine Reihe von Verteidigungsstellungen, machte einen angriffsmässigen Vormarsch unmöglich. Eine Reihe von Stellungen wird in vorderster Linie von ermüdeten, abgehetzten, nicht genügend mit Waffen und Essen versehenen Truppenabteilungen gehalten. Sie sammeln sich, formieren sich, um den Durchbruch des Feindes zu bremsen. Während dessen formiert sich hinter dieser ersten Linie eine zweite Front, die die Absicht hat, nicht nur die Truppen in der vordersten Linie zu unterstützen, sondern darüber hinaus zum Angriff überzugehen. Man stelle sich nun vor, dass die führenden Personen der Truppe der ersten Front erklären würden: "Wir allein können den Feind schlagen, endgültig besiegen, wir haben das Recht auf unserer Seite"; während die sich bildende zweite Front erklären würde: "Nein, diese vorderste Truppe ist schlecht, sie muss verschwinden, nur wir können es schaffen." Eine solche Situation wäre unmöglich ! Wie ist es in Wirklichkeit ? Übertragen wir das Beispiel auf den Kampf der Arbeiterbewegung. Die deutschen Faschisten durchbrachen die Front der Sozialisten, vernichteten ihre Stellungen, machten eine Offensive seitens der revolutionären Bewegung unmöglich, vorläufig wenigstens. Es gibt demokratische Länder, in denen der Faschismus noch nicht eingebrochen ist und in denen sich demzufolge Volksfrontregierungen bildeten, denen es tatsächlich gelang, vorläufig wenigstens gelang, nicht nur den Vormarsch des Faschismus zu stoppen, sondern ihn auch an wesentlichen Punkten zurückzudrängen. Wie stehen wir nun zur Frage der Volksfront ? Werden wir leugnen, dass sie den Zweck, den sie in dem Augenblicke ihrer Bildung hatte, erfüllt hat ? Nein, denn sie erfüllte ihre Funktion, die sie zunächst hatte. Wäre es besser gegangen, wenn sich die Volksfront nicht gebildet hätte ? Bestimmt schlechter. Bestimmt wäre dann die Katastrophe sowohl für die bürgerliche Demokratie wie für die sozialistische und bürgerlich-demokratische Bewegung sofort und unaufhaltsam gekommen. Man hat also gar keinen Grund zu schreien: "Weg mit der Volksfront", ehe man sich vergewissert hat, ob man auch selbst in der Lage gewesen wäre, an Stelle der Volksfront etwas Besseres hinzustellen. Können wir nun die Behauptungen der Volksfrontsozialisten bestätigen, dass die Volksfront auch tatsächlich das Ziel der sozialistischen Bewegung erkämpfen kann und wird ? Nein, das können wir nicht. Wir müssen eben unterscheiden zwischen der aktuellen Funktion, die die Volksfront im Augenblick ihrer Bildung hatte, und dem Endziel der gesamten sozialistischen Bewegung. Die Volksfront ist die mühselig gesammelte, rekonstruierte, schlecht versehene und schlecht verpflegte Truppe in den noch erhalten gebliebe-

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nen Frontabteilungen, die im Kampf mit dem Feind stehen. Sie kann ihn aufhalten und sie tut es auch, doch sie wird ihn nicht endgültig schlagen. Die zweite Front, die sich nun hinter der Deckung durch die erste Front bildet, hat nun nicht etwa die Funktion, die Volksfront zu beschimpfen, sondern sie dort zu stärken, wo sie ihre Funktion erfüllt, jedoch dort zu ersetzen, zu korrigieren, wo sie die Vorbereitung für den vollen Sieg über den Gegner schädigt oder unmöglich macht. Wir sagen: ersetzen, nicht bekämpfen, nicht untätig kritisieren, sondern ersetzen ! D.h. Teile der Kämpfer der zweiten Front rücken allmählich in die erste, vorderste Front ein, um die Breschen auszüfüllen und es besser zu machen. Zwischen Volksfront und revolutionärer Arbeiterbewegung besteht kein Gegensatz, sofern es um verschiedene Funktionen der aktuellen Gegenwart geht, doch es besteht ein Gegensatz in Bezug auf die Erringung des Endziels. Das, was hier an einem Beispiel geschildert wurde, spielt sich vor aller Augen in Spanien ab. In Madrid herrscht die Volksfrontregierung Caballero. Die Anarcho-Syndikalisten und die POUM (Arbeiterpartei für marxistische Einheit) sind prinzipielle Gegner der Volksfront; aber als es galt, Madrid gegen die Faschisten zu verteidigen, rückte von Katalonien die zweite Front mit 40.000 Mann zur Unterstützung ihres "prinzipiellen Gegners", der Volksfront, nach Madrid. Doch was sich in Spanien aktuell im Bürgerkrieg abspielt, ist nur sozusagen der Kern dessen, was sich allgemein international vorbereitet. Diesen Prozess der Reifung der zweiten Front muss man aufmerksam verfolgen und ihm helfen. Er ist noch teilweise unklar und hilflos, doch schon sehr kräftig, ein in Nöten geborener, doch hoffnungsvoller Sprössling bester revolutionürer Traditionen.

In der allgemeinen Diskussion der Arbeiterbewegung kommt unseres Erachtens folgendes viel zu sehr in den Hintergrund: In den Nachkriegsrevolutionen spielte sich der Klassenkampf innerhalb einer Nation ab, und die anderen Nationen intervenierten vom Standpunkt des kapitalistischen Staates. Jetzt ist die Klassenfront erweitert worden, indem nämlich nicht nur innerhalb einer Nation, sondern, was viel wesentlicher ist, Staatenverbände einander im Sinne des Klassenkampfes gegenüberstehen. Der Kampf um die sozialistische Gesellschaft ist damit nicht nur auf eine breitere Basis gestellt, sondern auch auf eine höhere Stufe gehoben worden. Im wesentlichen stehen einander als zentrale Kräfte Deutschland-Italien auf der einen Seite, die Sowjetunion und (sehr fraglich) Frankreich auf der anderen Seite gegenüber. Die bürgerlich-demokratischen Länder sind in ihrer endgültigen Stellung allzu unsicher, vielleicht entscheidend, aber nicht mehr die Träger des kommenden gesellschaftlichen Kampfes.

Ein gutes Zeichen der Sammlung der zersplitterten sozialistischen Bewegung ist, dass zum ersten Male in ihrer Geschichte die Anarchisten und Anarcho-Syndikalisten in geschlossener, organisierter Front gegen die politische Reaktion siegreich auftraten. Die Anarchisten-

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Bewegung, die leider und zum Schaden der Arbeiterbewegung bisher entweder verlacht oder bekämpft wurde, wird selbst die Frage beantworten müssen: In welcher Weise löst der Anarchismus das Problem des Überganges von der staatlichen Organisation des Kapitalismus zur sich selbst steuernden sozialistischen Gesellschaft ?

Als ein besonders wertvolles und erfreuliches Zeichen der beginnenden Neuformierung ist die Zuerkennung des Friedens-Nobelpreises für Carl Ossietzky anzusehen. Hier ging, was heute nicht sehr oft geschieht, die sachliche Beurteilung eines Tatbestandes aussenpolitischen Rücksichten vor. Wir freuen uns darüber mit Ossietzky.

Was jetzt gesagt werden soll, wird nicht sofort und leicht verständlich sein, doch es ist unerlässlich zum Verständnis der heutigen Weltsituation. Klassenmässig soziologisch gesehen, besteht ein Kampf zwischen Kapital und Arbeit, zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse. Das ist richtig. Doch unsere prinzipielle Frage nach der Wirkung der Ideologie und Struktur der unpolitischen Masse auf den gesellschaftlichen Kampf verändert sofort dieses an sich richtige Bild. Im lebendigen Leben stehen einander nicht Kapitalisten, etwa die "200 Familien", und Arbeiter gegenüber, schiessen nicht Millionen Arbeiter auf tausend Kapitalisten oder tausend Kapitalisten auf Millionen Arbeiter, sondern: Es kämpfen Teile der unterdrückten Klasse selbst gegeneinander. Die Massen der faschistischen Sturmtruppen sind keine Kapitalisten, sondern Arbeiter, Angestellte, kleine Kaufleute u.s.f. Die 40.000 Marokkaner und Fremdenlegionäre vor Madrid sind keine Kapitalisten, sondern infolge des Imperialismus verkommene Angehörige der arbeitenden Klasse Marokkos und anderer Länder. Es ist eine unerlässliche Aufgabe der sozialistischen Bewegung, diesen Zustand aufzuheben, um leichter, in kürzerer Zeit und mit weniger Opfern seitens der Revolution zum Siege zu kommen. Wir können von hier aus weder die Struktur noch die Ideologie der marokkanischen Fremdenlegionäre beurteilen, um sagen zu können, wie man sie ideologisch zersetzen und gewinnen könnte. Man tut es bestimmt nicht, wenn man sie samt und sonders als "Faschisten" hinstellt. Natürlich stehen sie im Dienste des Faschismus, aber bestimmt sind nicht alle Reaktionäre. Diese Tatsache spielte ja im Kampf in Wien 1934 eine so grosse Rolle; die Söhne von Arbeitern schossen als Soldaten auf die Arbeiterhäuser, und nicht Mendel und nicht die Besitzer des Bankvereins.

Ein steirischer Holzarbeiter, früherer sozialdemokratischer Bürgermeister des Ortes, sagte mir in einem Gespräch über die Lage der Arbeiterschaft: "Sieh mal, wir verehren unsere Führer, die kämpften und jetzt teilweise emigrieren mussten. Aber was sie uns heute schreiben, können wir im Kleinkrieg im Lande nicht anwenden. Das ist uns zu hoch, keiner versteht es wirklich. Sie müssten uns Tatsachen folgender Art erklären: Ich hatte einen guten Freund, auch Arbeiter, der mit uns kämpfte. Vor kurzem wurde er Gemeindebeamter und

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bekam eine Uniform. Seither habe ich gegen ihn und hat er gegen mich ein Gefühl der Fremdheit. Wir verstehen einander nicht mehr so gut, die Uniform stört. Wie geht das vor sich ? Es ist doch eigentlich derselbe Mensch, und doch nicht derseibe."

Ja, er ist noch Arbeiter, aber gleichzeitig innerlich (über die Uniform) Vertreter des Staates geworden, im Prozess der Identifizierung mit diesem, im Prozess der Überwindung des proletarischen Kleinheitsempfindens mit Hilfe der Uniform, und daher auch kein Arbeiter mehr, kein Freund mehr.

Die Beziehung der herrschenden Klasse der Kapitalisten zu Polizei, Staatsapparat und Heermacht ist im Grundzug dieselbe geblieben wie überall vor 40 Jahren oder in Russland noch vor 20. Im alten Russland war es tatsächlich so, dass der Fabrikbesitzer, dessen Arbeiter streikten, ans Telefon ging, den Polizeichef der Stadt, der sein Skatfreund war, anrief und ihn ersuchte, eine Abteilung Polizei gegen die Arbeiter zu schicken. Im Amerika von heute ruft Morgan den Polizeichef von New York bestimmt nicht an, wie es der russische Kapitalist tat. Es ist unerlässlich, die gesellschaftlichen und nicht die persönlichen Beziehungen zwischen den Millionären und dem Staatsapparat nicht nach dem Muster des alten Russland zu phantasieren, sondern wirklich zu erfassen, zu wissen, wie heute die Beziehung zwischen den Vertretern der Staatsmacht und den Besitzern des Kapitals ist.

Ein paar Worte noch zu der Situation, wie sie sich seit dem neuen Kurs in der Sowjetunion gestaltet. Wenn nicht alles trügt, musste der Staats- und Militärapparat der Sowjetunion, der seiner inneren Organisation und Struktur nach heute kein sozialistischer Apparat der Werktätigen, sondern ein staatlicher Apparat über den Werktätigen ist, im Interesse der Verteidigung des sowjetrussischen Staates ein Bündnis eingehen mit den internationalistisch-revolutionären Kräften, deren Repräsentant Dimitrow ist; die verfehlte Aussenpolitik Litwinows musste im letzten Augenblick korrigiert werden, um nicht sehr fraglichen Bündnissen mit bürgerlichen Regierungen zum Opfer zu fallen. Anders ausgedrückt: Der revolutionäre internationalistische Flügel der Sowjetunion bedient sich des militärischen Apparates des Sowjetstaates, um wieder seine internationalistischen Solidaritätsinteressen durchzusetzen. Zur unerlässlichen Arbeit der sich bildenden zweiten internationalen sozialistischen Kampffront gehört auch folgende Frage:

Die Arbeiterbewegung hat von jeher, soweit sie korrekt dachte, die bürgerliche Demokratie nicht als rückschrittlich, sondern als fortschrittlich aufgefasst. Doch es wurde klar, dass die Fortschrittlichkeit der bürgerlichen Demokratie an bestimmten Punkten der gesellschaftlichen Entwicklung in ihr Gegenteil, in eine Bremsung des Fortschritts umschlägt. Es gibt eine natürliche Grenze in der Entwicklung der bürgerlichen Demokratie. Wir stossen auf diese Grenze, sobald der demokratische Freiheitsgedanke entweder auf die reaktio-

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nären, moralischen Haltungen von Kirche, Kleinbürgertum und Kleinbauernschaft trifft. Die Reformen versagen dann. Die politische Reaktion rüstet sich nun zum vernichtenden Kampf gegen die fortschrittliche Demokratie. In diesem Kampf zwischen Demokratie und politischem Konservativismus bzw. Reaktion greift nun regelmässig die Masse der Arbeiterschaft mit ihren revolutionären Tendenzen ein. Die soziale Revolution bedeutet in diesem Falle nichts anderes als die Fortsetzung der Linie des gesellschaftlichen Fortschritts, die die bürgerliche Demokratie eingeführt hatte; sie hat sie dort weiterzuführen, mit anderen Mitteln und auf anderen Grundlagen, wo die Grenze der bürgerlichen Demokratie sich findet. Wir sehen heute die faschistischen, reaktionären Länder im Kampf gegen die demokratischen Staaten stehen, die notgedrungen ein Bündnis mit der äussersten Linken und der Mitte der Arbeiterbewegung eingehen mussten. Wenn man uns also von bürgerlich-demokratischer und sozialdemokratischer Seite entgegenhält: "Es geht ja doch vorwärts"; dann müssen wir dem hinzufügen: "Richtig, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. An dieser Grenze müssen die bürgerlich-demokratischen Parteiführungen sich überlegen, ob sie sich auf die Seite der politischen Reaktion oder auf die Seite der revolutionären Bewegung stellen wollen." Das trifft die Frage der Aufrüstung.

Die Kriegssituation gibt unseren Theoretikern viel zu schaffen. Es ist auch nicht leicht, sich auszukennen. Man wartet auf den Ausbruch des Krieges, doch der Krieg ist bereits in vollem Gange und ausdrückliche Kriegserklärungen nach altem Muster werden kaum erfolgen. Der Krieg ist also nicht mehr zu verhindern. Das wäre durch korrekte Politik dem Faschismus gegenüber seit 1923 möglich gewesen. Wir können somit den Krieg nicht verhindern, aber wir können alles tun, um den Ausgang des bereits tobenden Krieges so zu gestalten, wie wir es wollen, und nicht so wie die Faschisten. Schon heute vorbereiten, die Massen zu diesem Ende hinführen, die Fragen aufreissen, die der bereits ausgebrochene Krieg aufwirft, ist eine weitere Aufgabe der zweiten Front. Wir verlieren alles, wenn wir theoretisch herumdiskutieren, wie der (bereits ausgebrochene) Krieg zu verhindern wäre. Wir können alles gewinnen, wenn wir uns die kommende Entscheidung schon heute zu sichern beginnen.

Die faschistischen Staaten rüsten mit aller Macht zum Krieg und zur Vernichtung der bürgerlichen liberal-demokratischen Staaten. Für die Faschisten ist die Aufrüstung eine selbstverständliche Sache. Der bürgerliche Politiker und der Sozialdemokrat sehen sich vor die Frage gestellt, ob sie auch aufrüsten sollen oder nicht. Ihr Argument ist: "Wettrüsten ist schlecht, es führt den Krieg herbei." Das ist richtig, doch der Gegner rüstet ja unter allen Umständen; und wenn ich nun in einen Kampf gezwungen werde, so gehe ich lieber mit der Waffe in der Hand, als dass ich mich wehrlos zu Boden schlagen lasse. Die Frage, ob man aufrüsten soll oder nicht, ist falsch gestellt, denn es

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bleibt kein anderer Weg als der, aufzurüsten. Die Kernfrage ist: Wer soll aufrüsten und wem wird die Verteidigung des bürgerlich-demokratischen Organisationszustandes übertragen ? Die Entwicklung Spaniens in den letzten vier Jahren hat nicht nur der revolutionären Bewegung, sondern auch der bürgerlich-demokratischen Richtung spürbare Lehren erteilt. Die Aufrüstung zur Verteidigung der noch vorhandenen bürgerlich-demokratischen Organisationen kann auf keinen Fall reaktionären, jederzeit zur faschistischen Gleichschaltung bereiten Offizierskorps überlassen werden. Die sozialdemokratischen Regierungen pflegen in solchem Fall die Stellung einzunehmen, die Heeresorganisationen, so wie sie bestehen, "demokratisch zu kontrollieren". Es ist von vornherein klar, dass eine derartige demokratische Kontrolle auf dem Papier bleibt und nicht die geringste Macht über einen fest organisierten, hierarchisch aufgebauten militärischen Apparat hätte. Die Verteidigung eines bürgerlich-demokratisch organisierten Landes gegen den Faschismus ist also unerlässlich, doch diese Verteidigung kann, muss und soll einzig und allein der werktätigen Bevölkerung, den Arbeitern, Bauern, Angestellten und einfachen Soldaten anvertraut werden. In einem Kriege ist das arbeitende Volk sowieso bewaffnet. Doch es müsste nicht nur bewaffnet sein, sondern auch selbst mit seinen Waffen über seine eigenen Schicksale Entscheidungen treffen und nicht, wie es in dem heutigen militärischen Apparat der Fall ist, der Ideologie und der Macht einer der Oberklasse zugehörigen Offiziersschicht unterworfen sein. Demokratisch oder sozialistisch gesinnte Offiziere können und sollen bereits im Volksheere arbeiten und Leiter militärischer Aktionen sein, aber sie sollen nicht selbst bestimmen dürfen, gegen wen sich die militärische Aktion zu richten hat. Das können einzig und allein diejenigen bestimmen, die die Kosten der gesellschaftlichen Organisation incl. der militärischen tragen, und es am eigenen Leibe zu verspüren haben, ob sich militärische Aktionen dahin oder dorthin richten. Notwendig ist also die Ersetzung der heutigen Hierarchie von reaktionären Offizieren alter militärischer Organisationen durch Volksmilizen, die über den gesamten Apparat verfügen. Wer hier entgegenhalten sollte: "Ja, wie sollte man denn das Werk durchführen, das ist doch eine Utopie", dann müsste man antworten: "Man kann nicht zur Heeresleitung hingehen und vorschlagen, sie soll sich derart ersetzen lassen, sondern in der noch möglichen Diskussion dieser Frage kann und wird sich massenmässig die Einsicht durchringen, dass die Ersetzung des Offizierkorps durch eine aus der arbeitenden Bevölkerung entstandene Leitung der Politik der umgebauten militärischen Organisation der einzige Ausweg ist", vorausgesetzt, dass nicht die Vertreter der arbeitenden Bevölkerung, seien sie nun Sozialisten oder liberale Demokraten, statt Klarheit nur begriffliche Verwirrung in die Diskussion hineintragen. Die Aufrichtung von Volksmilizen, die technisch auf der Höhe sind, ist möglich und durchführbar.

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Den Kern der zweiten Front bildet heute der revolutionäre Flügel der spanischen Antifaschisten: CNT, FAI, AIT und POUM:

Anarchisten und revolutionäre Marxisten in Einheit, das Prinzip der persönlichen Freiheit und gesellschaftlichen Selbsteuerung Hand in Hand mit dem Prinzip der organisierten Führung des revolutionären Kampfes.

Diese Einheitsfront zweier gleichzeitig notwendiger Prinzipien des revolutionären Sozialismus mitten im blutigen Kampfe mit den Mächten der Borniertheit, der materiellen Ausbeutung, sexuellen Verrottung, geistigen Verödung, ist der einzige Lichtstrahl in der Finsternis, den die Ausbreitung des imperialistischen Krieges geschaffen hat; in der Atmosphäre der Ohnmacht, der die Menschen überall verfielen, in der Gefahr des kompletten Unterganges, die die sexualhungrigen, perversen, machtgierigen, kultur- und geistlosen Francos und Molas aller Nationen unter Ausnützung ähnlich gebauter Menschen der unterdrückten Klasse heraufbeschwören.

Es ist die Pflicht aller Genossen, aller, die sehen, was sich heute begibt, und wohin es geht, den katalonischen Kameraden zu helfen, nicht nur Geld, Verbandszeug, Waffen und Lebensmittel zu schaffen, sondern auch die Argumente, die Klarheit, die Worte, die lebendigen Tatsachen, die verhindern könnten, dass fortschrittliche, liberale oder auf die bürgerliche Demokratie vertrauende Sozialisten sich gegen den Fortschritt, gegen den Schwung der revolutionären Massen, gegen die Vollendung der begonnenen Revolution wenden.

Die Sexpol muss sich voll und ganz zur spanischen Revolution bekennen. Doch Bekennen allein bleibt eine Geste ! Wir müssen, eingeschaltet in die Umwälzung der Zeit und ihrer Ordnung, die vollen Konsequenzen unseres Wissens, unserer Arbeit, unserer Mühen sichern. Unsere Arbeit wird nur in einer von der arbeitenden Bevölkerung selbst verwalteten Gesellschaft ihre volle Entfaltung erfahren und ihre gesellschaftliche Kraft beweisen können. Lassen wir uns durch das Fiasko der sowjetrussischen Sexualrevolution nicht entmutigen. Es wird unsere Aufgabe sein, es besser zu machen, zu beweisen, dass der sozialistische Umbau der Menschen keine Utopie ist, dass das, was wir beschreiben, begründen, erkämpfen, nicht eine Phantasie von uns ist, sondern eine Wirklichkeit, die in den Menschen lebt und nach Befreiung ringt. Die Gemeinschaft der Werktätigen wird uns einmal, vielleicht sehr bald, rufen, benötigen, um schwere Aufgaben zu lösen. Wir müssen uns parat machen. Unsere Fähigkeiten zur Leistung der uns gestellten Aufgaben Schritt um Schritt ohne Wanken gestalten, festigen ! Es wird nicht leicht sein !

Wir bringen im folgenden eine Übersicht über die bisherigen wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen der katalonischen revolutionären Regierung:

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ZPPS, Band 4 (1937), Heft 1 (12), S. 23-34

Karl Teschitz
Religiöse Ekstase als Ersatz der sexuellen Auslösung
Beobachtungen in einer religiösen Sekte

Im Folgenden will ich erzählen, was ich beim Besuch der Versammlungen der sogenannten Pfingstbewegung beobachtet und erlebt habe. Ich will damit einen Beitrag geben zur Lösung der wichtigen Frage, die die Sexpol stellt: Warum haben es die verschiedenen Arten von Unzufriedenen, Unglücklichen, Notleidenden in unserer Gesellschaft so schwer, einander zu verstehen, geschweige denn, sich zum Kampf um bessere Lebensverhältnisse zusammenzufinden ?

Wer Erfahrungen im Umgang mit religiösen Menschen hat, weiss, dass es meistens fast unmöglich ist, mit ihnen einig zu werden, wenn es darauf ankommt, irgendwelche soziale oder menschliche Beziehungen wirklich nüchtern und sachlich zu beurteilen. Immer wieder leiten sie mit einem Gedankensprung über zum "Wort Gottes" oder zur "christlichen Lebensauffassung". Es ist etwas in ihnen, was allen logischen Argumenten mit ungeheurer Kraft Widerstand leistet. Glücklicherweise geben uns die Entdeckungen der sexualökonomischen Wissenschaft die Möglichkeit in die Hand, auch dieses scheinbar "unvernünftige" Verhalten mit den Mitteln vernünftigen Denkens zu verstehen.

Warum wir uns gerade Sektenleute zu unseren Beobachtungen aus-

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gesucht haben ? -- Vor allem deshalb, weil sie leichter zu beobachten sind als die gewöhnlichen Kirchenchristen. Was jene bloss "im stillen Kämmerlein", "ganz innerlich" erleben, das zeigen die Sektenchristen öffentlich, laut, verstärkt und vergrössert, wie in einem Vergrösserungsspiegel: Die Karikatur enthüllt Züge, die auf der Photographie verborgen bleiben.

Wir fassen nun die Beobachtungen an mehreren Abenden so zusammen, als ob sich alles an einem Abend zugetragen hätte.

***

Ein ziemlich heisser Sommerabend. Trotzdem sind in dem Saal, in dem der Gottesdienst stattfindet, etwa 300 Menschen (der Saal hat eine Galerie und dürfte im ganzen etwa 500 Menschen fassen). Genau wie im Kirchengottesdienst ist ein grosser Teil der Zuhörer ältere Frauen. Sie haben nicht das abgehärmte, aber doch straffe, fast knochige Aussehen von Arbeiterinnen, die lange im Betrieb gestanden haben, oder von Bäuerinnen. Sondern ihre Gesichtszüge sind bleich, fast schwammig und dabei müde und ausdruckslos, die Figur oft unförmig durch falschen Fettansatz. So wird eine Frau, wenn sie 10, 20 oder 30 Jahre in einem engen Heim geschaltet und gewaltet hat, ohne jemals Sport zu treiben, ohne "geistige" Interessen, beschäftigt allein mit Haushalt, Kindern und Klatsch mit den Nachbarinnen. Die Frau da vorne kenne ich übrigens. Sie hat einen kleinen Grünzeugladen um die Ecke, ihr Mann ist Handelsreisender und meistens auf Reisen, hat sie mir einmal geklagt.

Doch neben diesen typischen Kirchenbesucherinnen gibt es eine Anzahl jüngerer Frauen und Männer, viele mit einem merkwürdig starren, fanatischen Blick. Ferner auffallend viel Jungens und Mädels im Alter von 18-25 Jahren (mehr als in einer gewöhnlichen Kirche).

Statt eines Altars hat der Saal ein grosses Podium, auf dem eine Menge jüngerer Frauen mit Lauten, auch ein paar Männer mit Geigen sitzen. Die Mädels sehen alle so schrecklich brav aus. Kaum eine, die ich mir auf einem lustigen Abend vorstellen könnte. Ich glaube, wenn sie nicht hier sind, sitzen sie abends zuhause und helfen ihrer Mutter beim Nähen, oder sie wohnen auf Wunsch der Familie zu zweit in einem Zimmer, passen aufeinander auf und beschützen sich so gegenseitig vor den Versuchungen des Lebens.

Aber hier sind sie eigentlich so munter, als man in einer christlichen Versammlung nur sein kann. Denn der Gesang, der jetzt beginnt, ist kein langsamer, feierlicher, Kirchenchoral, sondern eine frohe, rasche volksliedartige Melodie, wie sie für die englische und amerikanische Methodistenbewegung charakteristisch ist. Auch der Text ist eindringlicher und persönlicher, nicht so steif und feierlich wie die meisten Choraltexte. Schon dieser, von klimpernden Lauten und Geigen begleitete Gesang schafft eine ganz andere Stimmung, als der Choralgesang in der Kirche. Dieser wirkt auf mich einschläfernd;

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bei den methodistischen Melodien kann man richtig aufwachen, wobei auch der Anblick der munteren Lautenspielerinnen auf dem Podium seinen Verdienst hat.

Die Pfingstbewegung nennt sich nicht umsonst "Erweckungsbewegung". Aus dem Gefühl heraus, dass das Kirchenchristentum geistig tot ist, hatten sich um die Jahrhundertwende in England, Amerika, auch Australien, innerhalb der methodistischen Kirche Zirkel gebildet, die sich durch gemeinsames Gebet ganz systematisch auf eine religiöse Erweckung vorbereiteten. Die Pfingstbewegung verbreitete sich seit 1901 von Los Angeles aus über die ganze Welt; Sinclair hat in »Petroleum« ihre Anfänge geschildert. In Europa verbreitete sie sich von Norwegen aus, wobei T. B. Barratt -- noch heute Leiter der norwegischen Gruppe -- eine entscheidende Rolle spielte.

Aber kehren wir zu unserer Gemeinde zurück. Als der Gesang zu Ende ist, betritt ein Prediger das Podium. Seinem Gesicht fehlt, wie bei vielen religiös sehr aktiven Protestanten, jeder männliche Charme. Es ist in diesen Gesichtern etwas wie abgestandenes Wasser.

Dabei spricht er mit grosser Sicherheit, man möchte eher sagen Routine. Er beherrscht die Versammlung wie ein sehr geübter Musiker sein Instrument. Er beginnt mit einer Bibelstelle und gibt dazu die Auslegung. Ganz ruhig zunächst.

"Darum komm nieder zu dem alten Kreuz, wer du auch seist, und empfange mit kindlichem Glauben die reinigende Kraft der Versöhnung." Seine Stimine ist jetzt etwas gehoben, eine Bewegung geht durch die Versammlung. Da springt es auf einmal über wie ein Funke: Eine Frau neben mir stöhnt laut.

"Das reine Leben, das du suchst, die vollkommene Ruhe, die Erfahrung der vollkommenen Gemeinde..." Ich kann der Predigt nicht mehr folgen, rings um mich stöhnen mehrere laut und tief "Oh".

"Denn Jesus hat uns erlöst."

"Ja Jesus !" ruft ein Mann neben mir ganz laut dazwischen. Bin ich noch in einem Gottesdienst ? Warum stört er den Prediger ? "Hallelujah" ruft einer hinter mir. Ich drehe mich um. Er hat die Hände in die Luft gestreckt.

"Er hat das Werk der Versöhnung vollbracht, das Werk der Versöhnung, von dem es beim Propheten Jesaia heisst..." Aber ich kann die Predigt nicht mehr richtig wiedergeben, es sind aneinandergereihte Sätze ohne richtigen logischen Zusammenhang. Es braust wie ein ferner Wasserfall. Und dazwischen leuchtet ein Wort auf: "Rein gewaschen von allen Sünden hat uns sein Opferblut." Beim Wort Blut überfällt es die Frau neben mir wie ein Krampf, ihr ganzer Körper schüttelt sich und zuckt zusammen, Tränen laufen ihr über die Backen. Der ganze Saal ist in Bewegung. "Komm, Jesus !" schreit es von hinten, "hallelujah!" von der Seite. "Lapakadizelowikadu" betet eine junge Zungenrednerin. Ihr glattes, ausdrucks-

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loses Gesicht -- es war etwas Mehliges darin -- hat einen verklärten, fast verliebten Ausdruck bekommen.

"Wir müssen nur beten, dass sein Geist über uns komme. Er kann kommen jetzt, in diesem Augenblick, in dieser Stunde, wenn wir nur wollen. Dann kommt seine Kraft über uns, dann leuchtet sein Licht in uns. Oh diese wunderbare Kraft ! Mit glühenden Zungen fuhr diese Pfingstkraft in das Volk, das versammelt war, den Aposteln zu lauschen. Warum? Das war die Macht des heiligen Geistes...

"Oh Jesus !" "Komm Jesus !" "Lapakaduzimo..." Von allen Seiten fallen die Stimmen ein. Stöhnen, vornüber niedergesunkene Gestalten, in die Luft gereckte Arme. Einsame stille Beter für sich. Dazwischen auch viele, die ganz ruhig und scheinbar unberührt dasitzen. Es ist, als bräche in diesem Rufen und Schreien etwas ungeheuer Schweres und Schmerzliches durch, das auf all diesen Menschen lastet; und zugleich die Freude, sich hier einmal ausschreien, ausweinen zu dürfen. Und ob auch jeder, ganz persönlich für sich stöhnt und ruft und schreit, so stimmt doch alles irgendwie harmonisch zusammen und bildet eine Begleitmusik zu der Predigt, ohne sie jemals zu übertäuben.

Und wieder nennt der Prediger das Blut und wieder drückt eine unsichtbare Hand der Frau neben mir das Zwerchfell zusammen. Es ist eine ältere Frau, etwas bleich und hager. Würde ich ihr auf der Strasse begegnen, ich würde niemals denken, dass sie hier... Aber sie erinnert mich an jemand. An die älteren Frauen mit gelben Hälsen, die am Strassenrand am Eingang des Tempelhofer Feldes standen, als der Führer am ersten Mai 1933 vorbeischritt. Sie riefen mit den gleichen tiefen, stockenden Atemzügen "Heil, heil". Und der Kamerad neben mir sagte: "Pfui die Schweine, die holen sich richtig een runter." Ja der Führer und Christus und Christi Blut und Blut und Boden...

Doch nun war unser Prediger zu Ende. Die ganze Versammlung kniete nieder zum Gebet. Dabei stützte man die Hände auf die Sitzflächen der Bänke und war auf diese Weise mit dem Kopf vom Podium abgewandt. Den Prediger, der vorzubeten begann, konnte man also nicht sehen, man blickte vielmehr über den Rücken der Hintermänner in den dunklen Hintergrund des Saales. Das ist für Konzentration und suggestive Beeinflussung vorteilhaft.

Nachdem der Prediger eine Weile vorgebetet hatte, war das Gebet sozusagen angekurbelt, und er konnte schweigen. Die ganze Versammlung betete nun laut weiter. Jeder etwas anderes. Viele schreiend, stöhnend. Einige fielen mit dem Kopf ganz auf die Bank oder sogar auf den Boden: Ähnlich, wie früher während der Predigt, nur dass diese Selbsttätigkeit der Versammlung fast noch unheimlicher wirkte.

Eine Frau in meiner Nähe weinte bitterlich. Eine Freundin trat auf sie zu, um sie etwas zu fragen. Blitzschnell wischte sie sich die Tränen ab und sprach mit der Freundin ganz gewöhnlich; wie eine Hausfrau, die die Nachbarin auf dem Markt beim Einkaufen trifft.

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Also war die Erregung doch nicht so ernst ? War hysterische SchauspieIerei dabei ? Bedenken wir, dass es in diesem Kreis als Zeichen göttlicher Gnade, als Verdienst gilt, aufgeregt zu sein, zu weinen, in Ekstase zu kommen.

Also alles nur Schauspielerei ? Gewiss nicht. Gespieltes und Echtes greifen ineinander. Auch bei denen, die sich künstlich in eine unechte Erregung hineinsteigern, muss eine echte Unruhe vorliegen, die sie veranlasst, ein Milieu aufzusuchen, wo Gelegenheit zum Spielen solcher Erregungen vorhanden ist. Genau so, wie wir von Schauspielerinnen wissen, die ihren Beruf unter anderem deshalb wählen, weil sie auf der Bühne Leidenschaften ausleben dürfen, die sie zwar auch im Lehen draussen haben, aber nicht zu äussern wagen.

Und da das Gebet zu Ende ist, kommt neuer Gesang und dann wieder eine Predigt und dann wieder Gebet. Und das wiederholt sich noch ein drittes Mal. Zweieinhalb Stunden dauert der Gottesdienst. Es ist wirklich so, dass auch starke Nerven mürbe werden können. Doch das ist wohl auch die Absicht.

Zwischendurch werden einmal Bitten um Gemeindegebete verlesen: "Bruder so und so bittet alle Brüder und Schwestern, für die Heilung seines schweren Asthmas zu beten. Wer bittet, dem wird gegeben werden. Hallelujah. -- Schwester so und so ist seit einem halben Jahr arbeitslos. Bitten wir alle zu Jesus Christus unserm Erlöser, dass sie bald eine neue Stellung bekommt." Und dann folgen Berichte über Gebetserhörungen: Der und der, für den wir gebetet haben, ist gesund geworden, hat Arbeit bekommen.

Was im Kirchenchristentum ganz fern und "innerlich" ist, wird hier handgreiflich vorgewiesen. Das wirkt. Und es bereitet die Versammlung zusammen mit dem wechselweisen Predigen, Rufen, Beten und Singen auf den Schluss vor.

Da wendet sich der letzte Prädikant zu Ende seiner Predigt an die ganze Versammlung: "Ist niemand, der heute abend erlöst werden soll ? Christus ruft. Er will Dich jetzt erlösen. In dieser Stunde."

Und da verstummen die Zwischenrufe, Hallelujahs und Oh-Jesus. Es wird totenstill, eine Spannung legt sich über die Versammlung, in die die Worte des Predigers fallen, wie Steine in ein tiefes Wasser.

"Niemand sage: Ich kann nicht. Christus hilft dir, wenn du bloss willst. Wer will vor die Gemeinde hintreten und die Hände zum Gebet falten ?"

Pause. Atemloses Schweigen, Warten.

"Wir wissen, es sind viele in diesem Saal, die noch nicht erlöst sind und die nach dem Wasser des Lebens schreien. Wer will kommen, jetzt in dieser Stunde ? 'Morgen kann es zu spät sein, morgen kann der Satan wieder Macht über dich gewonnen haben."

Wie muss das wohl sein, wenn man jetzt aufsteht und geht, denke ich und bemerke, wie selbst ich mich der Suggestion nicht ganz entziehen kann. Ich fühle Widerwillen und Neugierde zugleich.

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"Ich weiss", hämmert der Prädikant weiter, "dass viele nicht den Mut haben, vor die Gemeinde hinzutreten und die Hände zum Gebet zu falten. Noch sind sie gebunden durch der Sünde Macht. Aber Jesus hilft dir, wenn du ihn bittest."

Auf der Galerie höre ich eine Bank knarren.

"Wer will kommen und erlöst werden? Wer?"

Etwas vornübergebeugt schreitet ein junger Mann durch den Mittelgang und kniet vor der Bank am Podium nieder zum Gebet. Sofort ist ein Gemeindehelfer neben ihm, fasst ihn um die Schulter, legt sich förmlich auf ihn drauf und spricht, während er selbst betet, auf ihn ein. Er nimmt ihn sozusagen in den Schwitzkasten -- so nannten wir als Buben den Griff beim Ringen, wo der eine den Kopf des anderen unter seine Achseln zwängt und dann fest zudrückt.

Unser Junge am Podium wird mehr und mehr aufgeregt. Weinend sinkt er mit dem Kopf auf die Bank, während ihm der Gemeindehelfer ständig zuspricht. Und dann kommen auch Mädchen, denen Helferinnen zur Seite treten. Denn solche Auswüchse, wie sie vom Anfang der Pfingstbewegung aus Amerika berichtet werden, wo Negerfrauen im Taumel der Erregung die Arme um die Schultern der Männer schlangen, kommen bei uns natürlich nicht vor. Ob aber nicht trotzdem der Charakter dieser Erregung ein sehr, sehr ähnlicher ist... Im ganzen mögen es 6-8 junge Leute gewesen sein, die an diesem Abend vor die Gemeinde traten.

Nun leert sich der Saal. Ich stehe ein paar Minuten allein, beobachtend. Doch da kommt schon eine Frau von etwa 35 Jahren auf mich zu, schönes, regelmässiges Gesicht, aber starrer, fast stechender Blick, wie er viele der Sektenleute kennzeichnet. Sie hat entdeckt, dass ich offenbar ein Neuer bin.

"Sind Sie erlöst?" fragt sie ohne weitere Einleitung. "Nein, das bin ich nicht", sage ich etwas zögernd. "Wollen Sie nicht heute noch erlöst werden?" "Nein, ich fühle mich zu..." (zum Teufel, wie heisst denn nur der richtige Fachausdruck, ach ja) "gebunden". "Sagen Sie das nicht, es kommt nur darauf an, ob Sie wollen, ob Sie Jesus bitten, er hilft Ihnen". Setzt die einem zu, denk ich mir. Ich entschuldige mich. Muss mich erst bei euch einleben. Alles ist mir noch so neu. Ob ich vielleicht in den Raum nebenan gehen dürfe, wo ein Teil der Besucher hineingegangen ist. "In den Betraum ? Ja, natürlich".

Der Raum fasst nur etwa 100 Menschen, zugegen sind etwa 20-30. Sie sitzen z.T. und beten auf die gleiche ekstatische Weise wie im grossen Saal, schreiend mit erhobenen Händen oder auch nur flüsternd und schluchzend. Einige unterhalten sich auch ganz gewöhnlich miteinander. Niemand nimmt auf den anderen besondere Rücksicht, man fühlt sich durchaus ungeniert. Auffallend ist auch

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hier wieder die grosse Zahl ganz junger Menschen, sogar kleine Mädels mit 14, 15 Jahren sieht man ein paar.

Viele von den jungen Männern haben den bereits genannten eigenartig starren Blick, einige haben dazu auch einen starken Augentick, d.h. sie zucken ein paar mal in der Minute stark und krampfhaft die Augen zusammen.

Ich unterhalte mich mit einem der Jungens. Er hat den Augentick besonders ausgeprägt, ein etwas verschrumpftes Gesicht (obwohl er kaum älter als 24 Jahre sein kann), macht überhaupt einen schwer nervösen, kranken Eindruck.

Ob er Arbeit hat, frage ich. Nein, er ist seit ein paar Jahren arbeitslos und lebt zuhause beim Vater. Ob es denn nicht traurig ist, immer unselbständig zu sen und niemals Arbeit zu kriegen. Nein, das gar nicht. Er sucht auch keine Arbeit, denn es kommt überhaupt nicht auf irdische Dinge an. Seit wann er bekehrt ist ? Seit zwei Jahren.

"Wie war das, als Sie bekehrt wurden ? War das an einem bestimmten Tag?" "Ja an einem bestimmten Tag im August vor 2 Jahren". "Verzeihen Sie, ich selbst bin nicht bekehrt und kann mir das nicht so ganz vorstellen. Aber können Sie mir nicht ein bisschen beschreiben, was das für ein Gefühl war, als Sie bekehrt wurden ?" (Die Frage sieht vielleicht unpassend aus, aber ich erlaube mir die gleiche Ungeniertheit, die man sich mir gegenüber erlaubt hat.) "Das Licht der Erleuchtung kam über mich." "Aber was empfindet man dabei?" "Gott sprach zu mir."

Doch um es kurz zu sagen: Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass diese Sektenchristen über ihre Bekehrung nur in den traditionellen Formeln reden konnten. Zu einer wirklich persönlichen Beschreibung ihrer Erlebnisse sind sie nicht fähig. Nur wenige, besonders begabte Menschen geben uns genaue Beschreibungen des Bekehrungserlebnisses. Gesteigerte Unruhe und Angst (oft Gewissensangst) gehen ihm meist voraus, bewusste Vorbereitungen, Suchen, Beten, Sich-in-sich-selbst-versenken leiten es ein. Bis dann dieses mühevolle Streben auf einmal in ein dem bewussten Wollen nicht mehr unterworfenes Geschehen übergeht, die Nähe Gottes, seine Vergebung, seine Stimme unmittelbar gefühlt wird. Damit geht gleichzeitig eine körperliche Erleichterung, ein Gefühl von beglückender Befreiung, einher; oft auch ein Gefühl tiefster, jedoch nicht mitteilbarer Erkenntnis. Aber so ist es mit vielen dieser Berichterstatter: Wie genau sie auch ihre Erlebnisse beschreiben, sie sagen selbst, dass man das Eigentliche mit Worten gar nicht wiedergeben kann.

Unsere Sektenchristen sind dieser Klarheit über sich selbst nicht fähig. Die formelhafte Sprache, die sie gebrauchen, wenn sie von ihren religiösen Erfahrungen sprechen, scheint mir eine tiefe Scheu auszudrücken, vom wirklich Persönlichen persönlich zu sprechen. Die Formelsprache ist ein Schutz.

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Ich versuche meinem Mann von einer anderen Seite beizukommen (von einer wirklich eingehenden Untersuchung einer solchen Persönlichkeit kann in solchen Gesprächen natürlich nicht die Rede sein). Was für Veränderungen durch die Bekehrung in sein sonstiiges Leben gekommen sind. -- Ganz bedeutende. Vor der Bekehrung hat er unter vielen schlechten Gewohnheiten gelitten. Aber seit Jesus in ihm wirkt, ist er damit fertig; er braucht sich nicht zu plagen, Jesus tut das für ihn.

"Schlechte Gewohnheiten?" frage ich leise; mir ist die symbolische Bedeutung des Ausdrucks "schlechte Gewohnheiten" bekannt. "Sie meinen wohl Onanie und so ?" "Ja, auch das". Aber wie das mit dem starken Augenzwinkern ist ? Woher das kommt ? -- Das komnit, weil er vor seiner Bekehrung zu viel geraucht hat.

Niemand bekommt vom Rauch der eigenen Pfeife einen Augentick. Trotzdem steckt in dieser Erklärung vermutlich etwas Richtiges. Denn Rauchen gehört zusammen mit Trinken, Spielen und Weibergeschichten zu den Dingen, die sich der gute Christ nicht erlauben darf. Es könnte also sein, dass er das harmlosere Laster bIoss an der Stelle des seiner Auffassung nach weniger Harmlosen nennt. Das wäre aber in unserem Fall die Onanie. Nun wissen wir aus der Erfahrung an Kranken, dass Augenticks sehr häufig mit Onaniestörungen zusammenhängen. Also ist die Erklärung mit dem Rauchen, tiefer gesehen, gar nicht so unsinnig wie sie auf den ersten Blick erscheint.

Ob ihn sein Vater streng hält mit Taschengeld und so. Das spiele keine so grosse Rolle. Gott hilft auch in Geldschwierigkeiten. Vor kurzem liess er in der Gemeinde um 5 Kronen für neue Unterwäsche bitten. Sein Gebet wurde erhört. "Bitte, hier ist die Quittung des Geschäfts, wo die Wäsche gekauft ist." Und da soll noch jemand daran zweifeln, dass man mit Beten beim himmlischen Vater oft etwas ausrichten kann, wo beim irdischen alle Bitten vergebens sind ?

Ich sprach noch mit einem anderen Jungen. Ein bildhübscher Kerl, etwa 18 Jahre alt. Äusserlich in nichts von einem Jungen in einer Arbeiterjugendgruppe unterschieden, ausgenommen etwa den starren Blick. Er ist Lehrling in einer grossen mechanischen Werkstatt. Im Betsaal hatte er fortwährend auf mich eingeredet und mir Bibelstellen vorgelesen. Auch er ist seit etwa 2 Jahren bekehrt. Und wie war es vorher und wie nachher ? Vorher hatte auch er "schlechte Gewohnheiten". Jetzt wirkt Christus in ihm. Er geht weder ins Restaurant, noch ins Kino, noch ins Theater. All das ist "Welt". Er braucht sich gar nicht zu beherrschen, er hat gar kein Bedürfnis danach. "Darf man als Christ heiraten ?" frage ich ihn. "Ist das nicht auch Welt ?" "Nein, das ist Natur." Was er so in seiner freien Zeit liest ? Die Bibel und etwas Missionsliteratur. Alles andere ist überflüssig und schädlich. Und Zeitungen ? Ab und zu »Morgenbladet« (eine stockkonservative Zeitung), das haben wir zuhause. Politisches Interesse ? Nein, nur Interesse für "himmlische Politik". Das sagt er mit einem netten,

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jungenshaften Stolz. Als ich ihm ein paar Tage später erzählte, ich läse etwas über die Pfingstbewegung, wurde er richtig böse. Warum ich überhaupt was anderes lese als die Bibel !

Ein anderes Mal sass ich wieder im Betraum. Neben mir sitzt eine Frau von etwa 30 Jahren, etwas abgearbeitet, aber durchaus nicht hässlich, als Frau nicht ohne Anziehung. Sie lächelt etwas spöttisch; ich denke, sie ist auch bloss gekommen, um zu beobachten. Jetzt nimmt man sie "in Arbeit". Eine andere Frau redet auf sie ein. Ihr Mann ist doch bei der Bewegung, ihre Schwiegermutter ist auch erlöst. Nur sie ist es nicht. Da steht sie ihrem Mann im Wege. Wie schrecklich, sich auszudenken, wenn er etwa durch ihre Schuld das ewige Heil nicht erlangte.

Inzwischen war auch ich in Arbeit genommen worden. "Versuchen Sie doch zu beten", drängte mein Nachbar in mich ein. "Man soll alles einmal selbst probieren", dachte ich und begann, ganz-mechanisch vor mich herzuleiern: "Jesus erlös mich, Jesus erlös mich, Jesus erlös mich." Dabei blieb ich sitzen. Doch das genügte meinem Nachbarn nicht. Ich musste in die Knie.

Ich tat es -- was macht man nicht alles mit, um das Leben von allen Seiten kennen zu lernen -- betete mein "Jesus erlös mich" weiter und versuchte, mich dabei so gut als möglich in die Stimmung eines wirklich Gläubigen hineinzuversetzen. Sofort kommt mein Nachbar, macht "Schwitzkasten" mit mir und betet mit.

Und nun geschieht etwas Merkwürdiges: Das Geschrei um mich herum, meine eigene Aktivität, mein Mitbeter, seine warme Hand... das alles hat einen unglaublich starken, suggestiven Einfluss. Selbst ich, der ungläubige, psychologisch geschulte Beobachter, spüre ein starkes Ziehen am Kopf -- so wie wenn man einen Reifen herumlegt und zusammenzieht. "Das zehn Mal stärker", denk ich mir, "und du krachst auch zusammen".

Und da liegt auch schon meine scheinbar spöttisch lächelnde Nachbarin auf dem Boden. Ich war mit mir selbst so beschäftigt gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, was inzwischen mit ihr vorgegangen war. Aber jetzt schreit sie und windet sich in Krämpfen. Erschreckt frage ich: "Ist das nicht furchtbar, die arme Frau, soll man ihr nicht helfen ?" Doch ich hatte nur menschlich reagiert, nicht christlich. "Das ist doch gut so", wurde ich von den andern zurechtgewiesen. "Jetzt ist sie doch erlöst. Freuen Sie sich mit uns darüber !"

Ich weiss über das Leben dieser Frau zu wenig, um mir ein Bild zu machen, wieso sie und ihre ganze Familie die Erlösung nötig hatten. Aber ein Mädel, das ich kenne, hat mir von einer anderen Sektenfrau erzählt, die auf sie in der Versammlung zutrat und sie bekehren wollte. "Aber ich weiss nicht, was mein Freund dazu sagen wird", wandte sie ein. "Sie haben einen Freund ? Da müssen Sie sich erst recht bekehren ! Da ist man doch viel sicherer !" Aus der Art, wie die Frau es sagte, ging ganz deutlich hervor, was sie nicht sagte, aber

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meinte: Sicherer vor Versuchung, mit dem Freund etwas Unerlaubtes zu tun. "Haben Sie denn nicht auch einen Freund", fragte das Mädel mit gut gespielter Naivität. "Ja, ich hatte einmal einen", antwortete die Sektenfrau, "aber es ging auseinander um SEINETwillen. Jetzt ist mir Christus alles."

Wer einen noch deutlicheren Hinweis darauf wünscht, dass in der Religion die gleichen Kräfte treibend sind wie in einer Liebesbeziehung, der höre auf das Gleichnis, das ein englischer Prädikant in einem der Gottesdienste brauchte. Er hatte von seinen Reisen in der ganzen Welt berichtet; von den Gläubigen in Polen nahe der russisehen Grenze, von der neuen Kirche in Johannesburg, die 1200 Menschen fasst und neben 40 anderen Kirchen der Verkündung des Pfingstevangeliums dienen wird. Und zum Schluss sprach er von seiner Arbeit unter den Minenarbeitern in Kalifornien: "Viele Menschen halten, wenn sie zum ersten Mal die grossen Ölfelder dort unten besuchen, die hohen Öltürme für das Entscheidende, oder auch die mächtigen Werkgebäude. Doch es kommt nicht darauf an, sondern auf das Öl, das Öl, das nicht von den Menschen gepumpt wird, sondern mit eigenem Druck hervorsprudelt. So ist nicht unser sichtbares Tun, Beten, In-die-Kirche-gehen, Almosen-geben das Entscheidende, sondern Gottes Werk; nicht unsere Anstrengung, sondern die Kraft Gottes, die wie von selbst aus uns hervorquillt; nicht die Türme, nicht die Pumpen, sondern das Öl, das Öl; wie es aus der Tiefe hervorbricht; wie es mit unwiderstehlicher Kraft alle Hindernisse niederreisst. So bricht Gottes Kraft aus denen hervor, die er mit dem heiligen Geist und mit Feuer tauft..."

Hier reichen sich -- wie so oft -- das Natürlichste und das "Übernatürlichste" die Hand. Denn der Prädikant beschreibt sein Erlebnis mit einem Bild (und wir werden in der Folge sehen, dass es mehr ist als ein blosses Bild), mit dem ein areligiöser Mensch ein Erlebnis beschreiben könnte, in dem ebenfalls eine Kraft in uns durchbricht, die wir wohl am Anfang noch beherrschen können, die uns aber zum Schluss überwältigt wie eine aus der Tiefe hervorbrechende Springquelle: Ich denke an nichts anderes als den Samenerguss, den Orgasmus.

***

Was lehren diese Beobachtungen ?

Die müden Hausfrauen, die unselbständigen Jungens und Mädels: Sie alle sind Produkte der engen Familienverhältnisse, der Familienmoral, wie sie in den unteren Schichten des Mittelstandes vorherrschen. Die meisten Mitglieder der Sekte gehören ihm an. Ich habe wenige Arbeitergesichter gesehn.

Die wenigen, mit denen ich über sexuelle Dinge sprechen konnte, erwiesen sich als sexuell gestört. Doch auch den meisten anderen konnte man schwere seelische, und das heisst immer auch zugleich

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sexuelle, Störungen mit Leichtigkeit ansehen. Wir wissen heute, dass der Grund zu diesen Störungen in der streng moralischen Jugenderziehung besonders in kleinbürgerlichen und christlichen Kreisen gelegt wird. Vgl. z.B. die Selbstverständlichkeit, mit der Onanie als "schlechte Gewohnheit", als Laster aufgefasst wird. In Wirklichkeit ist sie -- wenn nicht mit Schuldgefühl verbunden -- unschädlich.

Gehemmte Menschen müssen mit ihrer sexuellen Energie irgendetwas anfangen. Einen besonderen -- es gibt viele andere -- Weg gehen dabei die Sektenchristen: Hingabe an die religiöse Ekstase. Voraussetzung dafür ist allerdings eine besondere Charakterstruktur. Wahrscheinlich handelt es sich bei den Sektenleuten zum grossen Teil um Hysteriker; doch in dieser Frage ist noch das meiste unerforscht. -- Damit soll nicht behauptet werden, dass sexuelle Schwierigkeiten bewusst oder ausschliesslich der Anlass sind, sich der Sekte anzuschliessen. Einsamkeit, schlechte ökonomische Verhältnisse (vgl. den Jungen, der 5 Kronen erbettelte), Minderwertigkeitsgefühle, schlechte Familienverhältnisse: All das spielt mit. Doch dass in diesen Schwierigkeiten dieser und gerade dieser Ausweg gewählt wird, dafür ist der jeweilige Charakter entscheidend, der wiederum entscheidend durch die sexuelle Entwicklung bestimmt ist. *)

Auf der anderen Seite gewährt die religiöse Ekstase unmittelbar Entlastung von sexuellen Spannungen, hat überhaupt mit dem Erlebnis des sexuellen Orgasmus grosse Ähnlichkeit.

Anzeichen dafür: Das Gefühl des Wallens, Strömens, PrickeIns, das viele Mystiker im Zustand religiöser Erregung an sich beobachten, und das auch für sexuelle Erregung charakteristisch ist.

Viele dieser dumpfen, stumpfen Frauengesichter bekommen einen schwärmerischen, verliebten Ausdruck, wenn sie von Jesus in der Versammlung sprechen, oder zu ihm beten. Wie weit bei den Männern homosexuelle Phantasien mitspielen, können wir nicht im Einzelnen untersuchen. Vgl. aber das Handauflegen (den "Schwitzkasten") bei der Bekehrung. -- Blut, bei dessen Nennung viele ekstatische Krämpfe bekamen, ist -- wie viele Untersuchungen erwiesen haben -- ein sexuelles Symbol. Als Blut Christi spielt es eine wichtige Rolle im christlichen Mystizismus, als "Blut und Boden" im nationalsozialistisehen. -- Beschreibungen ekstatischer Zustände, die aufs Haar dem orgastischen Erregungsverlauf gleichen, sind kein Einzelfall, sondern finden sich häufig in der mystischen Literatur. Daneben sind die Lebensgeschichten berühmter christlicher Mystiker voll von Hinweisen auf den Zusammenhang von sexuellen und ekstatischen Erregungen. **)

Endlich zeigt jede charakteranalytische Heilbehandlung, dass das

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*) Auf Nachweise im einzelnen kann ich in dieser kurzen Zusammenfassung nicht eingehen. Der Leser findet sie in den Schriften der Sexualökonomie, die überhaupt die theoretische Grundlage, den Leitfaden bei all meinen Beobachtungen gegeben hat.

**) Vgl. dazu das Buch des sexualökonomisch nicht interessierten amerikanischen Forschers Leuba: The Psychology of Religious Mysticism.

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religiöse Interesse im allgemeinen in dem Grad abnimmt, wie die echte sexuelle Erlebnisfähigkeit zunimmt (vgl. Reich: Massenpsychologie [des Faschismus, a.a.O.], S. 244-245).

Kurz gesagt: Mystische Frömmigkeit ist die Umkehrung, das Negativ der gesunden Sexualität: Gleiche Energie, ähnlicher Verlauf der Erregung, aber natürlich grundverschiedener bewusster Inhalt des Erlebnisses.

Mystische Frömmigkeit findet sich aber nicht nur in den Sekten, sondern auch in den grossen Kirchengemeinschaften. Alle "Andacht", "weihevolle Stimmung", "Versenkung" ist ihr verwandt. Unterdrückt man diese Seite des religiösen Lebens, dann bleibt nichts als trockene Moralpredigt. Doch ohne ein Minimum von Andacht, Erbauung, Erhebung und Innerlichkeit würde eine solche Moralpredigt aufhören, religiös zu sein, wir hätten dann eine rein weltliche, philosophische, auf blossen Vernunftsätzen gegründete Moral.

Doch die Kirche zieht gerade aus der Verbindung von Ethik und Mystik besondere Kraft. "Befolge die Gebote der Moral", sagt sie den Gläubigen, und das heisst praktisch: Sei ein guter Bürger ! Und: Sei politisch reaktionär ! "Dafür biete ich dir Erhebung, Erbauung, Erlösung." Und das heisst praktisch: (wenn auch ungenügende) Entlastung von sexuellen Spannungen. So verankert die Kirche bürgerliche, reaktionäre Moralauffassungen im wesentlichen mit sexualpolitischen Mitteln. Darum ist die Sexualmoral ihr wundester Punkt. Denn wären die Menschen sexuell gesund, dann hätten sie ihre Erlösung nicht mehr nötig.

Denn -- so müssen wir fragen: Ist diese "Erlösung" wirklich eine Erlösung ? Das krampfhafte Werben um neue Anhänger, wie wir es beobachtet haben, verrät eine innere Leere, die Unpersönlichkeit aller "persönlichen" Bekenntnisse eine tiefe innere Angst. Die Fröhlichkeit der meisten Sektenleute hat etwas Krampfhaftes, wenn man sie längere Zeit beobachtet. Oder wenn man gar eine Gruppe von Arbeiterjungens und -mädels vergleicht...

Von den Sektenchristen aber, wie von den meisten anderen Christen, gilt noch heute das Wort Nietzsches: Erlöster sollten sie mir aussehen, diese Christen, wenn ich an ihren Erlöser glauben sollte.

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ZPPS, Band 4 (1937), Heft 1 (12), S. 45-48

An wen wenden wir uns ?
von J. H. Leunbach

Wären wir eine grosse Organisation, die über genügend Geldmittel, ausgebildete Mitarbeiter, Zeitungen usw. verfügte, dann wäre die Frage sehr leicht zu beantworten. Die sexualökonomische Theorie und die sexualpolitische Praxis

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wenden sich an alle Menschen der Erde, die unter der Sexualnot, unter der Unterdrückung ihrer primitivsten Triebbedürfnisse leiden. Das heisst: Alle Menschen, ohne Ausnahme, die in einer patriarchalisch organisierten Gesellschaft leben, nicht nur diejenigen, die in gesellschaftlicher Hinsicht unterdrückt sind, sondern auch diejenigen, die der herrschenden Klasse angehören. Sexualunterdrückt und sexualleidend sind selbst die Menschen, die in höchstem Masse Nutzniesser der heutigen Zustände sind. Als klarstes Beispiel nenne ich die höchsten Machtvollstrecker in Nazi-Deutschland, die fast alle schwer sexualpathologische Menschen sind.

Es besteht also gar kein Zweifel, dass die Sexualpolitik für die gesamte Menschheit arbeiten muss und wird. Augenblicklich ist aber die Lage die, dass wir, die die sexualökonomische Theorie erfasst haben, und die gewillt sind, für die Sexualrevolution zu kämpfen, nur eine winzig kleine Gruppe bilden. Dazu kommt, dass die meisten von uns arbeitsgehemmt und denkgehemmt sind und zudem durch die notwendige Berufsarbeit sehr beschäftigt. Wir verfügen über keine Geldmittel, keinen Apparat, keine ausgebildeten Mitarbeiter usw.

Wir befinden uns in der Lage einer kleinen Mücke, die die Aufgabe vor sich sieht, einen riesigen Elefanten in Bewegung zu setzen. Das kann die kleine Mücke natürlich nur, wenn es ihr gelingt, die inneren Kräfte des Elefanten anzupacken und in Bewegung zu setzen. Die Frage ist also: Wo sollen wir, ohne unsere kleinen Kräfte vergebens zu vergeuden, den Hebel ansetzen ?

An welche Kreise haben wir bisher versucht heranzukommen ? Welchen Erfolg haben wir gehabt ? Was können wir daraus lernen ? An wen sollen wir uns zukünftig wenden ?

Fangen wir an mit drei Gruppen, die wir bisher mit unseren Publikationen und mit unserer Propaganda anzupacken versucht haben, nämlich:
1. Die Psychoanalytiker,
2. Sexualreformer,
3. Die politisch organisierten Revolutionäre, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten usw.

ad 1: Reich ist von der Psychoanalyse, von der Freud'schen Libidotheorie her zu den sexualökonomischen Theorien gekommen. Seine ersten Publikationen wenden sich ausschliesslich an psychoanalytisch vorgebildete Leser, und auch alle seine späteren Publikationen -- mit wenigen Ausnahmen -- setzen psychoanalytisches Wissen voraus. In Kursen, in Diskussionen, im persönlichen Verkehr mit Analytikern hat Reich tausendmal seine Ideen unterbreitet -- und mit welchen Erfolg ?

Die psychoanalytischen Zeitschriften sind für ihn gesperrt. Freud selbst und die anderen führenden Persönlichkeiten lehnen ihn ab, und zuletzt ist er aus der I.P.V. ausgeschlossen worden.
Nur ganz vereinzelte Analytiker, die bei Reich in Charakteranalyse waren, haben sich seine Theorien angeeignet, und auch diese Analytiker lehnen teilweise ab oder versuchen, Reich und I.P.V. zu versöhnen, ohne selbst richtig zu wissen, was sie eigentlich wollen. Von den Analytikern hat nur eine Person -- vielleicht zwei -- sich der Sexpol völlig angeschlossen.

Wie soll man nun diese Tatsache erklären ?
Die leichteste und gewöhnlichste Erklärung ist die, dass Reichs Theorien sehr übertrieben sind, Reich selbst monoman oder ganz meschugge. Einige von seinen Theorien sind freilich sehr interessant, ja fast genial, aber im Grossen und Ganzen müssen vernünftige Menschen, wie die Analytiker es natürlich sind, ihn ablehnen.
Wir, die die Wahrheit, die eiserne Logik und die enorme Tragweite der Sexualökonomie erfasst und verstanden haben, müssen eine andere Erklärung suchen. Die Erklärung, die, ich gefunden habe, ist die, dass eine psychoanalytische Vorbildung gar nicht das Verständnis für die Sexualökonomie fördert, sondern im Gegenteil hinderlich wirkt.
Ist es doch eine längst bekannte Tatsache, dass fachausgebildete Leute immer diejenigen sind, die alle neuen Ideen auf ihrem eigenen Gebiet am schroffsten ablehnen. Sie haben sich einmal (in ihrer Jugend) die Mühe gemacht, sich die notwendigen Fachkenntnisse anzueignen; sie bilden sich oft ein, die grösstmögliche Weisheit schon zu besitzen -- und nichts ist ihnen unangenehmer, als dazu gezwungen zu werden, umzulernen und die altgewohnte Sicherheit zu verlieren.
Nur ein klassisches Beispiel:

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Als das Briefmarkensystem eingeführt wurde, konnten die meisten Menschen, die überhaupt denkfähig sind, einsehen, welch enormer Fortschritt es war, dass man nun für kleine Einheitspreise überall in die Welt hinaus Briefe, Pakete usw. schicken konnte. Die Entwicklung hat ja auch bestätigt, dass der Postverkehr mittels des Briefmarkensystems ins Millionenfache gestiegen ist.
Nur eine kleine Gruppe von Menschen hat damals das Briefmarkensystem als unmöglich, verrückt, unpraktisch und wohl auch als unmoralisch und gotteslästerlich abgelehnt und zwar -- die alten Postbeamten.

ad 2: Die Sexualreformer sind diejenigen, die ich am besten kenne. Die Sexualreform ist nicht, wie die Psychoanalyse, ein Beruf. Sie ist eine Bewegung, die gefördert wird von Menschen aus allen möglichen Berufen, von Arbeitslosen, von Schustern, von Schriftstellern und von Bischöfen. Viele sind zur Sexualreform wegen persönlicher sexueller Schwierigkeiten gekommen, andere sind aus anderen Reformbewegungen gekommen, z.B. Freidenker und Rohköstler.
Die Sexualärzte und diejenigen, die Verhütungsmittel vertreiben, sind imstande, die sexualreformerische Arbeit mit ihrem Beruf zu vereinigen und wurden so die aktivsten und oft die führenden in der Bewegung. Die Weltliga für Sexualreform hat es versucht, alle diese verschiedenen Elemente unter einen Hut zu bringen. Der Versuch ist -- wie bekannt -- gescheitert.

Die meisten Sexualreformer haben Reich und seine Theorien abgelehnt. Auf dem Internationalen Kongress in Wien 1930 hat man erst versucht, ihn überhaupt nicht zu Wert kommen zu lassen. Dann hat man höflich, aber ungeduldig, seinem Vortrag gelauscht und keine Diskussion darüber geführt. Reich hat später eine Plattform für die Weltliga ausgearbeitet, die abgelehnt wurde. Auf dem letzten Kongress in Brno 1932 war man froh, dass Reich nicht da war. Den hauptsächlichsten Grund der absoluten Ablehnung der sexualökonomischen Ideen von Seiten der WLSR sehe ich in dem Prinzip der Sexualreformer, unpolitisch zu bleiben.
Es ist einfach unmöglich, für die revolutionäre Sexualpolitik einzutreten und gleichzeitig unpolitisch zu bleiben. Der typische unpolitische Sexualreformer ist Norman Haire, der seinen Standpunkt in unserer Zeitschrift dargestellt hat.
Es gibt unter den Sexualreformern auch viele, die politisch revolutionär eingestellt sind und die unpolitische Linie nicht einhalten wollen. Sie sind aber dann meistens an bestimmte Ideen und Parteien so gebunden, dass wir auch an sie nicht herankommen können.
Die meisten Sexualreformer haben schon ihre eigenen Ideen über das Geschlechtsleben und die beste Weise, es neu zu regeln, und sie sind ebensowenig wie die Psychoanalytiker bereit, umzulernen. In der Hinsicht war Hirschfeld absolut weitsichtiger und freisinniger als die meisten Anderen. Er hatte aber seine eigenen Theorien und die Konstitutionslehre zu verteidigen.
Ich komme also zu demselben Schluss wie bei den Analytikern. Eine sexualreformerische Vorbildung wirkt für das Verständnis der Sexualökonomie eher hinderlich als fördernd. Es ist ja auch eine Tatsache, dass von den Sexualreformern -- wie von den Analytikern -- eigentlich nur eine Person ganz zur Sexpol übergetreten ist.

ad 3: Bei den politisch organisierten Revolutionären sollte man eigentlich erwarten können, dass eine Sexualtheorie, die mit dem Marxismus übereinstimmt, mit Begeisterung aufgenommen werden sollte. Die revolutionäre Arbeiterbewegung hatte bisher überhaupt keine Sexualtheorie. Die revolutionären Politiker brauchen also nicht wie die anderen Gruppen umzulernen. Hier erleben wir aber das Merkwürdige, dass die revolutionären Parteien -- vielleicht mit Ausnahme der Anarchisten -- in der bürgerlichen Sexualideologie stecken geblieben sind.
Eine solche Macht hat die Struktur, die durch die Erziehung innerhalb der patriarchalischen Familie entsteht, dass selbst bewusste revolutionäre Kämpfer innerhalb der eigenen Familie brave kleinbürgerliche Menschen bleiben.
Tatsache ist, dass die Funktionäre der sozialistischen Parteien alle mehr oder weniger von Sexualangst erfüllt sind, dass sie zum Beispiel das Problem der Jugend überhaupt nicht verstehen und die Forderungen der Jugendlichen nach sexueller Freiheit und Befriedigung entrüstet ablehnen. Sie spüren die Gefahr für die eigene Machtstellung und lehnen Reich ab, weil er "die Jugend verführt".
Die Sexualökonomie ist eine so umfassende Theorie, dass auch die politischen und ökonomischen Lehrgebäude beeinflusst werden, weil der bisher zu wenig beachtete subjektive Faktor sich aufdrängt.

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Also auch die revolutionären Theoretiker müssen -- wenn sie die Sexualökonomie verstehen wollen -- umlernen, und das wollen sie nicht !
In der Sowjet-Union sind in der kulturellen Entwicklung Katastrophen eingetreten, die bei einer Anerkennung der sexualökonomischen Theorien hätten vermieden werden können. Wir sehen aber die traurige Tatsache, dass die Sexualreaktion marschiert -- und schnell vorwärts marschiert.
Die Sowjet-Genossen fühlen sich -- mit Recht -- als die Pioniere des Sozialismus. Sie haben, im Verhältnis zu den zaristischen Zuständen, Ungeheures erreicht und wollen sich nicht belehren lassen von "verdorbenen westeuropäischen Bourgeois" !

Die praktische Folge von dem, was ich dargestellt habe, ist m.E., dass wir es nicht versuchen sollen, Menschen aus den genannten drei Gruppen zu gewinnen, und dass es absolut falsch ist -- so wie es in dem Mitteilungsblatt gemacht worden ist -- von den Sexpolfreunden eine politische oder sonstige Vorbildung zu verlangen. Wie gesagt: Vorbildung wirkt eher hindernd als fördernd.
Eine ganz andere Sache ist es, wenn Menschen aus diesen Gruppen von selbst zu uns kommen. Dann kann man damit rechnen, dass diese Menschen mit der Plattform, auf der sie bisher standen, nicht zufrieden sind, und dass sie bereit sind, den schwierigen Versuch des Umlernens zu machen. Solche Menschen können bestimmt sehr wertvolle Mitarbeiter werden. Nur müssen wir ihnen eine Forderung stellen, nämlich, dass sie, soweit als möglich, eine persönliche Charakteranalyse durchmachen. Nur mit dieser Bedingung des Mitteilungsblattes bin ich völlig einverstanden.

Das war die negative Beantwortung. Unsere Frage muss aber auch positiv beantwortet werden: Ich werde wieder drei Gruppen von Menschen herausgreifen, an die wir uns, meiner Meinung nach, mit Erfolg wenden können, und wo die Möglichkeit besteht, sie für uns zu gewinnen. Das sind Menschen ohne Vorbildung.
1. Jugendliche, die bisher keinen Standpunkt gefunden haben, die aber bewusst unter der SexuaInot und dem sozialen Elend leiden.
2. Unpolitische Männer und Frauen, die sich bewusst sind, dass ihr Geschlechtsleben nicht in Ordnung ist und dass sie darunter leiden.
3. Nervöse und kranke Menschen, die mittels der Sexualhilfe, die wir ihnen geleistet haben, eine wirkliche Hilfe fühlen. Auch Menschen, die nicht direkt krank sind, die aber wegen verschiedener Konflikte des Geschlechts- oder Familienlebens unsere Hilfe suchten. Auf solche Menschen hat die sexualökonomische Aufklärung oft eine direkte Heilwirkung.

Die drei Gruppen gehen natürlich ineinander über. Das gilt aber überhaupt für alle Einteilungen.
ad 1: Die Erfahrungen aus Deutschland haben bestätigt, dass die Jugendlichen durch sexualpolitische Beeinflussung leicht zu gewinnen sind. Reichs Jugendbuch wurde trotz Parteiverbots reissend abgenommen. In Dänemark und Norwegen sind ähnliche Erfahrungen gemacht worden. Die Schwierigkeiten, denen wir bei den Jugendlichen begegnen, sind die Bindungen an Familie und Partei, der viel zu grosse Respekt vor den Erwachsenen und die scheussliche Bescheidenheit, mit der sie ins Leben treten.
ad 2: Hier kommen hauptsächlich die Arbeiterfrauen in Frage, die meistens noch unpolitischer sind als die Männer, aber gleichzeitig auch noch mehr unter der Sexualunterdrückung (Abtreibungsverbot usw.) leiden. Die Hauptschwierigkeiten sind hier die ungeheuer starken Familienbindungen und die fast unglaubliche Bescheidenheit.
ad 3: Menschen, die durch unsere Hilfe gesundet sind, z.B. Frauen, die mittels eines Pessars und Sexualberatung von ihrer Frigidität geheilt wurden, haben am eigenen Leibe nicht nur die SexuaInot gespürt, sondern auch die Mittel dagegen. Solche Patienten sind der Sexpol gegenüber sehr günstig eingestellt. Unsere schwedische Genossin Lisa Jensen kann uns manch Schönes davon berichten. Die meisten "Patienten" sind freilich inaktive und unpolitische Mensehen, aber sie bilden eine Reserve, die vielleicht viel grösser ist als wir wissen. Und sie haben in sich die Möglichkeit, einmal aktiv zu werden. Aus dieser Reserve heraus können wir vielleicht auch hoffen, schon jetzt ab und zu aktive Mitarbeiter zu gewinnen.

Damit meine ich, die Frage "An wen wenden wir uns ?" ganz kurz beantwortet zu haben. Die weiteren Fragen Wie ? Wann ? und mit welchen Mitteln ? sind ebenso wichtig. -- Das ist aber ein anderes Thema.


ZPPS, Band 4 (1937), Heft 1 (12), S. 52-55

Zurn 60. Geburtstag des Psychoanalytikers Leo Kaplan

Redaktionelle Bemerkung

Wir geben dem folgenden Artikel, der die Verdienste Leo Kaplans um die Psychoanalyse würdigt, gern Raum. Kaplan gehört zu den alten tapferen Pionieren der psychoanalytischen Bewegung, die ihrer Problematik zu einer Zeit weit vorauseilten, als die psychoanalytische Forschung mit sich selbst noch nicht ins Klare gekommen war. Es steht ausser Frage, dass Kaplan seitens der psycho-

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analytischen Bewegung nicht die wohlverdiente Würdigung seiner Leistungen zuteil wurde, die man heute ungleich weniger begabten, ungleich weniger problemsuchenden und kämpfenden Geniessern einer saturierten Situation bereitwilligst einräumt. Wir können uns nicht mit allem identifizieren, was dieser Aufsatz bringt, doch er zeigt deutlich, in welchen Formen und gedanklichen Leistungen schon damals um Gebiete und Anschauungsweisen gerungen wurde, die ein Hauptstück des Kampfes der Sexpol heute sind.

Die Redaktion.

Kürzlich vollendete der in Zürich lebende psychoanalytische Forscher Leo Kaplan sein sechzigstes Lebensjahr. Von Freud ausgehend, hat er neue Probleme in Angriff genommen und gelöst, die für die Erkenntnis des psychischen Geschehens und der psychischen und kulturellen Entwicklung der Menschheit von grosser Bedeutung sind.

Eines der wichtigsten psychischen Phänomene, das von Freud entdeckt wurde, ist dasjenige der Verdrängung, durch welche irgend ein Erlebnis, das vom Ich nicht akzeptiert werden kann, unbewusst gemacht wird. Die Freudschule nahm aber die Verdrängung als eine Selbstverständlichkeit hin und übersah die Problematik, die in diesem Begriff steckt.

Kaplan erklärt die Verdrängung auf folgende Weise: Trieb und Triebhemmung sind ihm nicht zwei aufeinander irreduzible Grössen, sondern die eine fliesst gesetzmässig aus der anderen. Trieb ist eine dynamische Grösse. Für das Dynamische gilt, dass jede Tendenz, indem sie sich verwirklicht, sich selbst verzehrt. Freie Wärme z.B. fliesst nur solange, als eine Temperaturdifferenz besteht. Diese verringert sich durch den Wärmeabfluss und macht ihn endlich unmöglich. Durch jedes Geschehen entsteht eine Gegenwirkung, die Erschöpfung der Möglichkeit des weiteren Geschehens in derselben Weise. Gerade indem sich ein Affekt entfaltet, führt er Schritt für Schritt sein eigenes Ende herbei: die durch den Prozessablauf automatisch ausgelöste bremsende Wirkung -- ist das Phänomen der Verdrängung. Wenn nun ursprünglich die Verdrängung dem realen Erlebnis folgt, so bewirkt der Assoziationsmechanismus, dass das Befriedigungserlebnis sich an den blossen Gedanken anknüpft und dadurch die reale Tat unterbindet. Jeder Genuss kann übertrieben werden und wird oft übertrieben, was mit Überdruss oder Ekel, in schwächerer Form mit dem Gefühl der Sättigung verbunden ist. Diese Reaktion tritt assoziativ bei der blossen Regung eines Gelüstes ein und bewirkt seine Hemmung. Der an seinem Ablauf gehinderte Affekt verwandelt sich, nimmt andere Daseinsformen an, wird auf andere Bahnen gelenkt. Dadurch entsteht eine Verschiebung der psychischen Akzente, die den Zusammenhang zwischen Motiv und Handlung unkenntlich machen, wodurch sich das Moment des Unbewussten geltend macht.

Dass aber die Verdrängung imstande ist, den Trieb in Schach zu halten, erklärt sich dadurch, dass sie gar nichts anderes ist als eine andere Daseinsform des Triebes selbst. So ist z.B. das Erröten bei Verletzung des Schamgefühls nichts anderes als ein Ersatz für sexuelle Aufregung.

Die Verwandlung der Affekte beim Einzelnen und ihre Rolle in der seelischen Entwicklung der Menschheit wird in den Werken Kaplans einer eingehenden, mit vielen Beispielen belegten Untersuchung unterzogen. Sein Verdienst ist es, die dynamische Anschauungsweise konsequent auf alle Gebiete des Seelenlebens ausgedehnt zu haben.

Eine weitere Hauptleistung von Kaplan besteht darin, dass er den Narzissmus systematisch erforscht hat. Freud hat auf den Narzissmus als Grundlage des Allmachtgedankens hingewiesen. Kaplan zeigt, wie der Narzissmus hemmend auf die Entfaltung des erotischen Gefühls wirkt. Der Narzisst betrachtet jede Bindung an eine andere Person als Beeinträchtigung seines Ich, die Liebesansprüche des Partners erscheinen ihm als ein Eindringen in seine heilige Domäne. Aus dem Narzissmus entwickelt sich auch leicht die Homoerotik, die nichts anderes ist als das Bestreben, sein Liebesobjekt nach dem eigenen Ebenbilde zu wählen.

Kaplan weist die grosse Bedeutung es Narzissmus in der psychischen Entwicklung der Menschheit auf: Auf Grund reichen völkerkundlichen Materials legt er dar, wie sich das magische Tun und Denken des Primitiven aus dem Narzissmus ableiten lässt und wie aus der Überwindung des Magismus die rationale Denkweise des modernen Menschen entsteht. In der bekannten antiken Sage verliebt sich der schöne Jüngling Narkissos in das eigene Spiegelbild. Für das narzisstische Denken ist also das Bild ebensoviel als der Mensch selbst, sein zweites Ich gleich-

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sam. Darauf fusst die Idee der Bildermagie: was dem Bilde zugefügt wird, muss das Original treffen. Daraus die Furcht des Abergläubischen, sich abbilden zu lassen. Da Bild und Mensch im Denken des Narzissten zu einer Einheit verschmelzen, so fliesst daraus der weitere magische Gedanke, dass der Teil das Ganze repräsentieren kann (pars pro toto). So können darum Haare, Nägel, Speisereste, getragene Kleider, überhaupt alles, womit jemand in Berührung stand, als seine Stellvertreter in der Magie benützt werden. Kaplan hat in seinen Werken alle Arten der magischen Praxis einer systematischen Analyse unterzogen und aufgezeigt, dass die scheinbaren Willkür- und Zauberhandlungen der Primitiven, für die bis jetzt ein einheitliches Erklärungsprinzip gefehlt hat, sich aus dem Narzissmus verstehen lassen.

Wichtig ist ferner der Hinweis, dass der Primitive den Geschlechtsverkehr magisch empfindet, als Ausdruck seiner magischen Potenz. So wie der Feind durchbohrt wird, wenn man sein Bild durchbohrt, wird die Natur zur Fruchtbarkeit gebracht, indem man ihr die fruchtbringende Tat "vormacht". In vielen agrarischen Riten primitiver Völker ist die geschlechtliche Vereinigung -- als Massenhandlung wirklich oder bloss symbolisch ausgeführt -- ein Fruchtbarkeitszauber, worauf der bekannte Ethnologe K. Th. Preuss hingewiesen hat. Daraus entsteht leicht der asketische Gedanke: da die sexuelle Potenz für "den Naturmenschen von kapitaler Wichtigkeit ist, als dasjenige Mittel, die Fruchtbarkeit der Natur anzuregen, soll sie nicht "profaniert", nicht verschwendet, sondern geschont und für bestimmte Jahreszeiten reserviert werden. In diesem Weltbild verwandelt sich die Frau, die dem Manne als ewige Versuchung gegenübertritt, in eine böse, dämonische Macht. Bei den meisten primitiven Völkern darf darum die Frau bei wichtigen Unternehmungen wie Krieg, Jagd, Zubereitung der Waffen, nicht in die Nähe der Männer kommen. Da die Frau eine magische Gefahr bedeutet, musste der Primitive bestrebt sein, möglichst wenig mit ihr in Berührung zu kommen. Am meisten droht diese Gefahr von Seiten der Frauen der eigenen Sippe oder Horde, weil sie in der engsten Umgebung leben und sich ihre Anziehungskraft am stärksten äussert. So werden die Begegnungen mit den nahverwandten Frauen mit verschiedenen Verboten umgeben: man darf miteinander nicht sprechen, man muss sich abwenden, wenn man zufällig aneinander vorbeikommt etc. Aus solchen Tabu-Vorschriften musste sich die Idee der Exogamie entwickeln und die Inzestschranke aufgerichtet werden.

Auch die Entwicklung der religiösen Vorstellungen leitet Kaplan aus der Magie, richtiger aus ihrer Überwindung ab. Freud, der in seiner Konzeption der Kulturentwicklung die Bedeutung des Inzestes gegenüber der Magie überschätzt, baut seine Auffassung der Religion auf der Grundlage der Beziehungen zum Vater, ihm ist Gott nur der idealisierte Vater. Viel älter aber als die Religion des Gott-Vaters ist die Religion der Göttin-Mutter (die babylonische Astarte, die griechische Demeter, Mutter-Erde u.ä. Gestalten). Ausserdem gibt es bei vielen primitiven Völkern eine unpersönliche Gottheit, die viel älter ist als Göttin, Mutter und Gott-Vater. Die wichtigste Wurzel der Gottesvorstellung muss man nach Kaplan also ausserhalb der Familienverhältnisse suchen. Der magisch denkende Mensch nämlich, der sich allmächtig fühlt, ist sich selber ein Gott: er kann durch sein symbolisches Tun, durch den blossen Gedanken sogar, das oder jenes in der Natur und in seiner menschlichen Umgebung bewirken. Dieser Allmachtgedanke entsteht aus dem Narzissmus: der sich selbst Liebende hängt von niemanden ab, sein Glück liegt in seinen eigenen Händen. Das alles sind Qualitäten eines Gottes. Nun birgt die Magie grosse Gefahren in sich, denn jeder in einer Gesellschaft magisch denkender Menschen Lebende ist unendlichen magischen Gefahren ausgesetzt; so muss sich allmählich ein Widerstand gegen das Magische entwickeln, eine "Verdrängung der Magie". Der Allmachtgedanke aber bleibt bestehen, die Allmacht wird bloss einem imaginären Wesen übertragen. Der Mensch wähnt sich nicht mehr allmächtig und unterwirft sich einer objektivierten Allmacht.

Kaplans Werke bedeuten den Versuch einer zusammenhängenden psychischen Geschichte. Die meisten ethnologischen Arbeiten haben vorwiegend beschreibenden Charakter; sie leugnen mitunter sogar die Möglichkeit, dass die Naturvölker in ihrem wilden Aberglauben und zauberischen Tun von uns verstanden werden können. Dagegen suchen die Werke Kaplans diese Erscheinungen nicht nur zu beschreiben, sondern wirklich zu erklären.

Kaplan, der selber künstlerisch begabt ist, hat in einem Werk »Versuch einer

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Psychologie der Kunst« über Ursprung und Wesen der Kunst geschrieben. Er bringt hier das Drama in Verbindung mit der Magie. Er zeigt auch, dass tiefer als die visionäre und die Wortkunst sich im Menschen ein primärer Bewegungsimpuls, der noch objektlos und nicht zielbehaftet ist, auswirkt. Dieser primäre Bewegungsimpuls tritt in Erscheinung hörbar als Musik, sichtbar als Tanz.

Den sozialpsychologischen Problemen hat Kaplan seit seiner Jugend lebhaftes Interesse entgegengebracht. Er hatte sich im zaristischen Russland mit sozialen Fragen beschäftigt und sich in den Marxismus hineingearbeitet. Seine spätere Zuwendung zur Psychoanalyse bedeutet keine Abwendung vom Marxismus. Es war im Gegenteil der tiefe revolutionäre Sinn, der der Psychoanalyse innewohnt, was Kaplan anzog. Schon in seinen 1916 erschienenen »Psychoanalytischen Problemen« in den Kapiteln »Zur Psychologie der Erkenntnis« und »Der sogenannte Fetischcharakter der Ware und seine Beziehung zum Narzissmus« macht Kaplan den Versuch einer sozialpsychologischen Analyse. Er zeigt bei Marx selber Ansätze zu einer psychoanalytischen Auffassung auf.

Kaplan hat folgende Werke veröffentlicht: Grundzüge der Psychoanalyse (2. verbesserte Auflage), Psychoanalytische Probleme; Hypnotismus, Animismus und Psychoanalyse; Schopenhauer und der Animismus; Das Problem der Magie; Die göttliche Allmacht; Die Erscheinungsformen des Eros; Versuch einer Psychologie der Kunst. Als druckfertige Manuskripte liegen vor: Marxismus und Psychoanalyse; Die griechische Philosophie und der Mythos; Spinozas Ideenwelt; Zur Psychologie des Märchens u.a.m. Zur Zeit arbeitet Kaplan an einer erkenntnistheoretischen Untersuchung, die das Denken und die Denkhemmungen zum Gegenstand hat.


ZPPS, Band 4 (1937), Heft 1 (12), S. 55-58

Sie vergessen gern -- wir bringen in Erinnerung
(über den Berliner Psychoanalytiker Felix Boehm)

Aus Berlin erhalten wir die Nachricht, dass auf Veranlassung des Reichsinnenministeriums und des "Reichsärzteführers" das «Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie» gegründet worden ist. Es setzt sich zusammen aus Vertretern der «Deutschen allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie», der «Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft», von Künkels «Arbeitskreis für angewandte Charakterkunde» und "anderen namhaften deutschen Psychotherapeuten" (B. Z., 28.IX.). Seine Unterbringung findet in den bisherigen Räumen der Psa. Gesellschaft, Wichmannstr. 10, statt. Geschäftsführer des Instituts ist Herr Dr. Felix Boehm, der bisherige Vorsitzende der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft. Herr Dr. Boehm orientierte den Mitarbeiter des Lokalanzeigers, Walter Jahn, in einem Interview "über die Ziele der Neugründung". Das Interview wurde am 8.X.36 im Lokalanzeiger veröffentlicht.

Wir entnehmen dem Bericht, dass Herr Dr. Boehm an einer schweren Verdrängung leidet. Diese Verdrängung bezieht sich auf die Namen "Sigmund Freud" und "Psychoanalyse" und auf die Tatsache der menschlichen Sexualität.

Herr Dr. Boehm meint wörtlich: "Das Institut vereint zu diesem Zweck alle grossen bisher in Deutschland auf diesem Gebiet tätigen Vereinigungen, denen Gelegenheit gelassen wird, innerhalb des Instituts ihre besonderen Forschungen und Behandlungen weiterzuverfolgen. ... In Plenarsitzungen, Vorträgen und Diskussionen sollen dann die gewonnenen Ergebnisse ausgewertet werden zum Zweck der Schaffung einer wirklichen Seelenheilkunde (im Origin. gesp.)". Er betont nachher nochmals, als Zweck des neugegründeten Instituts nicht nur die Schaffung einer Seelenheilkunde, sondern in gleichem Masse auch die Schaffung und Verbreitung einer allgemeinen Seelenkunde, die das Zustandekommen seelischer Störungen von vornherein verhindern hilft." (fett von uns.)

Herr Dr. Boehm hat also wirklich verdrängt, dass bereits vor 40 Jahren ein Mann namens Sigmund Freud die grandiosen Grundlagen zur Erforschung der Seele und zur Therapie ihrer Erkrankungen gelegt hat ! Er sprach damals allerdings nicht von "Seelenheilkunde" und "Tiefenpsychologie", sondern er gab seinen Forschungen nach gründlicher Überlegung den Namen "Psychoanalyse". Er hatte keine Scheu davor, dass die Menschen nicht reif genug waren für seine Forschungen und in ihnen "Zweideutiges" vermuteten. Er schreckte auch nicht davor

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zurück, dass "man die 'Tiefenpsychologie' mit Vorliebe in Sensationsprozessen zur Entlastung der Angeklagten herbeirief". Auch die Tatsache, dass "es bei einem gewissen Kurfürstendammpublikum sozusagen zum guten Ton gehörte, sich psychoanalysieren zu lassen" (Walter Jahn, Lokalanzeiger) konnte ihn nicht dazu bringen, auch nur einen Millimeter von seiner Überzeugung abzuweichen. In seinem Kampf gegen die Dummheit und Bosheit einer ganzen Welt ist er subjektiv bis zum letzten ehrlich gewesen. Dass er im Verlauf seiner Arbeit die Grenze des bürgerlichen Lebens und der bürgerlichen Forschung nicht überschreiten konnte, ist seine Tragik, aber nie bewusste Feigheit.

Herr Walter Jahn bittet dann um eine Aufklärung des Begriffes "Neurose". Die Antwort von Herrn Dr. Boehm lautet wörtlich: "Man könnte die Neurose als eine Störung des unbewussten Seelenlebens bezeichnen. Wir gehen dabei von der Voraussetzung aus, dass auch der Neurotiker über an sich gesunde seelische Erbanlagen verfügt, und dass nur missliche familiäre oder wirtschaftliche Umstände, falsche Erziehung oder andere Gründe zu einer Verwirrung seiner sonst gesund verlaufenden seelischen Vorgänge geführt haben. Man kann diese Menschen nicht unmittelbar als krank bezeichnen, sondern sie befinden sich, was ihre Lebenstüchtigkeit anbetrifft, gewissermassen unterhalb des Niveaus des gesunden Menschen. Immerfort sind sie gehemmt, fühlen sich unglücklich; ständig haben sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen, sei es im Verkehr zum (nicht etwa "mit dem", Anmerk. von uns) Ehegatten, im Umgang mit anderen Menschen oder im Beruf. Sie sind nicht vollwertig im Sinne der Gemeinschaft, weil ein grosser Teil ihrer Leistungsfähigkeit auf diese Weise verloren geht. ... Die Folge solcher seelischen und körperlichen Behinderung ist, dass die Betroffenen den Krankenkassen und, häufig genug, der Fürsorge zur Last fallen, ja, unter gewissen Umständen werden sie sogar kriminell. Ungeheure Summen müssen jährlich von der Volksgemeinschaft dafür aufgebracht werden -- schon daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Bekämpfung dieser seelischen Leiden. Die Handhabe dazu bietet eben die Tiefenpsychologie".

Wenn Herr Jahn uns Sexualökonomen gefragt hätte, hätten wir ihm eine sehr viel kürzere Definition der Neurose gegeben. Wir hätten ihm geantwortet: "Die Neurose ist das Produkt eines ungelösten Konfliktes zwischen Sexualwunsch und Aussenweltversagung".

Wir wollen an einem kurzen Beispiel erläutern, was wir meinen: Ein 15-jähriges Mädel verliebt sich in einen gleichaltrigen Jungen. Beide sind geschlechtlich voll entwickelt. Sie stammen beide aus bürgerlichem Milieu, das ein sexuelles Zusammensein von vornherein für ganz unmöglich hält. Beide wissen das, haben aber drängende sexuelle Wünsche, die das Milieu ja nicht abtöten kann. Beide sind so erzogen, dass sie nun ebenfalls den Gedanken an einen Geschlechtsverkehr gar nicht aufkommen lassen. Resultat: das Mädchen bekommt eine Reihe neurotischer Symptome, wird verstimmt, arbeitsunlustig, scheu, reizbar, Gedanken an Selbstmord stellen sich ein. Der Junge versucht sich durch die Onanie zu entlasten, die er mit schwersten Schuldgefühlen ausführt und in der Angst, sich körperlich damit ernstlich zu gefährden.

Was würde Herr Dr. Boehm mit den beiden machen im Sinne des Staates, um dessen Wohl er so besorgt ist ? Er würde ihnen zwar zugestehen, dass die Sexualität nichts Schlimmes und keine Sünde ist. Aber er würde ihnen klar machen, dass zwei so junge Menschen zu einem wirklichen Sexualleben noch nicht reif genug seien. Ein solches Zusammenleben erfordere höchste Verantwortung und man müsse deswegen am besten damit warten, bis man auch äusserlich durch eine Position bewiesen habe, dass man der Verantwortung eines solchen Sexuallebens gewachsen sei. Dann könne man nämlich für die Folgen dieses Lebens einstehen und könne selbst für den Unterhalt der sich daraus ergebenden Kinder aufkommen. So ähnlich müsste Herr Dr. Boehm mit ihnen sprechen, wenn er sein Interview in die Praxis umsetzen wollte. Dann würde er beiden eine längere Behandlung vorschlagen, in der er ihnen ihre kindlichen Bindungen zeigen und ihnen bestenfalls zum Schluss zu einer angst- und schuldgefühlfreien Onanie verhelfen würde.

Wir Sexualökonomen hingegen würden uns ganz auf die Seite der Beiden stellen. Wir würden ihnen zeigen, dass ihre sexuellen Wünsche etwas ganz Natürliches wären. Denn ihre Organe wären alle reif dazu und kümmerten sich nicht darum, ob sie wirtschaftlich unabhängig wären oder nicht. Dieses Kriterium der "Reife" wäre eine Erfindung der Menschen und nicht der Natur. Es wäre auch vollkommen überflüssig, denn ihr Wunsch zusammen zu schlafen, brauchte nichts

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mit dem Kinderkriegen zu tun zu haben. Dann würden wir ihnen bei der Beschaffung antikonzeptioneller Mittel und bei der Raumfrage behilflich sein. Und wenn uns auch das letztere gelänge, würden wir in ganz kurzer Zeit zwei gesunde ungestörte Menschen vor uns haben. Aber wir würden auch dafür sorgen, dass sie gründlich aufwachten und sich die Welt besähen, die ihnen ihre Rechte nehmen will !

Im übrigen sind wir mit Herrn Boehm darin sehr einverstanden, dass er die Gemeinschaft über den EinzeImenschen setzt. Allerdings gehen wir dabei infolge anderer Voraussetzungen einen andern Weg. Wir haben als Sexualökonomen, deren Lebensinhalt die Arbeit für die sozialistische Gemeinschaft ist, darüber gearbeitet und sind zu dem Schluss gekommen, dass es der wirklichen Gemeinschaft nicht hilft, wenn man die "gesunde seelische Erbanlage" des Neurotikers betont; auch nicht, wenn man den einzelnen schwer leidenden Menschen "nicht unmittelbar als krank" bezeichnet. Wir finden es zwar sehr bedauerlich, dass die Neurotiker "den Krankenkassen und ... der Fürsorge zur Last fallen", auch dass sie "sogar kriminell" werden können. Auch dass die Volksgemeinschaft "ungeheure Summen" dafür aufbringen muss, ist gewiss nicht ideal. Und doch würden wir nicht daraus schliessen, dass sich "schon daraus die Notwendigkeit der Bekämpfung dieser seelischen Leiden ergibt". Wir halten nämlich diese Tatsachen für sekundäre Folgeerscheinungen und ziehen es vor, uns mit der Wurzel zu beschäftigen.

Herr Dr. Boehm geht nicht daran vorüber. Er erwähnt sie sogar. Allerdings in einem Nebensatz. Er spricht ja davon, dass "nur missliche familiäre oder wirtschaftliche Umstände, falsche Erziehung oder andere Gründe zu einer Verwirrung seiner sonst gesund verlaufenden seelischen Vorgänge geführt haben". Wir verstehen, warum Herr Dr. Boehm sich nicht ausführlicher mit den Familienverhältnissen, der Wirtschaft, der falschen Erziehung und den "andern Gründen" -- ob damit wohl schamhaft die Störung der Sexualität angedeutet ist ? -- beschäftigen kann. Jeder Schritt weiter würde dazu führen, ihm allzu deutlich zu zeigen, dass die wirkliche Erkenntnis der Zusammenhänge und der sich daraus ergebenden Kousequenzen sich nicht damit vereinen lässt, sich vor den Nazis lieb und angenehm zu machen.

Wir glauben, dass weder die familiären noch die wirtschaftlichen Verhältnisse in einem Nebensatz abgetan werden können. Wir gehen auf Grund sehr genauer wissenschaftlicher Arbeit von 2 Anschauungen aus:
1) wir betrachten die jetzigen Missstände in Familie und Wirtschaft nicht als persönliche Schicksale einzelner Menschen, sondern sehen in ihnen das Resultat einer langen sozialen Entwicklung. Daher glauben wir auch nicht, dass sie im Massenmassstab durch "Tiefenpsychologie" beseitigt werden könnten, sondern nur durch die durchgreifende Umwälzung einer sozialistischen Revolution.
2) die Befunde, die Reich in seiner Lehre von der Sexualökonomie aufgezeigt hat, weisen darauf hin, dass man der Gemeinschaft am besten helfen wird, wenn man dem Einzelmenschen die freie Entfaltung seiner Lebensenergien, seiner Sexualität ermöglichen wird.

Gerade die Arbeit von Reich zerschlägt uns alle Illusionen über eine leichte, bequeme Durchführbarkeit dieser Idee in der Praxis. Gerade wir wissen nur zu genau, wie lang, wie hart und schmerzvoll der Weg ist, der vor uns liegt, wie sehr wir am allerersten Anfang stehen. Unser Ziel ist: die Umstrukturierung des Menschen zur Schaffung und Erhaltung einer wirklichen Gemeinschaft.

Da sind wir wieder mit Herrn Dr. Boehm einverstanden. Auch wir halten vorbeugen für wichtiger als heilen -- was übrigens keine besondere Neuentdeckung des nationalsozialistischen Staates ist. Auch wir glauben deshalb, dass wir beim Kinde anfangen müssen, wenn wir unser Ziel erreichen wollen. Aber wir fragen Herrn Dr. Boehm, was er sich von seiner "Beratungsstelle für Eltern sogenannter schwer erziehbarer und anderer 'schwieriger' Kinder" verspricht, wenn er nicht sieht oder sehen will: dass die Grundbedingung zur Gesundheit die freie Entfaltung des Trieblebens ist; wenn nirgends die Rede davon ist, dass er den Kindern zu ihrem Recht verhelfen will, ihre Sexualität ungestört durch Strafe und Drohung zu erleben; wenn er nicht begreift, dass die Eltern bei der heutigen Gesellschuftsform in der überwiegenden Mehrzahl gar nicht in der Lage sind, den Kindern zu helfen, wenn sie nicht bewusst revolutionär sind. Denn die Anforderung, die die Gesellschaft heute an die Menschen stellt, verbietet solche Hilfe. Welchen Sinn hat denn eine solche Beratungsstelle, solange die natürlichen Rechte des Kindes den Wünschen der Familie und des Staates entgegengesetzt sind und sein müssen ?

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Wir haben Herrn Dr. Boehm sehr ernst genommen. Wir glauben nicht, dass es sich bei dem Gespräch mit Herrn Jahn um eine äussere Anpassung an bestehende Verhältnisse handelt, sondern dass es seiner inneren Überzeugung entspricht. Es ist für uns keine leicht hinzunehmende Geste, dass in dem Psa. Institut schon seit längerer Zeit die Bilder von Freud entfernt sind, während im Bureau des Instituts das Bild von Hitler hängt. Wir sind nicht allzusehr erstaunt. Uns war es klar, dass die Zeit, in der wir leben, zu kompromisslosen Entscheidungen drängt. Die Psychoanalyse entstand im Zeitalter des Liberalismus. Seine Zeit ist vorüber. Es geht um die Entscheidung: Sozialismus oder Faschismus. Eine andere Alternative existiert mehr. Herr Dr. Boehm und seine Mitarbeiter haben ihre Wahl getroffen. Darum sind wir Herrn Dr. Boehm dankbar, dass er die Namen und Inhalte vergessen hat, mit denen seine Arbeit nichts mehr zu tun hat.


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