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ein paraphilosophisches Projekt nicht in der Zeit, aber -- an der Zeit |
Band 3, Heft 3/4 (10/11) (1936)
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ZPPS, Band 3 (1936), Heft 3/4 (10/11), S. 100-113
Ein Rufer in der Wüste und sein Ruf
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ZPPS, Band 3 (1936), Heft 3/4 (10/11), S. 150-156
Unser Glückwunsch an Freud
Wenn diese Zeilen die Öffentlichkeit erreichen, wird der Lärm der Feiern verklungen sein, und die Gratulanten werden auf den neunzigsten und -- wir hoffen es mit ihnen -- den hundertsten Geburtstag Sigmund Freuds warten, um diesem Manne neuerdings ihre Ehrerbietung zu bekunden. Es werden wie diesmal viele Artikel erscheinen, die die Daten der "Geschichte der Psychoanalyse" aus der 151 «Selbstdarstellung» Freuds sammeln und der breiten Öffentlichkeit vorlegen werden. Andere werden wie diesmal die Hauptgedanken der Freud'schen Lehre darlegen und mit mehr oder weniger Überzeugung von ihrem revolutionären Charakter sprechen. Dies ist erfreulich und notwendig. Uns mussten diese Feiern Anlass zu sehr ernsthaften Überlegungen werden. So weit die Äusserungen der Welt zugänglich waren, zeigte sich mit unzweifelhafter Gewissheit, dass an keiner Stelle an das Wesentliche des Problems "Freud und seine Umwelt" gerührt wurde. Es ist noch nicht an der Zeit, in ausführlicher Weise darzustellen, worin sich die Schicksalsgemeinschaft der Psychoanalyse von 1895 bis 1920 und der so jungen Sexualökonomie und der noch jüngeren Sexpol-Bewegung ausdrückt. Doch der Anlass des achtzigsten Geburtstags Sigmund Freuds darf nicht vorübergehen, ohne korrekt ausgedeutet zu werden. Es ist unerlässlich, hervorzuheben, was eine ganze Welt verschwieg. Am sechsten Mai 1926 feierten die Mitglieder des Wiener psychoanalytischen Kreises den 70. Geburtstag Freuds. Es gab viele Beteuerungen samt dazugehörigen Gratulanten, Blumen und Geschenken. Sigmund Freud hielt eine kurze Ansprache an die anwesenden Schüler, die unvergesslich bleiben wird; niemand wagte, sie der Welt mitzuteilen. Freud warnte. Man dürfte sich nicht täuschen lassen. Die Lobpreisungen bewiesen garnichts. Die Welt hätte die Lehre nicht akzeptiert. Sie stünde nach wie vor feindselig dazu. Einige Jahre vorher hatte Freud das Gleiche ausgedrückt, als er schrieb, die Welt akzeptierte hier und dort die Psychoanalyse, um sie zu zerstören. Wir stellen uns voll und ganz auf den Standpunkt Freuds vom 6. Mai 1926. Eine Umschau in der Welt und ihren wichtigsten Institutionen belehrt uns, dass es heute schlimmer aussieht als vor zehn Jahren. Wir dürfen keinen Augenblick versäumen, auf der Hut zu sein, denn das Schicksal, das ursprünglich der Psychoanalyse zuteil wurde, bedroht unsere Arbeit in hundertfach verschärften Ausmassen. Sich über dieses Schicksal ins Klare zu kommen, ist die Voraussetzung nicht nur der Bewahrung der historischen Gemeinschaft mit der Lehre Freuds, sondern auch der eigenen korrekten Arbeit. Wir erleben momentan eine Periode tödlichen Schweigens der akademischen und massgebenden Welt. Doch es melden sich bereits Anzeichen einer Methode wohlwollender Vernichtung. Die Sexualökonomie wird in eine Reihe mit den Ablegern Jungs, Adlers, Stekels gestellt. Dummheit und Kritiklosigkeit sind grenzenlos, ebenso wie Bösartigkeit. Wer die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung kennt, vermag auf den ersten Blick den Unterschied zu sehen. Alle bisherigen Abzweigungen von der Lehre Freuds kennzeichnen sich durch Verneinung der Sexualität. Für Jung wurde die Libido ein verwaschener, nichtssagender AllseeIenbegriff, die beste Vorbereitung für die spätere GleichschaItung im dritten Reich. Adler ersetzte die Sexualität durch den 152 Willen zur Macht, Rank verleugnete die Existenz der kindlichen Sexualität. Die Sexualökonomie dagegen knüpfte gerade an denjenigen Kernelementen der Freud'schen Lehre an, die ursprünglich die Wut der Welt entfacht hatten. Sie entwickelte die Orgasmustheorie, die sie vergebens dem psychoanalytischen Lehrgebäude als organisch dazugehörig einzuverleiben versuchte. Sie präzisierte die Lehre von den prägenitalen Sexualtrieben des Kindes, legte feste Fundamente für eine Charakterlehre, die den Sexualprozess als deren Kernstück voraussetzt. Die charakteranalytische Technik erfordert die volle Anerkennung der Gesetze der sexuellen Ökonomie. Man könnte noch reichlich mehr anfügen, um zu zeigen, weshalb die Lehre der Sexualökonomie heute das alte Schicksal der Psychoanalyse zu spüren bekommt. Und sie muss, wenn sie sich ernst nehmen will, alles tun, um die jüngsten Schicksale der Psychoanalyse, so laut die Welt auch Begeisterung vortäuschen mag, zu vermeiden. Es gibt heute keine offizielle Institution der Welt, sei es auf dem Gebiete der Pädagogik, der Psychiatrie etc., die sich Freuds umstürzende Anschauungen ernsthaft zu eigen gemacht hätte. An welcher Irrenanstalt wird in systematischer Weise die Verursachung von Geisteskrankheiten durch die Schädigung des frühkindlichen Sexuallebens durchforscht ? An welcher Stelle akademischer Natur wird der reiche Schatz analytischen Wissens, analytischer Forschung gepflegt, in seiner unendlichen Überlegenheit anerkannt ? An welcher Stelle hat sich die umstürzende Erkenntnis Freuds konkret ausgewirkt ? Wer würde es zuwegebringen, auf der einen Seite seiner Überzeugung von der Grösse des Freud'schen Werkes laut Ausdruck zu geben und sich dann mit der tröstenden Auskunft zu begnügen, dass ja Analytiker an Universitäten berufen sind und dort lehren ? Niemand würde sich ein derartiges Armutszeugnis ausstellen. Wer glaubt, dass in einem Amerika von heute korrekte Sexualtheorie gelehrt werden darf ? Wie sieht es in der psychoanalytischen Bewegung selbst aus ? Die englische Schule ist ein sektiererischer, weltabgewandter, jedes Kontaktes mit dem lebendigen Leben barer Kreis. Die Berliner deutsche Vereinigung versuchte die Gleichschaltung und ging kaputt. Sie steht vor der Auflösung. Die ungarische Gruppe besteht nach den Berichten fast nur mehr aus Hausanalytikern reicher Leute, die weder eine wissenschaftliche Entwicklung aufweisen, noch eine ernste Perspektive haben. Die Wiener Vereinigung steht unter dem Drucke der politischen Reaktion und wird von einigen wissenschaftlich nicht ernstzunehmenden Todestriebtheoretikern beherrscht. Die französische Gruppe sieht trostlos aus. Hat die sozialistische Bewegung die Psychoanalyse akzeptiert ? Hier und dort in Worten, weil Freud von der politischen Reaktion gegen seinen Willen notabene ins Lager des Kulturbolschewismus versetzt wurde. In der Sowjetunion ist die Psychoanalyse seit Jahren ohne jede Entwicklung. Es gab so viel 153 Gerede über die Bedeutung Freuds für die Arbeiterbewegung. An welcher Stelle, fragen wir, ist diese Bedeutung sozialistische Praxis geworden ? Nirgends ! Sozialisten empfehlen die Literatur reaktionärer Analytiker der Arbeiterschaft als Leitfaden "sozialistischer Psychologie", wie etwa einen Artikel des Reaktionärs R&oacote;heim in einer ungarischen sozialistischen Zeitschrift. Revolutionäre Sozialisten publizieren Artikel zu Freuds Geburtstag, verraten aber komplette Unwissenheit über den heissen Kampf, der seit zehn Jahren innerhalb der analytischen Bewegung um die Problematik: Arbeiterbewegung und Psychologie geführt wurde. Im Lehrgebäude Freuds gibt es sehr verschiedenartige Feststellungen. Neben der Lehre von der frühkindlichen Sexualität die vom "Primärvorgang" im Unbewussten; neben der Lehre von der Triebverdrängung die vom Todestrieb; neben der Aussage über die Determiniertheit des psychischen Geschehens die über die "kulturelle Triebverdrängung" etc. etc. Die Welt schreit nach Klarheit. Es gibt Aussagen, die wir nie mehr entbehren können, andere, die nebensächlich sind, schliesslich solche, die verwirren. Man möchte meinen, dass eine wissenschaftliche Vereinigung, die die weltgeschichtliche Bedeutung der Psychoanalyse so sehr beteuert, sich der schlagkräftigen, zukunftssichernden Elemente der Lehre bemächtigt; das Gegenteil ist der Fall. "Weg von der Hauptsache, wir lieben die Nebensache" ist die unausgesprochene Parole. Sie wird am getreuesten von einigen sich "Sozialisten" nennenden Psychoanalytikern befolgt; sie meiden die "Hauptsache" wie die Pest, denn dann stünden sie unweigerlich und augenblicklich mitten in dem Kampf, den wir führen und den sie totschweigen. Sie tun alles, um klargestellte Fronten im Kulturkampf zu verwischen. Sie sind gefährlich wie die Prediger der Klassenversöhnung. Sie usurpieren Lehrsätze und sabotieren deren Sinn. Vor ihnen muss gewarnt werden ! Der Niedergang der psychoanalytischen Bewegung, ihre Anpassung in die herrschenden Seinsverhältnisse und demzufolge die Sterilität ihrer heutigen Fragestellungen sollen nicht Anlass persönlichen Vorwurfs sein. Wir haben es gelernt, die Abhängigkeit der Wissenschaft und ihrer Entwicklung von den politischen Prozessen zu beachten. Wir bekannten uns daher zur politisch bewussten Wissenschaft. Wir dürfen sagen, dass wir die umwälzenden Erkenntnisse der Lehre Freuds in sichere Obhut genommen haben. Das verpflichtet, sich Rechenschaft über die aktuelle Situation und die Möglichkeiten zu geben, die den weiteren Verlauf unserer Arbeit bestimmen werden. Die allgemeine weltpolitische Situation, in der wir mit einer allen heutigen Institutionen und offiziellen Anschauungen widersprechenden Sexualitätstheorie arbeiten, verspricht Schlimmes. Diese Welt kann die Früchte unserer Arbeit weder anerkennen noch ausnützen. Haben doch gerade wir nachweisen können, welchen Nutzen die politische Reaktion aus dem irrationalen Fühlen und Denken der Masse, 154 ihrer Glückssehnsucht und gleichzeitigen Sexualscheu zieht. Die verschiedenen sozialistischen Parteien sind teils in altem ökonomistischem Denken befangen, teils derart mit den ungeheuren Problemen der Jetztzeit beschäftigt, dass sie gar nicht die Möglichkeit haben, uns anders als zunächst noch staunend oder abweisend gegenüberzutreten. Dennoch ist manches in diesen schweren Jahren erreicht worden. Doch das Erreichte ist weit entfernt von dem, was zur praktischen Durchführung unserer Aufgaben unerlässlich ist. Neben diesen gesellschaftlichen Schwierigkeiten verdient wohl die Behinderung der Arbeit durch unsere eigene Struktur die allergrösste Aufmerksamkeit. Unsere psychologische Kritik Freuds setzte mit der klinischen Feststellung ein, dass das unbewusste Inferno des Menschen nichts Absolutes, Ewiges, Unvergängliches ist; dass eine bestimmte gesellschaftliche Situation und Entwicklung die heutige unbewusste Struktur der Menschen erzeugt hat und sich durch sie erhält. Wir erkannten die Berechtigung der Angst vor dem "sexuellen Chaos", doch wir begrenzten sie auf historische Perioden und überzeugten uns durch unsere therapeutische Arbeit, dass es eine andere Art der Regelung menschlichen Zusammenseins geben kann. Wir haben uns nie der Illusion hingegeben, dass das Böse im Menschen von heute auf morgen zu verändern wäre. Wir gaben uns Rechenschaft über die ungeheuren Schwierigkeiten, die eine politische Psychologie zu gewärtigen hat, wenn sie sich vornimmt, die Umwälzung der menschlichen Struktur durchzusetzen. Wir selbst, die wir uns derartige Ziele gesetzt haben, sind nur allzusehr den Schwächen unserer Struktur unterworfen. Wir haben es nicht leicht, mit ihr fertig zu werden, um besser gerüstet zu sein, den Wirkungen des Irrationalen unserer Mitmenschen korrekt zu begegnen. Die Psychoanalyse ist eine Wissenschaft, die einmal an den Quellen des Lebens arbeitete. Dass sie sich ihrer politischen Natur nicht bewusst wurde, trug ganz wesentlich zur Katastrophe bei. Daraus zogen wir den korrekten Schluss: Eine Wissenschaft, die das lebendige Leben selbst zum Gegenstand ihrer Forschung hat, muss in einer reaktionären Umwelt sich entweder unterwerfen und sich selbst untreu werden, oder aber sie muss sich organisieren, d.h. sich die Organe schaffen, die sie in der Zukunft sichern. Die marxistische Wirtschaftslehre organisierte sich politisch. Auf dem Gebiete der politischen Ökonomie weckt die politische Organisierung der Wissenschaft kein Erstaunen. Anders auf anderen Gebieten. Hier hat die Illusion von der unpolitischen Wissenschaft der Klarheit viel geschadet. Die Wissenschaft vom Geschlechtsleben der Menschen ist an sich politisch, ob sie will oder nicht, daher muss sie die Konsequenz ziehen und sich zu ihrer politischen Natur bekennen. Aus dem politischen Bekenntnis folgt die Notwendigkeit der Organisation. Der Schatz an Erkenntnissen wird nicht mehr irgendwelchen Stadien gesellschaftlicher Entwicklung ausgesetzt, sondern eingereiht in die- 155 jenige politische Bewegung, die sich die Durchführung der wissenschaftlichen, rationalen Lenkung der Gesellschaft zum Ziele setzte. Man mag das Wuchern des irrationalen Denkens innerhalb der sozialistischen Bewegung mit Sorge verfolgen; es steht ausser Frage, dass die naturwissenschaftliche Psychologie und die korrekte Sexualwissenschaft ihren Platz einzig in dieser Bewegung haben. Daran wird niemand zweifeln, der die Entwicklung des Mystizismus in Deutschland und seinen Einfluss auf die naturwissenschaftliche Forschung verfolgt hat. Wir können heute nicht wissen, in welchen Formen sich die Organisierung unserer wissenschaftlichen Arbeit in der breiten Masse der Bevölkerung vollziehen wird. Doch an der Notwendigkeit, sich eine Massenbasis zu schaffen, ist nicht zu zweifeln. Das wird nicht nur ein Schutz gegen reaktionäre Einflüsse von aussen her sein, sondern auch uns selbst vor Kompromissen mit der feindlichen Umwelt bewahren. Wenn man ohne sozialen und politischen Einfluss dasteht, dann erweist sich die Umwelt als die stärkere Macht. Haben jedoch die Menschen, auf die es ankommt, den Wert einer wissenschaftlichen Arbeit für ihr Sein und ihre Zukunft erfasst, dann erleichtern sie den Kampf und verringern den Zwang der feindlichen Welt. Niemand kann seiner selbst sicher sein, natürlich auch wir nicht. Wenn wir in einer Zeit, die günstig war, etwa die Notwendigkeit des befriedigenden Liebeslebens in der Pubertät vertreten haben, so könnte eine andere Zeit es zuwegebringen, uns von dieser Behauptung zu trennen und sie vielleicht sogar in das Gegenteil zu verkehren. Wenn aber eine genügend grosse Masse von Jugendlichen unsere Lehre über die Pubertät in sich aufgenommen hat und für sie einzutreten bereit ist, dann bleibt uns ein Rückzug erspart. Unsere wissenschaftliche Arbeit wird ihrer Bestimmung zugeführt. Dieses Beispiel genüge, um zu illustrieren, was gemeint ist. Die soziale Verankerung unserer wissenschaftlichen Arbeit verspricht noch einen anderen Gewinn. Freud ging von der Physiologie aus und entdeckte die Natur des Psychischen. Unsere Kritik an der Psychoanalyse setzte an den gesellschaftlichen Auffassungen Freuds an. Indem wir die Beziehungen des Gesellschaftlichen zum Psychischen konsequent aufdeckten und verfolgten, ergaben sich reichliche Früchte auch für die klinische Arbeit. Es entstand eine grundlegend neue Art, die Gesetze des geschlechtlichen Lebens zu studieren. Die Orgasmuslehre führte mit innerer Logik wieder in die Physiologie und Biologie. Wir können noch nicht absehen, welcher Natur die endgültigen Resultate dieser Forschung sein werden. Die Entwicklung ist in vollem Flusse, die Ergebnisse sind ungewohnt, die biophysiologische Unterbauung der Psychologie scheint zu gelingen. Wir dürfen schon heute sagen, dass wir eine der wichtigsten Erwartungen Freuds sich erfüllen sehen: Die Lehre vom Seelenleben wird voraussichtlich auf ein festes biologisches Fundament gestellt werden können. Allerdings in einer anderen Weise, als man es sich gewöhnlich vorgestellt hatte. 156 Derart tragen wir eine doppelte Verpflichtung. Der Bewahrung und der praktischen Durchsetzung der revolutionären Errungenschaften Freuds fügt sich die Sicherung unserer eigenen sexualökonomischen Forschung an. Wenn wir es zuwegebringen werden, der Masse der arbeitenden, darbenden, glücksberaubten Menschen verständlich zu machen, woran wir arbeiten und weshalb wir so schwer zu kämpfen haben, dann -- daran ist nicht zu zweifeln -- wird sie auch einmal für uns eintreten, als gesellschaftliche Macht unsere Arbeit vor äusseren und inneren Gefahren schützen und selbst die Früchte der Naturwissenschaft vom lebendigen Leben einheimsen. Mögen die Auseinandersetzungen zwischen der Psychoanalyse und der Sexualökonomie noch so schwer, ja kränkend gewesen sein. Es wird nie den Grund bilden können, zu vergessen, was wir der Lebensarbeit Freuds verdanken. Denn niemand weiss besser als wir, niemand erfährt schmerzlicher als wir, weshalb die Welt Freud seinerzeit verdammte und heute der kämpferischen Wirklichkeit entrückt. Wilhelm Reich |
ZPPS, Band 3 (1936), Heft 3/4 (10/11), S. 164-165
Ein "sozialistischer" Arzt [Fenichel] über FreudMeistens schweigen sich die sozialistischen Wissenschaftler gründlich über Freud aus; man muss mit grösstem Interesse studieren, was geschrieben wird, wenn endlich mal von sozialistischer Seite grundsätzlich zu Freud Stellung genommen wird; anlässlich des achtzigsten Geburtstags Freuds hat Dr. Otto Fenichel, der die sogenannte marxistische Psychoanalyse repräsentieren soll, im «Internationalen Ärztlichen Bulletin» einen Glückwunschartikel verfasst. Er charakterisiert seinen Aufsatz als «Einige Bemerkungen über die Bedeutung der Psychoanalyse für uns sozialistische Ärzte». Diese Bemerkungen sind wirklich sehr interessant -- nicht so sehr wegen der Dinge, die drin stehen, sondern vielmehr deswegen, was nicht drin steht. Es war immer eine Tradition der ernsten marxistischen Wissenschaft, dass man nie Problemen und Konflikten von sachlicher Bedeutung aus konventionellen oder taktischen Gründen entwich, sondern dass man selbst die schwerste Problematik ohne Rücksicht angegriffen hat. Insofern Freud die marxistische Wissenschaft beeinflusst hat, trotz seiner bürgerlichen Weltanschauung -- und das hat er -- war es gerade kraft seines unerschrockenen und vorurteilslosen Mutes, auf die peinlichen Dinge loszugehen und Klarheit zu schaffen. In dieser Hinsicht gehört Dr. Fenichel zu einem Flügel der sogenannten marxistischen Wissenschaft, der mit dieser kämpferischen Tradition bricht, und sein Artikel über Freud ist ein schönes Beispiel, wie dieser akademische Sozialismus aussieht. Genau wie jede bürgerliche Zeitschrift es tun könnte, stellt er Freuds Bedeutung für die naturwissenschaftliche Psychologie fest, ohne ernsthaft auf die revolutionären Momente seiner Entdeckungen einzugehen, erwähnt kühn seine antireligiöse Einstellung, ohne seine moralischen Widersprüche zu erwähnen und stellt ihn in Beziehung zum Virchow'schen Rationalismus, -- kurz, alles ist so schön und akademisch, dass wir uns alle recht freuen können. Getreu dem Prinzip, sich weder von der Scylla noch der Charybdis zerschmettern zu lassen, weist er nach, wie Freud weder dem mechanischen Materialismus noch dem abstrakten Idealismus (das Religiös-Magische ) verfallen ist. Er schliesst -- damit wir doch nicht vergessen, dass wir Marxisten sind -- sehr pompös mit einem Zitat von Engels -- das Beste in Fenichels ganzem Artikel. Die Stellung Freuds zum Marxismus ? Taktvolles Schweigen. Die Auseinandersetzung innerhalb und ausserhalb der psychoanalytischen Bewegung über die Beziehung zur Arbeiterbewegung ? Der Taktiker schweigt. Die auf den ursprünglichen psychoanalytischen Auffassungen gebauten Untersuchungen über Massenneurosen ? Hierüber findet sich eine armselige Parenthese, die die Unentbehrlichkeit der Freud'schen Neurosenlehre für diese Arbeit wohl bemerkt, ohne aber die sexualökonomische Ausarbeitung auf marxistischer Grundlage überhaupt nur zu erwähnen (vielleicht würde Fenichel damit an einen wunden Punkt in seiner Vergangenheit erinnert werden). Und wenn Fenichel behauptet, dass die Tat- 165 sachen der kindlichen Sexualität "heute schon selbstverständlich" geworden sind, dann ist das einfach falsch. Hätte er aber darüber nachgedacht, wäre er auf den bösen Gedanken gekommen, dass es eine marxistische Bewegung Sexpol gibt, die den Kampf um die praktische Anerkennung der infantilen Sexualität führt. Man kann über Freuds Beziehung zum Sozialismus nicht sprechen, ohne auf die sexualökonomische Schule einzugehen, die sich am konsequentesten bemüht hat, die marxistische Durchführung der Freud'schen Theorien zu leisten -- diese Schweigsamkeit ist charakteristisch für seine Taktik. Denn eine Erwähnung würde so oder so zu einer klaren Stellungnahme führen müssen. Wenn man als Sozialist über Freud aufklären will, nützt es nicht, blass und kritiklos zu schreiben -- auch nicht in einem Geburtstagsartikel. Besonders arg ist es, wenn es um Freuds Person geht. Gerade wir haben ein Recht, darauf zu verweisen, dass Freud vor 40 Jahren den Kampf gegen eine ganze Welt mutig und unerschrocken geführt hat, ohne Konzessionen, ohne Angst vor der Konsequenz, wenn es die Arbeit erforderte. Die Fragen, um die es hier geht, sind so wichtig und bedeutungsvoll, auch für die Zukunft der sozialistischen Arbeiterbewegung, dass eine kritiklose Huldigung von Freud ohne die notwendigen Vorbehalte nicht nur eine üble "Taktik" ist, sondern direkt schädlich und verwirrend. Besonders krass und unsozialistisch wirkt es, wenn diese Taktik von dem "Sozialisten" Dr. Fenichel geübt wird -- denn er kann nicht behaupten, dass er schweigt, weil er die Problematik nicht gekannt hat. J.N. |
ZPPS, Band 3 (1936), Heft 3/4 (10/11), S. 169-173
Antwort an Wilhelm Reich
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ZPPS, Band 3 (1936), Heft 3/4 (10/11), S. 176-178
Rezension
(Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie - Sozialpsychologischer Teil, vom Erich Fromm. |
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