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ein paraphilosophisches Projekt
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Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie
- Organ der Sexpol -
Band 3, Heft 3/4 (10/11) (1936)

 Band 3, Heft 3/4 (10/11) (1936) 
81 Du må ikke sove
85 Sigurd Hoel: Kulturkampf und Literatur
100 Gunnar Leistikow: Ein Rufer in der Wüste und sein Ruf
113 Irma Kessel: [ein Kapitel aus] »Kinder klagen an!«
121 Stimmungsbilder aus Frankreich
129 J.H. Leunbach: Das Sowjet-Gesetz gegen Abtreibung
136 Wilhelm Reich: Charakter und Gesellschaft
150 Unser Glückwunsch an Freud
156 Sexpol-Bewegung [Tschechoslowakei, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Holland, Indien, Norwegen, Schweiz, Spanien, Österreich, U.S.A.; Betr. Fenichel über Freud]
167 Sexpol-Korrespondenz
169 Jef Last: Antwort an Wilhelm Reich [über Huxleys »Schöne neue Welt«]
sowie Replik der Sexpol

176 Besprechungen:
Erich Fromm: Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie - Sozialpsychologischer Teil (K.T.)
Frank Lorimer / Frederick Osborn: Dynamics of Population (C.T.)
Charles Enid: The Twilight of Parenthood (C.T.)
Hugo Ilfis: Der Mythos von Blut und Rasse (C.T.)
Das braune Netz (-t.)
Will Schaber: Kolonialware macht Weltgeschichte (-t.)

Zur Gesamtübersicht ZPPS
ZPPS, Band 3 (1936), Heft 3/4 (10/11), S. 100-113

Ein Rufer in der Wüste und sein Ruf
von Gunnar Leistikow


Dieser Artikel wurde Anfang 1935 für die «Neue Weltbühne» auf Anregung ihrer Redaktion geschrieben. Seit Ablieferung des Manuskripts war es mir trotz wiederholter brieflicher Anfragen nicht möglich, eine Äusserung der Redaktion dazu zu bekommen. Der Artikel wurde nicht gebracht, das Manuskript nicht zurückgeliefert und kein Brief beantwortet. G.L.

Lernen, lernen und nochmals lernen !
Lenin


I -- Über die Notwendigkeit einer dialektisch-materialistischen Psychologie und ihre Aufgaben

Die wirtschaftliche Entwicklung der kapitalistischen Welt in den beinahe siebzig Jahren seit dem Erscheinen des «Kapitals » hat Marx in fast allen Punkten bestätigt. Das Kapital hat sich auf ganz wenig Hände konzentriert, ein paar Riesentrusts und Monsterkonzerne haben den Staatsapparat zu ihrem Exekutivorgan reduziert, die Verelendung hat ein Ausmass erreicht wie noch nie, und die industriellen Reservearmeen umfassen bereits bedrohlich grosse Teile der ge-

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samten Arbeiterschaft. Der Kapitalismus als Wirtschaftssystem hat sich ausserstande gezeigt, die Produktion auch nur annähernd dem Stand der Produktivkräfte anzugleichen; kaum die Hälfte der Produktionskapazität der Weltwirtschaft wird ausgenützt. Das Kapitalmonopol ist wirklich zur "Fessel der Produktionsweise" geworden, die mit und unter ihm aufgeblüht ist; die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit haben den Punkt erreicht, "wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle."

Jedoch sind die Folgen, ausser in Russland, wo sich besondere Verhältnisse geltend machten, ausgeblieben. Die Expropriateure sind nicht expropriiert worden, und es bestehen kaum Anzeichen, dass die Stunde des kapitalistischen Privateigentums demnächst schlagen wird. Die Massen sind nicht den Parolen der Revolution gefolgt, ja wir haben es in vielen Ländern erlebt, dass es den Nutzniessern einer überlebten Wirtschaftsform gelang, die Massen vor den Wagen des Kapitalismus zu spannen, ohne dass diese Massen merkten, dass der Passagier ein -- allerdings gut eingepackter -- Sterbender ist.

Dass Menschen, die hungern, aufbegehren, nimmt uns nicht wunder; dass aber -- was weit häufiger vorkommt -- Menschen sich schinden lassen für einen Lohn, der zum Sterben zu gross, zum Leben zu gering ist, ist eine Tatsache, wohl wert darüber nachzudenken. Wenn proletarische Massen darüber hinaus für eine offenkundig im Kapitalistensold stehende faschistische Partei stimmen oder den Anschluss des Saargebietes an Thyssens und Röchlings Hitlerdeutschland durchsetzen, kurz: aktiv gegen ihre eigenen Interessen handeln, so stehen wir vor Tatsachen, vor denen unser ganzes marxistisches Wissen versagt. Kein Wunder, denn es sind Fragen psychologischer Natur und eine brauchbare marxistische Psychologie -- die bürgerlich-idealistische wird uns hier wenig nützen -- steht uns nicht zur Verfügung.

Seit Marx wissen wir, dass sich Materielles (das Sein) im Menschenkopf in Ideelles (das Bewusstsein) umsetzt. Wie dieser Umsetzungsprozess vor sich geht, nach welchen Gesetzen und unter welchen Bedingungen, wussten wir nicht, es interessierte wenig. Entweder kümmerte man sich überhaupt nicht darum oder man nahm an, dass diese Umsetzung so einfach und unkompliziert vor sich ginge wie in der Bank die Umwechslung der einen Geldsorte in die andere. Dass eine solche Annahme bürgerlich-idealistische Metaphysik reinsten Wassers war, merkte nicht einmal der gewiefteste Marxist (weil das bisherige gesellschaftliche Sein ihm diese Frage nicht nahelegte). Ebensowenig kam er auf die Idee, auf das psychische Geschehen wie auf jedes andre biologische oder gesellschaftliche Gebiet die Gesetze der Dialektik anzuwenden.

Erst die Reaktionen von hunderttausenden von Proletariern (um von den Kleinbürgern ganz zu schweigen) auf die Lockungen der nationalsozialistischen Propaganda liessen die Frage, wie denn eigentlich die Umsetzung von Materiellem in Ideelles im Menschenkopf vor sich

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geht, aktuelle politische Bedeutung gewinnen. Dass Goebbels lauter, weil mit reichlicheren Geldquellen ausgestattet, schrie als die echten Revolutionäre, ist keine Erklärung für die Frage, warum die Massen an einem gewissen Zeitpunkt anfingen, zu den Nazis zu strömen; denn er müsste ja, wenn er auch tausendmal so laut schrie, vergeblich schreien, wenn nicht etwas in den Menschenköpfen bewirkte, dass die Menschen gerade auf sein Gebrüll hörten. Das Problem ist also ein psychologisches, und mit ihm tauchte das Bedürfnis nach einer marxistischen Psychologie auf dialektisch-materialistischer Grundlage zur Erklärung derartiger Fragen auf.

Welches sind nun die Grundbedingungen, die von marxistischer Seite an eine solche Psychologie gestellt werden müssen ?

Erstens, sie muss eine materialistische sein, das heisst zunächst, dass sie sich der Biologie einordnen muss. Psychisches Geschehen tritt ja nur am lebenden Organismus auf, folglich müssen die Gesetze, die für das physische Geschehen am menschlichen Organismus gelten, auch für das psychische Geschehen Geltung haben. Physisch und psychisch sind keine absoluten, sondern nur dialektische Gegensätzlichkeiten. Die Verabsolutierung des Gegensatzes in der bürgerlichen Wissenschaft ist, geschichtlich gesehen, ein Rest mittelalterlicher Metaphysik, ein Derivat der theologischen Vorstellung von einer Zweiteilung der Welt in anorganische Materie und in den über den Wassern schwebenden Geist Gottes.

Doch mit dem Hinweis auf den naturwissenschaftlichen Charakter der marxistischen Psychologie ist deren materialistischer Gehalt nicht erschöpft. Das Seelenleben geht hervor aus einem Zusammenspiel von Kräften, die zur Abfuhr drängen (Trieben) und solchen, die die Abfuhr aufhalten. Da aber, wie die Biologie lehrt, die lebende Substanz als solche nur nach Abfuhr drängende Kräfte kennt, müssen die hemmenden Momente einem nicht-biologischen Bereich, nämlich der Aussenwelt, entstammen, beziehungsweise unter den Einflüssen der Aussenwelt veränderte, entstellte Triebe sein. Welches sind nun aber diese Einflüsse der Aussenwelt, die auf die Psyche des Menschen ummodelnd einwirken ? Es sind die Bedingungen, unter denen die Bedürfnisse des Menschen befriedigt beziehungsweise nicht befriedigt werden, also Konsum- und Produktionsverhältnisse, äussere Gewalt, Lebensbedingungen, kurz eben jene materiellen Verhältnisse, die sich nach dem Wort von Marx im Menschenkopfe in Ideologie umsetzen.

Die zweite Bedingung, die wir an eine Psychologie, die sich mit Fug marxistisch nennen will, stellen müssen, ist, dass sie die Gesetze der Dialektik auf ihren Untersuchungsgegenstand anwendet, und zwar derart, dass sie alle Einzelerscheinungen der menschlichen Psyche, alle psychischen Prozesse und alle innerhalb der Psyche sich formenden Gegensätze, wie zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen rationalem und irrationalem Handeln, von dem ebengenannten Urgegensatz zwischen Trieb-Ich und Aussenwelt ableitet.

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Nur eine Psychologie, die diese Bedingungen erfüllt, kann von Marxisten ernstgenommen und angewendet werden. Aber auch nur eine solche wird in der Lage sein, uns solche Rätsel zu lösen wie, weshalb ein hungernder Mensch in einem unbewachten Augenblick nicht Brot stiehlt, weshalb unterdrückte Proletarier sich nicht gegen ihre Unterdrücker auflehnen, weshalb in katholischen Ländern die reaktionäre Kirche mehr jugendliche Proletarier an sich zieht als sozialistische Organisationen, weshalb die grossen Massen der Industriearbeiter 1933 nicht den revolutionären Organisationen zuströmten, wie sie es zehn Jahre vorher taten, weshalb mit anderen Worten ein psychologisches Zurückbleiben der Revolutionierung des Proletariats gegenüber der Entwicklung der ökonomischen Basis besteht.

Der Versuch, eine solche marxistische, naturwissenschaftliche Psychologie auf dialektisch-materialistischer Grundlage zu begründen, ist bereits gemacht worden.

Zusatz 1936: Manès Sperber machte mich darauf aufmerksam, dass in der russischen Zeitschift «Psichologija» andere Versuche gemacht worden seien. Da es mir bis zur Drucklegung dieses Aufsatzes nicht möglich gewesen ist, mir diese Zeitschrift zu beschaffen, bin ich leider gezwungen, von einer Gegenüberstellung Abstand zu nehmen. G.L.

II -- Der Versuch Reichs, eine marxistische Psychologie zu gründen

Der erste und offenbar bisher einzige Versuch, die Methode des dialektischen Materialismus auf das menschliche Seelenleben anzuwenden, ist der von Wilhelm Reich. Bisher ist Reich allerdings ein Rufer in der Wüste geblieben.

Reichs psychologisches System hat seinen Ausgangspunkt in einem Zwiespalt in der Ideologie des Proletariers, den Reich zum Hauptobjekt seiner Untersuchungen macht. Dieser Zwiespalt besteht darin, dass die Ideologie des Proletariers durch zwei ganz verschiedene Faktoren bestimmt ist, einerseits durch die materiellen Verhältnisse, in denen er lebt (Ausbeutung, Unterernährung, Wohnungsnot usw.), andererseits aber durch die Ideologie des Bürgertums, denn wie wir von Marx wissen, ist die Ideologie der herrschenden Klasse die Ideologie der ganzen Gesellschaft, also auch des Proletariats. Die Menschen unterliegen ihren Seinsverhältnissen auf doppelte Art: direkt der unmittelbaren Einwirkung ihrer ökonomischen und sozialen Lage, und indirekt vermittels der ideologischen Struktur der Gesellschaft; sie müssen also immer einen Widerspruch in ihrer psychischen Struktur entwickeln, der dem Widerspruch zwischen der Einwirkung durch ihre materielle Lage und der Einwirkung durch die ideologische Struktur der Gesellschaft entspricht. Der Arbeiter etwa ist sowohl seiner Klassensituation wie der allgemeinen Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt (vgl. Reich: Massenpsychologie des Faschismus, 1933, S. 32). Die Ideologie des Proletariers enthält also Elemente, die für seine Klasse spezifisch sind und solche, die er mit

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Mitgliedern anderer Gesellschaftsklassen gemeinsam hat. Es ist ohne weiteres klar, dass die aufwieglerischen und revolutionären Tendenzen des Arbeiters vorwiegend den ersteren entstammen, während die letzteren auf diese auflehnenden Bestrebungen eine hemmende Wirkung ausüben. Der durchschnittliche Arbeiter ist also weder eindeutig revolutionär noch eindeutig reaktionär, sondern er trägt einen Widerspruch von revolutionärer Einstellung und bürgerlicher Hemmung in sich; hierbei kann das Verhältnis von den vorwärtsdrängenden, rein proletarischen Ideologieelementen zu den hemmenden bürgerlichen nicht nur bei verschiedenen Arbeitern verschieden sein, sondern auch bei ein und demselben Arbeiter zu verschiedenen Zeitpunkten, je nach den äusseren Einflüssen. Welch eine überragende Bedeutung die Einsicht in diesen Tatbestand für die revolutionäre Praxis haben kann, erhellt daraus, dass, wie wir von Marx und Engels wissen, nicht nur die Ideologie von den materiellen Verhältnissen bestimmt ist, sondern in dialektischer Wechselwirkung mit ihnen steht und rückwirkend wiederum die ökonomische Basis verändert, (1) dass also die politische Handlungsweise des einzelnen Arbeiters weitgehend von seiner Ideologie mitbestimmt ist. Doch bevor wir Schlüsse für die Praxis ziehen, müssen wir uns zunächst darüber klar werden, welches diese verschiedenen Elemente sind, und wie sie im Kopfe des Arbeiters entstehen.

Die Herkunft der vorwärtsdrängenden Strukturelemente der Ideologie des Arbeiters ist ohne weiteres verständlich; es ist die Klassenlage des Proletariers. (2) Weniger klar dagegen ist, wie die bürgerlichen Elemente in seine Psyche eingedrungen sind. Fragen wir ihn selbst, so weiss er keine befriedigende Antwort zu geben; denn "die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt", "er imaginiert sich also falsche oder scheinbare Triebkräfte". (3) Nun gibt es aber eine Methode, unbewusste, seelische Inhalte bewusst zu machen. Diese Methode ist die psychoanalytische. Reich wendet auch an dieser Stelle die Psychoanalyse an (4), was vom
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(1) Am deutlichsten ausgesprochen von Engels im Brief an J. Bloch vom 21 September 1890. Mit Hinblick auf diese Rückwirkung spricht Reich von der "Ideologie als materieller Gewalt".
(2) Dort, wo es der Arbeiterklasse gelungen ist, ihre Lage soweit zu bessern, dass sie materiell nicht schlechter steht als das Kleinbürgertum (hochbezahlte Qualitätsarbeiter im Zweiten Reich, USA, CSR, heute noch vielfach in der Schweiz, Frankreich, Holland, Skandinavien), entstehen auch (klein)bürgerliche Ideologieelemente aus der Klassenlage und können sogar entscheidende politische Bedeutung erlangen (Neigung zu nichtrevolutionären Parteien, konservative Tendenzen in den reformistischen Parteien in den genannten Ländern usw.).
(3) Engels im Brief an Mehring vom 14. Juli 1893.
(4) Reichs Arbeiten führten ihn längst über die Ergebnisse der Psychoanalyse hinaus auf das Gebiet eigener Forschungen. Die Sexualökonomie, welche aus der dialektisch-materialistischen Psychologie Reichs und seinen Forschungen auf physiologischem Gebiet resultiert, hat sich so weit von der sich reaktionär entwickelnden Psychoanalyse entfernt, dass eine absolute Trennung beider Gebiete notwendig ist. (Vgl. Überblick d. Zt.) (Die Redaktion)

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marxistischen Standpunkt aus durchaus unbedenklich ist. Es ist zwar in marxistischen Kreisen die Ansicht weit verbreitet, dass die Psychoanalyse eine idealistische bürgerliche Wissenschaft sei, doch diese Ansicht beruht auf einem Irrtum. Bei näherer Betrachtung ergibt sich, dass die Psychoanalyse, richtig gehandhabt, nichts anderes tut, als seelische Erscheinungen als ein -- dialektisches ! -- Zusammenspiel von biologisch gegebenen Trieben und diese Triebe modifizierenden Einflüssen der Aussenwelt zu erklären. Sie erfüllt also eben jene Bedingungen, die wir für eine marxistische Wissenschaft gestellt haben.

"Die Psychoanalyse weist zunächst alles 'Moralische' im Menschen als historisch geworden nach, also als entstanden durch die Einflussnahme der älteren Generation auf die heranwachsende jüngere, wobei sie (die ältere Generation) sich bei solcher Einflussnahme erstens von den eigenen Interessen und zweitens von der jeweiligen gesellschaftlichen Ideologie und damit von der materiellen Basis, den jeweiligen Produktionsverhältnissen, leiten lässt. ... Die Psychoanalyse weist aber darüber hinaus nach, dass die Kräfte, die die Moral speisen, zu denen der biologischen Triebe nicht in einem absoluten, sondern in einem dialektischen Gegensatz stehen. Die Moral ist aus den Trieben selbst hervorgegangen, indem es der Umwelt gelang, einen Teil der Triebenergie für ihre Zwecke einzufangen und gegen die ihr unerwünschten Triebe zu lenken." -- Einen Menschen psychoanalytisch erforschen heisst also, seine psychische Struktur historisch-genetisch erforschen. Die Psychoanalyse ist nichts anderes als "eine materialistische Geschichtsauffassung, mit der die Historik des Einzelnen betrieben wird." Das ist bei Licht gesehen des Pudels Kern, und daran vermag auch nicht die Tatsache etwas zu ändern, dass von bürgerlicher Seite mit der psychoanalytischen Wissenschaft eine ungeheure Quacksalberei getrieben wird, von der sich der Marxist noch mehr distanzieren muss als der bürgerliche Forscher. Den unheilvollsten Wirrwarr stiftet diese Quacksalberei dort an wo sie die Grenzen der Psychologie überschreitet und sich an gesellschaftliche Tatbestände heranwagt. Wenn "Psychoanalytiker" versuchen, den Kapitalismus oder den Krieg mit menschlicher Habgier zu erklären, kann dabei nur Unsinn herauskommen, denn der Kapitalismus ist Gegenstand der Soziologie und nicht der Psychologie. Wie Reich sagt: Mit der Psychologie erfassen wir das Verhalten der Arbeiter im Streik, nicht aber den Streik selber. (Die Übertragung der psychoanalytischen Methode auf soziologische Vorgänge muss natürlich auch dort abgelehnt werden, wo sie von dem Schöpfer der Analyse selber vorgenommen wird -- [Freud: «Unbehagen in der Kultur», «Totem und Tabu«. Man muss, wie Reich sagt, unterscheiden, wo Freud "Naturwissenschaftler genialer Art" ist, wo "bürgerlicher Philosoph ältester Schattierung". Um sich äusserlich von der bürgerlichen Psychoanalyse zu distanzieren, verzichtet Reich auf den so arg missbrauchten und in Miss-

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kredit geratenen Terminus "Psychoanalyse" und benennt sein Lehrgebäude -- die-dialektisch-materialistische Psychoanalyse -- "Sexualökonomie".

Da die Psychoanalyse also (obgleich diese Tatsache Freud selbst und vielen anderen bürgerlichen Psychoanalytikern unbekannt blieb), eine dialektisch-materialistische Naturwissenschaft ist, so ist prinzipiell nichts dagegen einzuwenden, dass Reich sie und ihre klinischen Ergebnisse bei seinen Untersuchungen über die Ideologiebildung im Menschenkopf anwendet.

III -- Die Anwendung der Psychoanalyse in der marxistischen Psychologie

Indem Reich die Psychoanalyse auf den Prozess der Ideologiebildung anwendet, zeigt es sich, dass auch die bürgerlichen Ideologieelemente, genau wie die spezifisch proletarischen, materiellen Bedürfnissen entspringen. Der einzige Unterschied zu den spezifisch proletarischen Elementen ist der, dass es sich bei den bürgerlichen nicht um eigene materielle Bedürfnisse des Inviduums handelt, sondern um materielle Bedürfnisse der herrschenden Klasse. Diese werden in die Psyche des proletarischen Kindes hineingezwängt, und zwar dergestalt, dass das Kind sie unbewusst aufnimmt und sie sich aneignet, als ob sie die eigenen Bedürfnisse des Kindes wären. Dieser Prozess der Hineinzwängung geht auf mannigfache Art vor sich, in der (bürgerlichen) Schule, innerhalb bürgerlicher, bzw. kirchlicher Jugendorganisationen, in der Kirche und nicht zuletzt im proletarischen Elternhaus. Die Eltern des Kindes sind ja von ihrer eigenen Jugend her auch bürgerlich-ideoloisch verbaut, und ihre bürgerlichen Ideologieelemente übertragen sie unbewusst auf das Kind, genau so wie sie ihm ihre proletarischen Elemente übermitteln und dies um so stärker, je mehr der Lebensstil der Eltern sich dem kleinbürgerlichen nähert, und umso weniger, je grösser die Not zuhause ist.

Es fragt sich nun, wie es möglich ist, dass das proletarische Kind ihm fremde Bedürfnisse aufnimmt und sie sich so weitgehend aneignet, dass es sie wie seine eigenen empfindet. Um dies zu verstehen, müssen wir einen kleinen Abstecher in die Trieblehre machen.

Aus der bürgerlich-idealistischen Wissenschaft ist uns die Unterscheidung zwischen Nahrungs-(bzw. Selbsterhaltungs-)Trieb und Geschlechts-(bzw. Arterhaltungs-)Trieb geläufig. Indessen, wie so oft, ist auch hier der Gegensatz kein absoluter (sondern ein dialektischer). In Wirklichkeit gibt es nur eine Art Trieb: Drang zur Beseitigung eines durch physiologische Spannung entstandenen Reizes. "Die Spannung im Magen, die sich psychisch als Hunger kundgibt, treibt ("Trieb") zum Essen und erhält so das Individuum; die Spannung in den Sexualorganen, insbesondere im Genitale, die sich psychisch als Sexualverlangen kundgibt, treibt zur sexuellen Betäti-

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gung im Geschlechtsakt." (1) Wenn diese beiden Triebe genetisch auch identisch sind, so verhalten sie sich jedoch verschieden in dem Falle, dass Einflüsse der Aussenwelt eine Befriedigung verhindern. Während der Hunger starr und unerbittlich bleibt, ist der Geschlechtstrielb geschmeidiger, wandelbar, das ist eine Tatsache von grösster nicht nur psychologischer, sondern auch soziologischer Bedeutung. (2) Er ist im Stande, andere Formen anzunehmen, wenn die natürliche Befriedigung ausbleibt. Er wird dann aus dem Bewusstsein ausgestossen, "verdrängt" und taucht später entweder als neurotisches Symptom oder als perverse Neigung wieder auf. Vielfach -- allerdings nur in sehr beschränktem Ausmass -- lässt er sich in andere Energie formen, mit nicht genitalem Ziel, in Phantasie, bzw. Arbeitsenergie umsetzen. In derart umgewandelter Form lässt sich die Sexualenergie auch zur gefühlsmässigen "Bindung" fremder Ideen, Gedankengänge und anderer durch die Sinnesorgane vermittelter Einflüsse verwenden. Letzteres ist bei der Aufnahme der bürgerlichen Ideologieelemente der Fall.

Fragen wir, welche Einflüsse der Aussenwelt es sind, die die natürliche Befriedigung vereiteln und damit die Umwandlung des Sexualtriebes bewirken, so sehen wir, dass es sich zunächst um Massnahmen der Erzieher handelt, und dass sie bereits im allerfrühesten Kindesalter einsetzen. Um eines der üblichsten Beispiele zu nennen: unter dem Einfluss des weitverbreiteten Aberglaubens, dass Onanie schädlich sei, stellt man dem Kinde schwere Strafen für seine Masturbationen in Aussicht, droht etwa dem kleinen Knaben, man werde ihm sein Glied abschneiden, oder sagt ihm, Gott, der alles sehe, werde ihm diese "Sünde" nie verzeihen. So unterdrückt man die dieser Altersstufe adäquate natürliche Sexualbefriedigung und erreicht dabei oft nichts anderes als eine krankhafte Kastrationsangst oder einen religiös geprägten Masochismus. Denn das Kind muss ja das Verbot übertreten, weil der Drang zur Onanie nicht nachlässt. Es onaniert seltener und mit schlechtem Gewissen, die gestaute Sexualenergie verwandelt sich in Angst (3) und steigert die Angst vor der Strafe (Realangst) ins ungemessene, krankhafte (Sexualangst oder neurotische Angst). Bei Jugendlichen hintertreibt man den Geschlechtsverkehr, indem man die Geschlechter von einander absondert und die monogame Ehe als Geschlechtsbeziehung idealisiert; indem man die Jungen in weniger beaufsichtigte Organisationen von Geschlechtsgenossen steckt, gibt man sie gleichzeitig der Versuchung preis, den in der Pubertät besonders drängenden Trieb in homosexueller Weise zu befriedigen. Doch mit Strafandrohung und Zwang allein ist es nicht getan. Die Eltern und Erzieher können nicht immer die Zöglinge im Auge haben; darum werden Ehrgefühl, Gottesfurcht, Eltern-
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(1) Reich, Der Einbruch der Sexualmoral, 2. Aufl. 1935, S. 107.
(2) Das ändert nichts an der Tatsache, dass der Hunger der wichtigste Motor des gesellschaftlichen Geschehens ist. (Reich, Massenpsychologie..., S. 107.)
(3) Angst ist die erste Zwischenstufe bei fast jeder Umwandlung von Sexualenergie.

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liebe und andere emotionelle Faktoren in den Dienst der Sexualunterdrückung gestellt. In Anknüpfung an jene komplizierten seelischen Vorgänge, die die Psychoanalyse "Identifizierung" nennt, werden nicht zur Auslösung gelangende Sexualenergien zur Aufnahme und zum Einbau der elterlichen Ge- und Verbote in der Psyche des Heranwachsenden mobilisiert. Es wird auf diese Weise jene psychische Instanz geschaffen, die wir unter dem Namen "Moral" kennen und die den Einzelnen sein Leben lang begleitet und sein Sexualleben einengt, auch wenn Eltern und Erzieher längst gestorben oder ausser Reichweite sind.

Es fragt sich jetzt: Warum tut die Sexualmoral dies ? Welches Interesse hat die herrschende Klasse an einer so weitgehenden Unterdrückung des Geschlechtslebens, die ja nicht nur die beherrschten Klassen, sondern auch sie selbst trifft ? (1)

Die gesellschaftliche Funktion der Sexualunterdrückung ist dreifacher Art. In jedem einzelnen Fall bedeutet sie eine wirksame Stütze der sozialen Unterdrückung und Ausbeutung der werktätigen Schichten durch die herrschende Klasse.

Erstens bewirkt die Sexualunterdrückung eine erhebliche Schwächung der Widerstandskraft der ausgebeuteten Klasse. Durch die Behinderung des natürlichen Abflusses der Sexualenergie wird für jeden einzelnen ein schwer zu bewältigendes Problem geschaffen, das einen Grossteil seiner Energie beansprucht, das sonst dem Widerstand gegen die soziale Unterdrückung zugute gekommen wäre. Wie enorm die Energiemenge ist, die auf diese Weise den Ausgebeuteten abgezapft wird, zeigt am besten die Tatsache, dass in den kapitalistischen Ländern 98% aller Belletristik und aller Filme erotische Probleme und Konflikte zum Thema haben.

Zweitens wird darüber hinaus ein Teil der Sexualenergie der Unterdrückten durch die Unterdrücker mobilisiert und auf deren Seite gegen die Unterdrückten selbst in den Klassenkampf geführt, nämlich jener Teil, der zur Aufnahme und Aneignung der sexualfeindlichen und deshalb die Widerstandskraft der Unterdrückten untergrabenden Sexualmoral verwendet wird.

Endlich führt diese Aneignung der bürgerlichen Sexualmoral nicht nur zur Bejahung dieser Moral, sondern darüber hinaus auch zur Bejahung der sozialen Unterdrückung durch die Unterdrückten selbst. Dies geschieht zum grossen Teil auf dem Umweg über die Religion. Mit Hilfe eines weiteren Teiles der nicht zur Befriedigung kommenden Sexualenergie wird im frühesten Kindesalter der Gottesglaube in der
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(1) Dass die Sexualunterdrückung keine natürliche Erscheinung ist, sondern eng mit der Wirtschaftsorganisation des Privateigentums verknüpft ist, zeigt die Tatsache, dass primitive, noch in der Wirtschaftsform des Urkommunismus und im Matriarchat lebende Stämme keine Unterdrückung des Geschlechtslebens der Kinder und Jugendlichen kennen und deshalb auch weder Perversionen noch neurotische Erkrankungen. Vgl. Reich, Der Einbruch der Sexualmoral.

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menschlichen Psyche verankert. Auf diesem schwer völlig zu entwurzelnden, weil mit verdrängter infantiler Sexualangst verknüpften Gottesglauben baut später die Kirche die Religion auf, die mit Hilfe des ebenfalls mittels Sexualangst verankerten Sündenbegriffs als Geissel den Heranwachsenden lehrt, ein treuer, demütiger Untertan der -- bürgerlichen -- Obrigkeit zu sein und ihm diese Lehre mit einem Verrechnungsscheck auf die Ewigkeit akzeptabel macht.

Mit anderen Worten, mit Hilfe der bürgerlichen Sexualmoral macht die Sexualunterdrückung "ängstlich, scheu, autoritätsfürchtig, gehorsam, im bürgerlichen Sinn brav und erziehbar; sie lähmt, weil nunmehr jede aggressive Regung mit schwerer -- neurotischer ! -- Angst besetzt ist, die auflehnenden Kräfte im Menschen, setzt durch das sexuelle Denkverbot eine allgemeine Denkhemmung und Kritikunfähigkeit; kurz, ihr Ziel ist die Herstellung des an die privateigentümliche Ordnung angepassten, trotz Not und Erniedrigung sie duldenden Staatsbürgers." (1) Am ausgeprägtesten finden wir diesen Typ im Kleinbürgertum, da dieser Klasse die diesem Prozess entgegenwirkenden proletarischen Ideologieelemente völlig fehlen. (2) Da die Sexualunterdrückung vor allem in der und durch die Familie vollzogen wird, wird diese somit zur "wichtigsten Ideologiefabrik" der herrschenden Klasse. Wir verstehen jetzt, warum es den Reaktionären aller Lager so sehr um das Wohlergehen dieses Gebildes, das ja einen autoritären Staat in Taschenausgabe darstellt, zu tun ist.

Wir sind jetzt imstande zu verstehen, wieso das proletarische Kind ihm fremde Bedürfnisse aufnimmt und sie wie seine eigenen empfindet, ohne dass ihm ein Unterschied bewusst wird. Denn wir haben gesehen, dass diese fremden Bedürfnisse, welche Bedürfnisse der herrschenden Klasse sind, dem Kind durch die bürgerliche Moral aufgezwungen und dann mittels umgewandelter Sexualenergie des Kindes selbst von ihm assimiliert werden. Wir können jetzt auch feststellen, was der Inhalt dieser aufoktroyierten Bedürfnisse der herrschenden Klasse ist, nämlich: Verneinung des kindlichen, jugendlichen und ausserehelichen Geschlechtslebens, widerstandslose Hinnahme der Ausbeutung und darüber hinaus Bejahung der sexuellen wie der sozialen Unterdrückung. Mit diesen Feststellungen haben wir den Forderungen Genüge getan, die wir an eine marxistische Disziplin stellten: wir haben klargelegt, dass unser Gegenstand materieller Natur ist, und wir haben die Gegensätze, in denen er uns entgegentrat, auf den ersten Gegensatz zwischen Trieb-Ich und Umwelt zurückgeführt.
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(1) Reich, Massenpsychologie..., 1. Aufl., S. 50.
(2) d.h., soweit keine Proletarisierung dieser Klasse eingesetzt hat.

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IV -- Die Lehren der marxistischen Psychologie und die revolutionäre Praxis.
Einwände gegen Reich

Aus der Anwendung der Psychoanalyse bei der Untersuchung der seelischen Struktur des Proletariers ergab sieh, dass es vorwiegend seine spezifisch proletarischen Ideologieelemente sind, die ihn vorwärtsdrängen, vom revolutionären Standpunkte aus gesehen also die positiven, während die bürgerlichen den revolutionären Impulsen hemmend entgegenwirken. Dabei werden diese, den Bedürfnissen der herrschenden Klasse entsprungenen, fremden Ideologieelemente durch umgewandelte Sexualenergien festgehalten und angeeignet.

Aus dieser Erkenntnis ergibt sich eine Fülle von Konsequenzen für die revolutionäre Praxis. Da das Verhältnis zwischen den vorwärtsdrängenden und den hemmenden Elementen bei grösseren und kleineren Gruppen sowie bei den Einzelmenschen kein konstantes ist, sondern erheblich je nach den äusseren Umständen schwanken kann, so muss jede revolutionäre Propaganda darauf bedacht sein, die spezifisch proletarischen Ideologieelemente zu stärken und die bürgerlichen zu untergraben und zu schwächen. Eine solche Untergrabung ist jedoch keine einfache Sache. Da die Aufnahme der bürgerlichen Ideologie ein unbewusster Prozess ist, und der Einbau derselben emotionell geschützt ist, ist mit Logik und Unterredung allein herzlich wenig auszurichten. Um die -- unbewussten -- bürgerlichen Ideologieelemente zu zerstören, muss man die ausserhalb der Partei stehenden Massen auch gefühlsmässig an die revolutionäre Bewegung binden, so wie es die Faschisten meisterhaft verstanden haben.

Diese Lehre ist die Sexüalökonomie. Mit anderen Worten: man muss der bürgerlichen Wissenschaft den Alleinbesitz der Psychologie entreissen und die Führung in dieser Disziplin dem Proletariat übergeben, so wie Marx und Engels der bürgerlichen Wissenschaft den Alleinbesitz und die Führung in der Nationalökonomie und Soziologie entrissen haben.

Mit Hilfe sexualök. Erkenntnisse gilt es zunächst die Qualität der revolutionären Propaganda zu heben und diese auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. Hier liegt, wie man weiss, vieles im Argen. Auf dem letzten Ekki-Plenum der Kl wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die kommunistische Propaganda, besonders die Parteipresse nicht die "Sprache der Massen findet". Hier Abhilfe zu schaffen, alte Fehler zu erkennen und neue zu vermeiden, ist eine der praktischen Hauptaufgaben der marxistisciien Psychologie.

Reich gibt Vorschläge zur Lösung dieser Frage und Forderungen für die revolutionäre Praxis. Das Alpha und Omega dieser Forderungen ist, das Verlangen nach geschlechtlichen Befriedigungsmöglichkeiten zu erheben unter gleichzeitiger Entlarvung der reaktionären gesellschaftlichen Funktion der Sexualunterdrückung und der bürger-

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lichen Sexualmoral. Von einer solchen Aktion erwartet Reich zwar keine allgemeine sexuelle Befreiung des Proletariats -- (eine solche ist, da die Sexualform wie das gesamte gesellschaftliche Sein des Mensehen durch die Wirtschaftsform bestimmt ist, (1) erst nach der proletarischen Revolution und nach Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln möglich) er erwartet aber Folgen von allergrösster Bedeutung.

Nämlich:
Erstens Untergrabung und Auflösung der bürgerlichen Ideologieelemente und damit Unterhöhlung eines der Hauptpfeiler des Herrschaftsgebäudes des Kapitalismus: der Bereitschaft der Massen, die ihnen auferlegte soziale Unterdrückung und Ausbeutung zu ertragen und darüber hinaus vielfach noch zu bejahen.

Zweitens: Lösung der psychischen Energien, die zur Verankerung der bürgerlichen Sexualmoral und der Religion verwendet werden. Ist die Religion das Opium des Volkes, so ist die Sexualmoral sein Morphium. Die Entwöhnung der Massen von diesen einschläfernden und lähmenden Rauschgiften würde ungeheure Mengen umgewandelter Sexualenergie frei machen, die weitgehend sublimiert und in den Dienst des revolutionären Kampfes gestellt werden könnten.

Drittens: Möglichkeit eines erfolgreicheren Kampfes gegen Religion und Kirche. Da die Empfänglichkeit der Menschen für religiöses Empfinden und damit für die sozialreaktionären Lehren und Forderungen der Kirchen -- wie die psychoanalytische Praxis aufdeckt -- durch unbefriedigendes, gehemmtes Geschlechtsleben bedingt ist, so bedeutet intensive Aktivierung sexualpolitischer Forderungen eine Unterminierung der Kirche von ihrer empfindlichsten Seite her.

Viertens: Heranziehung unpolitischer und von der revolutionären Bewegung abseits stehender Massen. Da nicht nur das Proletariat, sondern ziemlich alle Volksschichten unter der sexuellen Unterdrückung zu leiden haben, ist es möglich, mit einem weitgehenden sexualpolitischen Programm Schichten heranzuziehen, die einer direkten Beeinflussung durch revolutionäre Forderungen auf ökonomischem und politischem Gebiet unzugänglich sind, und sie auf dem Umweg über die Sexualpolitik allgemeinpolitisch zu beeinflussen. Das gilt besonders von den sogenannt unpolitischen Menschen (2) und von demjenigen Teil des Kleinbürgertums, der wirtschaftlich proletarisiert, ideologisch aber noch ganz bürgerlich ist und der deshalb nicht den Anschluss an die revolutionäre Bewegung findet. Welche ungeheure Bedeutung diesem letzten Punkt zukommt, erhellt aus der Erwägung, dass die Aufstellung der Forderung nach sexueller Befreiung als Programmpunkt es ermöglicht, auch an diejenigen Schich-
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(1) Reich, Massenpsychologie..., S. 247.
(2) "Der unpolitische Mensch ist der in Sexualkonflikten absorbierte Mensch." (Reich)

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ten heranzutreten, deren materielle Existenz der Faschismus bzw. die bürgerliche Demokratie sichert, und die deshalb an der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise interessiert sind. Gutbezahlte Polizisten und faschistische Garden vermag die revolutionäre Bewegung durch Hinweise auf Verbesserung der Lage des werktätigen Volks im sozialistischen Zukunftsstaat nicht für sich zu gewinnen. Aber kasernierte Wachmänner und SS-Leute haben nicht weniger unter der bürgerlichen Sexualunterdrückung zu leiden als das Proletariat. Deshalb könnten die Revolutionäre durch Aktivierung der Sexualfrage zeigen, dass sie auch ihnen etwas zu bieten haben, und so die letzten Garden des Kapitals von ihrer empfindlichsten Seite her korrumpieren.

Bisher ist Reich mit seinen Bemühungen nicht auf viel Gegenliebe gestossen. Bei den bürgerlichen Psychoanalytikern ist er verfemt, weil er aus der Tatsache, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung eine Massenprophylaxe der neurotischen Erkrankungen nicht zulässt, als Arzt die Konsequenz gezogen hat, diese kapitalistische Gesellschaftsordnung abzulehnen und sich aktiv an dem revolutionären Kampf gegen sie zu beteiligen. Damit hat er die Grenze zwischen Wissenschaft und Politik überschritten, was bekanntlich mit der Würde der erhabenen, über den profanen Zwistigkeiten des Alltags schwebenden "reinen" Wissenschaft unvereinbar ist. Aber auch unter den Marxisten geniesst dieser Rufer in der Wüste keinen guten Ruf. Man wirft ihm idealistische Abweichungen von der Lehre Marx' und Engels' vor, stellt seine sexualpolitischen Forderungen in Gegensatz zu der Generallinie der Komintern und lehnt seine Kritik an der ablehnenden Haltung hoher Parteiinstanzen als defaitistische Nörgelei ab.

Wenn die Reich'sche Psychologie als idealistisch und unmarxistisch empfunden wird, so ist das, wie wir gesehen haben, ein Irrtum, der sich aus einer bei den meisten Marxisten leicht erklärbaren mangelhaften Kenntnis der Psychoanalyse erklärt. Begründeter ist eine gewisse Skepsis gegenüber manchen von Reichs praktischen Vorschlägen. Eine breite sexualpolitische Aktion wäre wohl in denjenigen Ländern möglich, wo die revolutionären Parteien ein legales Dasein führen, während sie in den faschistischen Ländern leicht zu einer fatalen Zersplitterung der revolutionären Kräfte führen könnte. Doch auch dort, wo es Möglichkeiten für eine solche Aktion gibt, wäre eine planmässige Ausbildung von analytisch geschulten Aufklärern eine kaum zu erfüllende, aber unbedingt notwendige Voraussetzung.

Reich versteht es nicht, seine Lehren dem mit den Erfahrungen der Analyse nicht vertrauten Marxisten mundgerecht zu machen; es ist ihm auch nicht gelungen, seine Kritik an der bisherigen massenpsychologischen Praxis der Komintern in einer solchen Form zu äussern, dass sie für die verantwortlichen Kreise akzeptabel wurde. Wenn Reich sich darüber beklagt, dass man ihm nicht die nötige

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Verständnisbereitschaft entgegenbringt, so vergisst er, dass auch die höchsten Parteiinstanzen noch bürgerliche Ideologieelemente haben, die sie genau wie die meisten bürgerlichen Politiker daran hindern, völlig unbefangen über sexuelle Dinge zu urteilen. Als Marxist müsste er sich sagen, dass diese gewisse Voreingenommenheit gegenüber Gegenständen der Sexualwissenschaften bei manchen Marxisten ein durch ihr gesellschaftliches Sein bedingter Reflex der bürgerlichen Sexualmoral ist, und als psychoanalytisch geschulter Psychologe müsste er im Stande sein, Mittel und Wege zu finden, diese durch den bisherigen Stand der Wissenschaft erklärliche Denkhemmung zu überwinden.

Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Reich sich grosse Verdienste um die marxistische Wissenschaft erworben hat. Sein Einsatz um eine Begründung einer dialektisch-materialistischen Psychologie und vor allem seine Enthüllung der reaktionären gesellschaftlichen Funktion der Sexualunterdrückung sind von bleibendem Wert. Aber auch die revolutionäre Praxis, besonders die Massenpropaganda und die Sexualpolitik, wird in der Zukunft schwerlich ohne Reich und ohne genaues Studium der Charakteranalyse auskommen. Reich und seine Lehren aus diesem oder jenem Grunde in Bausch und Bogen zu verwerfen, wäre mindestens ebenso verkehrt wie ihn kritik- und vorbehaltlos nachzubeten. Es ist notwendig, von marxistischer Seite aus systematisch an das Studium von Reich und Freud heranzugehen und in jedem einzelnen Falle zu unterscheiden, wo fruchtbare dialektisch-materialistische Naturwissenschaft vorliegt und wo bürgerlich-idealistische Überwucherungen.

Wir müssen wissenschaftlich-kritisch zu Werke gehen und uns vor Verallgemeinerungen hüten, die uns auf Abwegen in theologisch-metaphysisches Sumpfgelände führen. Denn was wir wollen, ist ja Weiterentwicklung der marxistischen Wissenschaft und nicht Rückentwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Utopie.


ZPPS, Band 3 (1936), Heft 3/4 (10/11), S. 150-156

Unser Glückwunsch an Freud

Wenn diese Zeilen die Öffentlichkeit erreichen, wird der Lärm der Feiern verklungen sein, und die Gratulanten werden auf den neunzigsten und -- wir hoffen es mit ihnen -- den hundertsten Geburtstag Sigmund Freuds warten, um diesem Manne neuerdings ihre Ehrerbietung zu bekunden. Es werden wie diesmal viele Artikel erscheinen, die die Daten der "Geschichte der Psychoanalyse" aus der

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«Selbstdarstellung» Freuds sammeln und der breiten Öffentlichkeit vorlegen werden. Andere werden wie diesmal die Hauptgedanken der Freud'schen Lehre darlegen und mit mehr oder weniger Überzeugung von ihrem revolutionären Charakter sprechen. Dies ist erfreulich und notwendig.

Uns mussten diese Feiern Anlass zu sehr ernsthaften Überlegungen werden. So weit die Äusserungen der Welt zugänglich waren, zeigte sich mit unzweifelhafter Gewissheit, dass an keiner Stelle an das Wesentliche des Problems "Freud und seine Umwelt" gerührt wurde. Es ist noch nicht an der Zeit, in ausführlicher Weise darzustellen, worin sich die Schicksalsgemeinschaft der Psychoanalyse von 1895 bis 1920 und der so jungen Sexualökonomie und der noch jüngeren Sexpol-Bewegung ausdrückt. Doch der Anlass des achtzigsten Geburtstags Sigmund Freuds darf nicht vorübergehen, ohne korrekt ausgedeutet zu werden. Es ist unerlässlich, hervorzuheben, was eine ganze Welt verschwieg.

Am sechsten Mai 1926 feierten die Mitglieder des Wiener psychoanalytischen Kreises den 70. Geburtstag Freuds. Es gab viele Beteuerungen samt dazugehörigen Gratulanten, Blumen und Geschenken. Sigmund Freud hielt eine kurze Ansprache an die anwesenden Schüler, die unvergesslich bleiben wird; niemand wagte, sie der Welt mitzuteilen. Freud warnte. Man dürfte sich nicht täuschen lassen. Die Lobpreisungen bewiesen garnichts. Die Welt hätte die Lehre nicht akzeptiert. Sie stünde nach wie vor feindselig dazu. Einige Jahre vorher hatte Freud das Gleiche ausgedrückt, als er schrieb, die Welt akzeptierte hier und dort die Psychoanalyse, um sie zu zerstören.

Wir stellen uns voll und ganz auf den Standpunkt Freuds vom 6. Mai 1926. Eine Umschau in der Welt und ihren wichtigsten Institutionen belehrt uns, dass es heute schlimmer aussieht als vor zehn Jahren. Wir dürfen keinen Augenblick versäumen, auf der Hut zu sein, denn das Schicksal, das ursprünglich der Psychoanalyse zuteil wurde, bedroht unsere Arbeit in hundertfach verschärften Ausmassen. Sich über dieses Schicksal ins Klare zu kommen, ist die Voraussetzung nicht nur der Bewahrung der historischen Gemeinschaft mit der Lehre Freuds, sondern auch der eigenen korrekten Arbeit. Wir erleben momentan eine Periode tödlichen Schweigens der akademischen und massgebenden Welt. Doch es melden sich bereits Anzeichen einer Methode wohlwollender Vernichtung. Die Sexualökonomie wird in eine Reihe mit den Ablegern Jungs, Adlers, Stekels gestellt. Dummheit und Kritiklosigkeit sind grenzenlos, ebenso wie Bösartigkeit. Wer die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung kennt, vermag auf den ersten Blick den Unterschied zu sehen. Alle bisherigen Abzweigungen von der Lehre Freuds kennzeichnen sich durch Verneinung der Sexualität. Für Jung wurde die Libido ein verwaschener, nichtssagender AllseeIenbegriff, die beste Vorbereitung für die spätere GleichschaItung im dritten Reich. Adler ersetzte die Sexualität durch den

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Willen zur Macht, Rank verleugnete die Existenz der kindlichen Sexualität. Die Sexualökonomie dagegen knüpfte gerade an denjenigen Kernelementen der Freud'schen Lehre an, die ursprünglich die Wut der Welt entfacht hatten. Sie entwickelte die Orgasmustheorie, die sie vergebens dem psychoanalytischen Lehrgebäude als organisch dazugehörig einzuverleiben versuchte. Sie präzisierte die Lehre von den prägenitalen Sexualtrieben des Kindes, legte feste Fundamente für eine Charakterlehre, die den Sexualprozess als deren Kernstück voraussetzt. Die charakteranalytische Technik erfordert die volle Anerkennung der Gesetze der sexuellen Ökonomie. Man könnte noch reichlich mehr anfügen, um zu zeigen, weshalb die Lehre der Sexualökonomie heute das alte Schicksal der Psychoanalyse zu spüren bekommt. Und sie muss, wenn sie sich ernst nehmen will, alles tun, um die jüngsten Schicksale der Psychoanalyse, so laut die Welt auch Begeisterung vortäuschen mag, zu vermeiden.

Es gibt heute keine offizielle Institution der Welt, sei es auf dem Gebiete der Pädagogik, der Psychiatrie etc., die sich Freuds umstürzende Anschauungen ernsthaft zu eigen gemacht hätte. An welcher Irrenanstalt wird in systematischer Weise die Verursachung von Geisteskrankheiten durch die Schädigung des frühkindlichen Sexuallebens durchforscht ? An welcher Stelle akademischer Natur wird der reiche Schatz analytischen Wissens, analytischer Forschung gepflegt, in seiner unendlichen Überlegenheit anerkannt ? An welcher Stelle hat sich die umstürzende Erkenntnis Freuds konkret ausgewirkt ? Wer würde es zuwegebringen, auf der einen Seite seiner Überzeugung von der Grösse des Freud'schen Werkes laut Ausdruck zu geben und sich dann mit der tröstenden Auskunft zu begnügen, dass ja Analytiker an Universitäten berufen sind und dort lehren ? Niemand würde sich ein derartiges Armutszeugnis ausstellen. Wer glaubt, dass in einem Amerika von heute korrekte Sexualtheorie gelehrt werden darf ?

Wie sieht es in der psychoanalytischen Bewegung selbst aus ? Die englische Schule ist ein sektiererischer, weltabgewandter, jedes Kontaktes mit dem lebendigen Leben barer Kreis. Die Berliner deutsche Vereinigung versuchte die Gleichschaltung und ging kaputt. Sie steht vor der Auflösung. Die ungarische Gruppe besteht nach den Berichten fast nur mehr aus Hausanalytikern reicher Leute, die weder eine wissenschaftliche Entwicklung aufweisen, noch eine ernste Perspektive haben. Die Wiener Vereinigung steht unter dem Drucke der politischen Reaktion und wird von einigen wissenschaftlich nicht ernstzunehmenden Todestriebtheoretikern beherrscht. Die französische Gruppe sieht trostlos aus. Hat die sozialistische Bewegung die Psychoanalyse akzeptiert ? Hier und dort in Worten, weil Freud von der politischen Reaktion gegen seinen Willen notabene ins Lager des Kulturbolschewismus versetzt wurde. In der Sowjetunion ist die Psychoanalyse seit Jahren ohne jede Entwicklung. Es gab so viel

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Gerede über die Bedeutung Freuds für die Arbeiterbewegung. An welcher Stelle, fragen wir, ist diese Bedeutung sozialistische Praxis geworden ? Nirgends ! Sozialisten empfehlen die Literatur reaktionärer Analytiker der Arbeiterschaft als Leitfaden "sozialistischer Psychologie", wie etwa einen Artikel des Reaktionärs R&oacote;heim in einer ungarischen sozialistischen Zeitschrift. Revolutionäre Sozialisten publizieren Artikel zu Freuds Geburtstag, verraten aber komplette Unwissenheit über den heissen Kampf, der seit zehn Jahren innerhalb der analytischen Bewegung um die Problematik: Arbeiterbewegung und Psychologie geführt wurde.

Im Lehrgebäude Freuds gibt es sehr verschiedenartige Feststellungen. Neben der Lehre von der frühkindlichen Sexualität die vom "Primärvorgang" im Unbewussten; neben der Lehre von der Triebverdrängung die vom Todestrieb; neben der Aussage über die Determiniertheit des psychischen Geschehens die über die "kulturelle Triebverdrängung" etc. etc. Die Welt schreit nach Klarheit. Es gibt Aussagen, die wir nie mehr entbehren können, andere, die nebensächlich sind, schliesslich solche, die verwirren. Man möchte meinen, dass eine wissenschaftliche Vereinigung, die die weltgeschichtliche Bedeutung der Psychoanalyse so sehr beteuert, sich der schlagkräftigen, zukunftssichernden Elemente der Lehre bemächtigt; das Gegenteil ist der Fall. "Weg von der Hauptsache, wir lieben die Nebensache" ist die unausgesprochene Parole. Sie wird am getreuesten von einigen sich "Sozialisten" nennenden Psychoanalytikern befolgt; sie meiden die "Hauptsache" wie die Pest, denn dann stünden sie unweigerlich und augenblicklich mitten in dem Kampf, den wir führen und den sie totschweigen. Sie tun alles, um klargestellte Fronten im Kulturkampf zu verwischen. Sie sind gefährlich wie die Prediger der Klassenversöhnung. Sie usurpieren Lehrsätze und sabotieren deren Sinn. Vor ihnen muss gewarnt werden !

Der Niedergang der psychoanalytischen Bewegung, ihre Anpassung in die herrschenden Seinsverhältnisse und demzufolge die Sterilität ihrer heutigen Fragestellungen sollen nicht Anlass persönlichen Vorwurfs sein. Wir haben es gelernt, die Abhängigkeit der Wissenschaft und ihrer Entwicklung von den politischen Prozessen zu beachten. Wir bekannten uns daher zur politisch bewussten Wissenschaft. Wir dürfen sagen, dass wir die umwälzenden Erkenntnisse der Lehre Freuds in sichere Obhut genommen haben. Das verpflichtet, sich Rechenschaft über die aktuelle Situation und die Möglichkeiten zu geben, die den weiteren Verlauf unserer Arbeit bestimmen werden.

Die allgemeine weltpolitische Situation, in der wir mit einer allen heutigen Institutionen und offiziellen Anschauungen widersprechenden Sexualitätstheorie arbeiten, verspricht Schlimmes. Diese Welt kann die Früchte unserer Arbeit weder anerkennen noch ausnützen. Haben doch gerade wir nachweisen können, welchen Nutzen die politische Reaktion aus dem irrationalen Fühlen und Denken der Masse,

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ihrer Glückssehnsucht und gleichzeitigen Sexualscheu zieht. Die verschiedenen sozialistischen Parteien sind teils in altem ökonomistischem Denken befangen, teils derart mit den ungeheuren Problemen der Jetztzeit beschäftigt, dass sie gar nicht die Möglichkeit haben, uns anders als zunächst noch staunend oder abweisend gegenüberzutreten. Dennoch ist manches in diesen schweren Jahren erreicht worden. Doch das Erreichte ist weit entfernt von dem, was zur praktischen Durchführung unserer Aufgaben unerlässlich ist. Neben diesen gesellschaftlichen Schwierigkeiten verdient wohl die Behinderung der Arbeit durch unsere eigene Struktur die allergrösste Aufmerksamkeit.

Unsere psychologische Kritik Freuds setzte mit der klinischen Feststellung ein, dass das unbewusste Inferno des Menschen nichts Absolutes, Ewiges, Unvergängliches ist; dass eine bestimmte gesellschaftliche Situation und Entwicklung die heutige unbewusste Struktur der Menschen erzeugt hat und sich durch sie erhält. Wir erkannten die Berechtigung der Angst vor dem "sexuellen Chaos", doch wir begrenzten sie auf historische Perioden und überzeugten uns durch unsere therapeutische Arbeit, dass es eine andere Art der Regelung menschlichen Zusammenseins geben kann. Wir haben uns nie der Illusion hingegeben, dass das Böse im Menschen von heute auf morgen zu verändern wäre. Wir gaben uns Rechenschaft über die ungeheuren Schwierigkeiten, die eine politische Psychologie zu gewärtigen hat, wenn sie sich vornimmt, die Umwälzung der menschlichen Struktur durchzusetzen. Wir selbst, die wir uns derartige Ziele gesetzt haben, sind nur allzusehr den Schwächen unserer Struktur unterworfen. Wir haben es nicht leicht, mit ihr fertig zu werden, um besser gerüstet zu sein, den Wirkungen des Irrationalen unserer Mitmenschen korrekt zu begegnen.

Die Psychoanalyse ist eine Wissenschaft, die einmal an den Quellen des Lebens arbeitete. Dass sie sich ihrer politischen Natur nicht bewusst wurde, trug ganz wesentlich zur Katastrophe bei. Daraus zogen wir den korrekten Schluss: Eine Wissenschaft, die das lebendige Leben selbst zum Gegenstand ihrer Forschung hat, muss in einer reaktionären Umwelt sich entweder unterwerfen und sich selbst untreu werden, oder aber sie muss sich organisieren, d.h. sich die Organe schaffen, die sie in der Zukunft sichern.

Die marxistische Wirtschaftslehre organisierte sich politisch. Auf dem Gebiete der politischen Ökonomie weckt die politische Organisierung der Wissenschaft kein Erstaunen. Anders auf anderen Gebieten. Hier hat die Illusion von der unpolitischen Wissenschaft der Klarheit viel geschadet. Die Wissenschaft vom Geschlechtsleben der Menschen ist an sich politisch, ob sie will oder nicht, daher muss sie die Konsequenz ziehen und sich zu ihrer politischen Natur bekennen. Aus dem politischen Bekenntnis folgt die Notwendigkeit der Organisation. Der Schatz an Erkenntnissen wird nicht mehr irgendwelchen Stadien gesellschaftlicher Entwicklung ausgesetzt, sondern eingereiht in die-

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jenige politische Bewegung, die sich die Durchführung der wissenschaftlichen, rationalen Lenkung der Gesellschaft zum Ziele setzte. Man mag das Wuchern des irrationalen Denkens innerhalb der sozialistischen Bewegung mit Sorge verfolgen; es steht ausser Frage, dass die naturwissenschaftliche Psychologie und die korrekte Sexualwissenschaft ihren Platz einzig in dieser Bewegung haben. Daran wird niemand zweifeln, der die Entwicklung des Mystizismus in Deutschland und seinen Einfluss auf die naturwissenschaftliche Forschung verfolgt hat. Wir können heute nicht wissen, in welchen Formen sich die Organisierung unserer wissenschaftlichen Arbeit in der breiten Masse der Bevölkerung vollziehen wird. Doch an der Notwendigkeit, sich eine Massenbasis zu schaffen, ist nicht zu zweifeln. Das wird nicht nur ein Schutz gegen reaktionäre Einflüsse von aussen her sein, sondern auch uns selbst vor Kompromissen mit der feindlichen Umwelt bewahren. Wenn man ohne sozialen und politischen Einfluss dasteht, dann erweist sich die Umwelt als die stärkere Macht. Haben jedoch die Menschen, auf die es ankommt, den Wert einer wissenschaftlichen Arbeit für ihr Sein und ihre Zukunft erfasst, dann erleichtern sie den Kampf und verringern den Zwang der feindlichen Welt. Niemand kann seiner selbst sicher sein, natürlich auch wir nicht. Wenn wir in einer Zeit, die günstig war, etwa die Notwendigkeit des befriedigenden Liebeslebens in der Pubertät vertreten haben, so könnte eine andere Zeit es zuwegebringen, uns von dieser Behauptung zu trennen und sie vielleicht sogar in das Gegenteil zu verkehren. Wenn aber eine genügend grosse Masse von Jugendlichen unsere Lehre über die Pubertät in sich aufgenommen hat und für sie einzutreten bereit ist, dann bleibt uns ein Rückzug erspart. Unsere wissenschaftliche Arbeit wird ihrer Bestimmung zugeführt. Dieses Beispiel genüge, um zu illustrieren, was gemeint ist.

Die soziale Verankerung unserer wissenschaftlichen Arbeit verspricht noch einen anderen Gewinn. Freud ging von der Physiologie aus und entdeckte die Natur des Psychischen. Unsere Kritik an der Psychoanalyse setzte an den gesellschaftlichen Auffassungen Freuds an. Indem wir die Beziehungen des Gesellschaftlichen zum Psychischen konsequent aufdeckten und verfolgten, ergaben sich reichliche Früchte auch für die klinische Arbeit. Es entstand eine grundlegend neue Art, die Gesetze des geschlechtlichen Lebens zu studieren. Die Orgasmuslehre führte mit innerer Logik wieder in die Physiologie und Biologie. Wir können noch nicht absehen, welcher Natur die endgültigen Resultate dieser Forschung sein werden. Die Entwicklung ist in vollem Flusse, die Ergebnisse sind ungewohnt, die biophysiologische Unterbauung der Psychologie scheint zu gelingen. Wir dürfen schon heute sagen, dass wir eine der wichtigsten Erwartungen Freuds sich erfüllen sehen: Die Lehre vom Seelenleben wird voraussichtlich auf ein festes biologisches Fundament gestellt werden können. Allerdings in einer anderen Weise, als man es sich gewöhnlich vorgestellt hatte.

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Derart tragen wir eine doppelte Verpflichtung. Der Bewahrung und der praktischen Durchsetzung der revolutionären Errungenschaften Freuds fügt sich die Sicherung unserer eigenen sexualökonomischen Forschung an. Wenn wir es zuwegebringen werden, der Masse der arbeitenden, darbenden, glücksberaubten Menschen verständlich zu machen, woran wir arbeiten und weshalb wir so schwer zu kämpfen haben, dann -- daran ist nicht zu zweifeln -- wird sie auch einmal für uns eintreten, als gesellschaftliche Macht unsere Arbeit vor äusseren und inneren Gefahren schützen und selbst die Früchte der Naturwissenschaft vom lebendigen Leben einheimsen.

Mögen die Auseinandersetzungen zwischen der Psychoanalyse und der Sexualökonomie noch so schwer, ja kränkend gewesen sein. Es wird nie den Grund bilden können, zu vergessen, was wir der Lebensarbeit Freuds verdanken. Denn niemand weiss besser als wir, niemand erfährt schmerzlicher als wir, weshalb die Welt Freud seinerzeit verdammte und heute der kämpferischen Wirklichkeit entrückt.

Wilhelm Reich


ZPPS, Band 3 (1936), Heft 3/4 (10/11), S. 164-165

Ein "sozialistischer" Arzt [Fenichel] über Freud

Meistens schweigen sich die sozialistischen Wissenschaftler gründlich über Freud aus; man muss mit grösstem Interesse studieren, was geschrieben wird, wenn endlich mal von sozialistischer Seite grundsätzlich zu Freud Stellung genommen wird; anlässlich des achtzigsten Geburtstags Freuds hat Dr. Otto Fenichel, der die sogenannte marxistische Psychoanalyse repräsentieren soll, im «Internationalen Ärztlichen Bulletin» einen Glückwunschartikel verfasst. Er charakterisiert seinen Aufsatz als «Einige Bemerkungen über die Bedeutung der Psychoanalyse für uns sozialistische Ärzte». Diese Bemerkungen sind wirklich sehr interessant -- nicht so sehr wegen der Dinge, die drin stehen, sondern vielmehr deswegen, was nicht drin steht.

Es war immer eine Tradition der ernsten marxistischen Wissenschaft, dass man nie Problemen und Konflikten von sachlicher Bedeutung aus konventionellen oder taktischen Gründen entwich, sondern dass man selbst die schwerste Problematik ohne Rücksicht angegriffen hat. Insofern Freud die marxistische Wissenschaft beeinflusst hat, trotz seiner bürgerlichen Weltanschauung -- und das hat er -- war es gerade kraft seines unerschrockenen und vorurteilslosen Mutes, auf die peinlichen Dinge loszugehen und Klarheit zu schaffen. In dieser Hinsicht gehört Dr. Fenichel zu einem Flügel der sogenannten marxistischen Wissenschaft, der mit dieser kämpferischen Tradition bricht, und sein Artikel über Freud ist ein schönes Beispiel, wie dieser akademische Sozialismus aussieht. Genau wie jede bürgerliche Zeitschrift es tun könnte, stellt er Freuds Bedeutung für die naturwissenschaftliche Psychologie fest, ohne ernsthaft auf die revolutionären Momente seiner Entdeckungen einzugehen, erwähnt kühn seine antireligiöse Einstellung, ohne seine moralischen Widersprüche zu erwähnen und stellt ihn in Beziehung zum Virchow'schen Rationalismus, -- kurz, alles ist so schön und akademisch, dass wir uns alle recht freuen können. Getreu dem Prinzip, sich weder von der Scylla noch der Charybdis zerschmettern zu lassen, weist er nach, wie Freud weder dem mechanischen Materialismus noch dem abstrakten Idealismus (das Religiös-Magische ) verfallen ist. Er schliesst -- damit wir doch nicht vergessen, dass wir Marxisten sind -- sehr pompös mit einem Zitat von Engels -- das Beste in Fenichels ganzem Artikel.

Die Stellung Freuds zum Marxismus ? Taktvolles Schweigen. Die Auseinandersetzung innerhalb und ausserhalb der psychoanalytischen Bewegung über die Beziehung zur Arbeiterbewegung ? Der Taktiker schweigt. Die auf den ursprünglichen psychoanalytischen Auffassungen gebauten Untersuchungen über Massenneurosen ? Hierüber findet sich eine armselige Parenthese, die die Unentbehrlichkeit der Freud'schen Neurosenlehre für diese Arbeit wohl bemerkt, ohne aber die sexualökonomische Ausarbeitung auf marxistischer Grundlage überhaupt nur zu erwähnen (vielleicht würde Fenichel damit an einen wunden Punkt in seiner Vergangenheit erinnert werden). Und wenn Fenichel behauptet, dass die Tat-

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sachen der kindlichen Sexualität "heute schon selbstverständlich" geworden sind, dann ist das einfach falsch. Hätte er aber darüber nachgedacht, wäre er auf den bösen Gedanken gekommen, dass es eine marxistische Bewegung Sexpol gibt, die den Kampf um die praktische Anerkennung der infantilen Sexualität führt. Man kann über Freuds Beziehung zum Sozialismus nicht sprechen, ohne auf die sexualökonomische Schule einzugehen, die sich am konsequentesten bemüht hat, die marxistische Durchführung der Freud'schen Theorien zu leisten -- diese Schweigsamkeit ist charakteristisch für seine Taktik. Denn eine Erwähnung würde so oder so zu einer klaren Stellungnahme führen müssen.

Wenn man als Sozialist über Freud aufklären will, nützt es nicht, blass und kritiklos zu schreiben -- auch nicht in einem Geburtstagsartikel. Besonders arg ist es, wenn es um Freuds Person geht. Gerade wir haben ein Recht, darauf zu verweisen, dass Freud vor 40 Jahren den Kampf gegen eine ganze Welt mutig und unerschrocken geführt hat, ohne Konzessionen, ohne Angst vor der Konsequenz, wenn es die Arbeit erforderte. Die Fragen, um die es hier geht, sind so wichtig und bedeutungsvoll, auch für die Zukunft der sozialistischen Arbeiterbewegung, dass eine kritiklose Huldigung von Freud ohne die notwendigen Vorbehalte nicht nur eine üble "Taktik" ist, sondern direkt schädlich und verwirrend. Besonders krass und unsozialistisch wirkt es, wenn diese Taktik von dem "Sozialisten" Dr. Fenichel geübt wird -- denn er kann nicht behaupten, dass er schweigt, weil er die Problematik nicht gekannt hat.

J.N.


ZPPS, Band 3 (1936), Heft 3/4 (10/11), S. 169-173

Antwort an Wilhelm Reich
von Jef Last (Holland)

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Genosse Reich nimmt in seinem Artikel «Der Kampf um die neue Moral» in Heft 3(7) den Kampf auf mit der sogenannten "Reaktion", und zwar an erster Stelle mit der Reaktion auf sexuellem Gebiet im eigenen Lager. Ein unerhört wichtiger Kampf, der aber nur dann zum Erfolg führen kann, wenn die Argumente dieser reaktionären Richtung vollkommen richtig dargestellt werden.

Versteht aber Genosse Reich unter dieser "Reaktion" nicht nur gewisse "Fachleute" auf dem sexuellen Gebiet, sondern auch alle die, die ebenfalls in der Kulturfront stehen, dann bin ich der Meinung, dass Genosse Reich sich in seinem Artikel nur mit nebensächlichen Fragen auseinandersetzt, während er den eigentlichen Kernpunkt jener Reaktion gar nicht erkannt hat.

"Die Reaktion behauptet, wenn man das Sexualleben unbedingt bejahe, käme das Chaos."

Das behauptet die Reaktion tatsächlich, aber Genosse Reich liebt Konkretisierungen, und also konkretisiert er auch, wie sich die Reaktion dieses Chaos vorstellt. Es ist die zügellose Herrschaft der unnatürlichen, asozialen und gemeingefährlichen Sexualentartungen, die als Folge einer Jahrhunderte existierenden patriarchalischen Moral und kapitalistischen Ordnung entstanden sind.

Ohne Zweifel sind diese Argumente von bestimmten Gegnern der Sexpol hier und da aufgestellt worden, aber es wäre vollkommen falsch, darin die eigentlichen Hauptargumente der Reaktion zu erblicken. Zur Erläuterung möchte ich auf das ausserordentlich interessante Werk des englischen Schriftstellers Aldous Huxley "Schöne neue Welt" hinweisen. Huxley führt in diesem Roman die Gedankengänge der Sexpol eigentlich ad absurdum. Er zeichnet eine phantastische Zukunftsgesellschaft, in der alle Bindungen zwischen Fortpflanzung und Sexualität gelöst sind. Die Kinder werden in Staatslaboratorien ausgebrütet, der Sexualakt als Lust dagegen ist nicht nur stärkstens bejaht, sondern der Staat tut alles, damit der sexuelle Trieb fortwährend hemmungslos und restlos befriedigt werden kann. Auch in Huxleys Roman fordert man bereits die dreijährigen Kinder auf,

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mit dem "Lulu" zu spielen; und bestraft werden nur diejenigen, die an sexuellen Spielen kein Vergnügen haben. Das Ergebnis ist eine scheinbar vollkommen glückliche Welt, aus der (bei genügender materieller Versorgung) jede Unzufriedenheit verschwunden ist und auch jede sexuelle Entartung.

Aber jetzt kommt die Anklage Huxleys.

In dieser vollkommen glücklichen Welt ist auch jede Spannung, jedes künstlerische Schaffen, jede geistige Hingabe und jede wirkliche Wissenschaft verschwunden.

Und das ist das eigentliche Argument des Gegners: Eine hemmungslose Bejahung des Trieblebens bedeute den Untergang aller Kultur, da diese nur auf einer bewussten Eindämmung und Beherrschung der Triebkräfte aufgebaut ist.

Dazu ist einiges zu sagen.

Ohne Zweifel sind trinken und Wasserlassen ebenfalls natürliche Bedürfnisse. Jeder, der einmal mit einer Gruppe Kinder einen Ausflug gemacht hat, weiss, wie bei jedem Bauernhof und bei jedem Brunnen erst ein kleinerer Teil der Kinder und dann gewöhnlich alle das Bedürfnis verspüren, zu trinken. Man kann das gut finden und auf diese Weise in der Gruppe jede Ordnung zerstören -- auch jede Selbstdisziplin.

Man kann auch ganz energisch sagen: die ersten zwei Stunden wird nicht getrunken! Schaden werden die Kinder davon nicht erleiden, sie werden sogar gar kein Bedürfnis haben zu trinken, und der Ausflug wirkt sich gleichzeitig erzieherisch aus.

Dumm und gesundheitsschädlich wäre es, einem Kind zu verbieten, sein Wasser zu lassen, oder diesen Vorgang als etwas hinzustellen, dessen es sich zu schämen hat. Andererseits fordert man aber ein Kind nicht auf, an jeder Strassenecke zu schiffen, sobald es auch nur das geringste Bedürfnis dazu verspürt. Ist es wirklich, innerhalb bestimmter Grenzen, falsch zu sagen: damit warte, bis du zu Hause bist?

Dieses Beispiel übertragen heisst die Frage richtig stellen:

Wie weit geht die Bejahung des Sexuallebens? Bedeutet sie fortwährende sofortige Befriedigung, oder schliesst sie nicht gewisse Beherrschung, eine gewisse Einschränkung ein, also doch wieder eine Moral?

Jedoch wirkliche Fragestellung geht noch tiefer! Warum bejahen wir die sexuelle Lust? Weil sie natürlich ist? Ist das "Natürliche" schon an und für sich das Gute? Ganz gewiss ist die Natur amoralisch. Muss nun der Mensch sich der Natur, oder die Natur sich dem Menschen unterwerfen? Ist der Mensch nicht gerade Herrschaft über die Natur und ihre blinden Kräfte? Ist es nicht letzten Endes Zweck und Sinn des Marxismus, dass der Mensch über die Natur herrschen soll? Ein bekannter englischer Sexualforscher behauptete in dieser Zeitschrift, der Mensch sei sexualbiologisch polymorph-pervers. Öffnen wir nicht jeder Willkür die Tür, wenn wir jede sexuelle Eigenart, die uns nicht passt, einfach "unnatürlich" nennen? Kommen Sadismus und Masochismus nur unter dem Kapitalismus vor, oder auch bei Völkern, die noch nicht einmal die patriarchalische Gesellschaftsform kennen? Existiert nicht vielleicht in jedem "natürlichen" Menschen, neben dem heterosexuellen, auch ein homosexueller Trieb, wie er ja bei allen Völkern -- unter sehr verschiedenen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen -- zu finden ist?

Wahrscheinlich antwortet Genosse Reich:
Wir bejahen die sexuelle Lust, nicht weil sie natürlich ist, sondern weil sie Glück bringt. Es ist aber zwischen Wollust und Glück ein sehr grosser Unterschied. Ohne Zweifel bereitet das Spielen mit dem Lulu der dreijährigen Ruth Wollust. Bleibt sie aber auf dieser physischen Freude stehen und lernt niemals den Eros kennen, lernt niemals die psychischen Freuden der Jagd danach, der Sehnsucht danach, der Werbung kennen, wird sie dann nicht unglücklich werden?

Von der Mathematik sind nur wenige glücklich geworden, sagt Genosse Reich. Ist aber damit die Mathematik schon verurteilt? Es ist eine Tatsache, dass die tiefste Kunst aus einer offenen Wunde fliesst. Welcher Künstler aber wird seiner Kunst fluchen, weil sie ihn nicht glücklich gemacht hat? Da sind wir wieder bei der alten Frage der Reaktion:

Kann die Kultur, kann alles, was höher als das Glück steht: Kunst, Recht, Wissenschaft, Wahrheit, bei bedingungsloser Bejahung der Sexualität gedeihen?

Ich glaube, Genosse Reich, dass nur sehr wenige Holländer, die meine Schrif-

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ten kennen, mich zur "Reaktion" auf sexuellem Gebiet rechnen werden. Ich weiss, welch unerhörtes Leid eine sinnlos gewordene, veraltete Sexualmoral für die Massen bedeutet, wie reaktionär sie sich politisch auswirkt; ich weiss auch, dass man die ganze Jugend verlieren würde, wenn man versuchen wollte, moralischer als die Bourgeoisie zu werden. Ich weise jede Moral zurück, die nur auf "Staats"interesse beruht, die jede Lebensfreude verneint, die nue abstrakte Verbote hat für das, was uns glücklich machen kann und keinem schadet. Aber während ich das Recht auf Essen anerkenne und fordere, leugne ich das Recht auf Fressen und habe keine Sympathie für die Papuas, die, haben sie ein Stück geschossen, so lange fressen, bis sie sich nicht mehr fortbewegen können und zwei Tage wie tot daliegen. Ich bin ein Feind jeder Überspannung, aber Spannungen möchte ich, auch im Sexuellen, nicht entbehren. Solche Spannungen entstehen aber nur aus dem Willen, mit dem der Mensch seine, an und für sich blinden (natürlichen) Triebe einer gewissen Ordnung unterwirft. Also doch wieder eine gewisse Moral?

Ja ! Und zwar statt der bürgerlich-reaktionären eine proletarisch-revolutionäre.

Was denken Sie zu folgenden Grundsätzen:
Erlaubt ist, was weder dem Partner, noch deiner Arbeit und deinem Kampf für die sozialistische Gesellschaft und ihrer Kultur schadet!
Und dazu vielleicht noch ein zweiter Grundsatz, der, gerade weil er "romantisch" ist, von der Jugend vielleicht besser verstanden wird als von den Alten:
Keine Sexualität ohne Liebe!

Wissenschaftlich ausgedrückt: wir bejahen (abgesehen natürlich von Notfällen, die aus dem Kapitalismus herrühren), die Befriedigung der sexuellen Lust nur dann, wenn sie für beide Partner nicht nur physisch, sondern auch psychisch ist. Denn insofern, Genosse Reich, bin ich "reaktionär", dass ich den Geschlechtsakt nicht nur als eine angenehme Drüsenentleerung betrachte, sondern, fast symbolisch, als die Vereinigung zweier Menschen, als die höchste Steigerung der menschlichen Kameradschaft, Freundschaft und Liebe.


Antwort an Jef Last

Huxley schildert in seinem Roman "Schöne neue Welt" wirklich eine "phantastische Zukunftsgesellschaft".

Die Sexpol aber ist keine auf Phantasterei aufgebaute Spekulation, sondern eine auf wissenschaftlicher Erkenntnis basierende Politik, welche sich nicht damit begnügen kann, Schilderungen und Dichtungen einer Zukunftsgesellschaft zu geben, sondern deren ganz konkretes Ziel es ist, die realen Schwierigkeiten der Gegenwart zu erkennen, um über ihre Zerstörung hin den ersten Schritt zur Umstrukturierung der Gesellschaft zu wagen. So kann die Sexpol sich nicht auf spekulative Gedankengänge einlassen, sondern muss -- auf wissenschaftlicher Basis fussend -- den Weg gehen, der langsam von Schwierigkeit zu Schwierigkeit, von Problem zu Problem vordringt. -- Uns ist es noch nicht möglich, ein Bild von einer "Zukunftsgesellschaft" zu entwerfen. Uns interessiert die Not unserer gegenwärtigen Gesellschaft und die Aufgabe, die diese Not uns stellt, ist so gross, dass wir keine Zeit haben, von Idealen zu träumen. Dass aber Huxleys Vorstellung von der "Zukunftsgesellschaft" unwissenschaftlich und illusorisch ist; dass eine Gesellschaft, in der Sexualität und Fortpflanzung von ihrer durch die patriarchalische Moral geschlossenen Bindung gelöst, ein völlig anderes Bild zeigen muss als das von Huxley geschilderte, den Beweis haben die Forschungsergebnisse der Charakteranalyse bereits gebracht.

Die wissenschaftliche Feststellung, dass Sexualität sich nicht in einem langsamen Prozess, der in der Pubertät mit der Erreichung der Fortpflanzungsfähigkeit beendet ist, entwickelt, sondern dass die Sexualität ein biologischer Faktor ist, mit dem wir von der Geburt des Menschen an zu rechnen haben, dass sie als spezifischer Lusttrieb mit dem Menschen geboren wird und wie jeder andere Trieb nach Bedürfnisbefriedigung verlangt -- [dies] zwingt uns, die Frage nicht wie Huxley im Detail zu sehen, sondern in ihrer Ganzheit zu behandeln.

Die Sexualität ist, wie die Forschung ergeben hat, ein natürlicher, biologischer Lusttrieb, der von Geburt an im Menschen ist. Der erste Akt des Neugeborenen, noch bevor es die Mutterbrust bekommt und Nahrung zu sich nimmt, ist der, an den Fingern zu lutschen, um sich Lust zu bereiten. -- Aber ein Jahrtausende dauernder Prozess hat die völlige Unterdrückung der selbständigen und nur auf Lustgewinnung gegründeten Sexualität gefordert und die -- was das

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Sexualleben betrifft, entarteten und degenerierten -- Menschen gezwungen, eine Verkoppelung des Sexualtriebes mit dem Fortpflanzungstrieb vorzunehmen und da, wo dies nicht möglich ist -- in der Kindheit -- die Sexualität ganz zu leugnen.

Kein Trieb des Menschen aber ist, wenn er sich gesund reguliert, so an den rhythmischen Wechsel von Spannung und Entspannung gebunden wie gerade der gesunde Geschlechtstrieb. Und kein Trieb des Menschen wirkt so befruchtend und anregend auf seine Produktivität, sowohl in Bezug auf künstlerisches Schaffen als auf wissenschaftliche Arbeit, wie der Geschlechtstrieb, der eine Bejahung erlebt.

So würde die Sexpol, wenn sie die Zukunftsgesellschaft schildern wollte, gerade zu entgegengesetzten Schlüssen kommen wie Huxley:
Die Menschen, welche frei von Schuldgefühlen zu ihrem Sexualleben stehen und unabhängig von wirtschaftlichen Miseren ihren gesunden, natürlichen Trieb lustvoll befriedigen könnten, würden nicht wie bei Huxley jede Spannung entbehren, sondern ihre Spannungen wie deren Lösungen bewusst erleben. Und aus der bewussten Bejahung ihrer Bedürfnisse und deren Befriedigung würde eine neue Kultur aufblühen. Kunst wäre nicht mehr Privileg einiger Auserwählter, sondern die Masse würde fähig werden, sie zu geniessen!

Auch die Details wie die Geburten in Staatslaboratorien (oder) die Ermahnung der Kinder, mit ihrem "Lulu" zu spielen, würden unter dem Gesichtswinkel des biologischen Lusttriebes genau umgekehrt aussehen: Denn auch Gebären kann eine Lust sein, und onanieren ist in einem bestimmten Alter ein natürlicher Vorgang, zu dem man nicht "aufzufordern" braucht. Und eine "Strafe für diejenigen, welche sich nicht an sexuellen Spielen beteiligen wollen", scheint den Faktor des vorhandenen Triebes oder Bedürfnisses nach Lustgewinnung ganz übersehen zu haben.

Die Stellung der Sexpol zur Befriedigung der Bedürfnisse gibt auch die Antwort auf Jef Lasts Beispiel mit dem Durst und dem Wasserlassen der Kinder auf einem Ausflug. Wir sehen diese Fragen ungezwungener und wissen nicht, warum Kinder ihren Durst nicht löschen sollen. Jef Lasts Einwand, dass eine völlige Freiheit der Bedürfnisbefriedigung "jede Ordnung in der Gruppe zerstören würde", ist die Einstellung der Menschen, welche das Vertrauen auf eine organische Regelung der Körperbedürfnisse verloren haben und an seine Stelle nun äusserliche Ordnung und Disziplin stellen.

Wohl haben wir bei den heutigen Kindern noch mit Menschen zu rechnen, deren Gleichgewicht schon gestört ist und die deswegen auf Freiheit oft erst mit Unordnung und Chaos reagieren. Aber diese Unordnung ist nur der Übergang von einer äusserlichen, gezwungenen Ordnung zu einer wirklichen, im Organismus bedingten, natürlichen Regelung der Bedürfnisfragen.

Dazu wollen wir als Beweis den Versuch bringen, der im letzten Sommer in einem Kinderheim an der Nordsee gemacht wurde:
Den 27 Kindern im Alter von 3 - 7 Jahren wurde keinerlei Zwang bezüglich Bedürfnisbefriedigung geboten. Sie konnten essen, trinken, wie viel oder wenig sie wollten, in der See baden, sooft und solange sie wollten, aufstehen und schlafengehen, wann sie wollten. - Eine knappe Woche herrschte eine allgemeine Unordnung und Unregelmässigkeit in dem Kinderheim, dann bekam ein Kind nach dem anderen ein Gefühl und eine Stellung zu seinen Bedürfnissen und Eigenarten, es lernte seine Befriedigung verstehen und kontrollieren und fand einen eigenen Rhythmus. Nach ungefähr 2 Wochen hatte man nicht mehr den Eindruck, lauter einzelne Individuen vor sich zu haben, die jeder ihren eigenen Rhythmus leben, sondern es bildete sich eine lockere Ordnung, die jedem eine gewisse Freiheit liess und doch eine Gemeinschaft aus den Individuen machte.

Von den Kindern, die durch keinerlei Zwang gebunden waren, war nicht eines krank, keines benahm sich so "undiszipliniert", dass es als asozial empfunden wurde, sondern fremde Badegäste wurden aufmerksam auf die "eigenartige Harmonie", die diese Kinder schon nach wenigen Wochen ausdrückten.

Die Beantwortung der beiden obigen Fragen schliesst eigentlich schon die Antwort der dritten Frage in sich, der Frage nach der Bejahung des Geschlechtslebens, ihrer "sofortigen fortwährenden Befriedigung" oder "Beherrschung und Einschränkung."

Wir bejahen die sexuelle Lust nicht nur, weil sie "natürlich" ist, Jef Last, wir bejahen sie, weil sie Lust ist und lehnen es ab, uns mit irgendeiner Begründung, Lust zu bejahen, zu entschuldigen. Sie haben Angst, dass "Sehnsucht und

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Werbung" verloren gehen, wenn man "auf der physischen Freude stehen bleibt". Sie fürchten, dass man "den Eros niemals kennen lernt, wenn man nicht seine Triebe einer gewissen Ordnung unterwirft". Sehnsucht und Werbung entstehen nicht durch eine moralische Schranke, die der Mensch sich setzt, sondern aus dem Gegenspiel der Partner, deren Bedürfnisse ja nicht immer gleich zu sein brauchen. Eros ist nicht auf Verzicht und Versagung angewiesen, sondern bei einem gesunden Geschlechtsleben bringt jede sexuelle Lust auch eine Liebesbindung und jede Liebe den Wunsch nach sexueller Vereinigung mit sich.

Trotz dieser Tatsache lehnen wir es ab, einen "Grundsatz" wie den von Ihnen vorgeschlagenen "Keine Sexualität ohne Liebe" aufzustellen. Bei Jugendlichen ist es ein ganz natürlicher Prozess, der sich auch im späteren Leben bei Partnerwechsel zuweilen vollzieht, dass der Partner oft gewechselt und nicht immer mit Anspruch auf Dauer geliebt werden muss. Dies ist ein Übergang, der sich längere oder kürzere Zeit hinziehen kann.

Der einzige Grundsatz, den man im Sexualleben gelten lassen könnte -- wenn es unbedingt Grundsätze sein müssen -- wäre, dass man seine Bedürfnisse so befriedigt, dass für beide Partner die grösstmögliche Lust entsteht.

Wir öffnen mit unserer Einstellung zur Frage des Sexuallebens nicht "jeder Willkür die Tür", sondern die Ergebnisse der charakteranalytischen Praxis beweisen bereits heute, dass -- wo es gelingt, die durch bürgerliche Sexualmoral in Jahrtausenden aufgebauten Panzerungen zu durchbrechen -- sich im gesunden Menschen eine Fähigkeit zur "sexualökonomischen Selbststeuerung", zur Regulierung des Verhältnisses zwischen Befriedigungsbedürfnis und Befriedigungsfähigkeit herausbildet, und dass, wenn die gesunde Genitalität im Menschen freigelegt ist, sein sexueller Haushalt sich durch seine vegetativen Ansprüche selbst regelt, ohne die Moral in Anspruch zu nehmen.

Wir empfehlen Jef Last das Studium von Dr. Wilhelm Reichs letztem Buch: »Die Sexualität im Kulturkampf«


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ZPPS, Band 3 (1936), Heft 3/4 (10/11), S. 176-178

Rezension
Erich Fromm: Autorität und Familie (1936)

(Theoretische Entwürfe über Autorität und Familie - Sozialpsychologischer Teil, vom Erich Fromm.
Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Paris: Librairie Félix Alcan. 1936)

Wie bringt es der Verfasser fertig, zwei in so hohem Masse gesellschaftskritische Methoden wie Psychoanalyse und Marxismus bei der Behandlung seines Themas zu kombinieren und sich dennoch von jeder politischen Stellungnahme, jeder Andeutung einer praktischen Konsequenz fernzuhalten?

Zunächst durch die Wahl der Beispiele! Im ersten Abschnitt "Mannigfaltigkeit der Autoritätserscheinungen" werden alle möglichen Situationen beschrieben; doch von den Autoritätserscheinungen, die den Faschismus prägen, kein Wort. Überhaupt ist von ihm in der ganzen Arbeit nur unter der akademisch-neutralen Bezeichnung "autoritärer Staat" die Rede.

Die autoritäre Einstellung erklärt F. in der Folge im Anschluss an Freud aus der Verinnerlichung der elterlichen Autorität. Doch habe Freud übersehen, dass diese Autorität nicht einer jeweils zufälligen individuellen Situation entspringt, sondern aufs engste mit dem gesellschaftlichen Inhalt der Familieninstitution überhaupt zusammenhängt. In unserer Gesellschaft würde

"eine Fügsamkeit, die nur auf der Angst vor realen Zwangsmitteln beruhte ... einen Apparat erfordern, dessen Grösse auf die Dauer zu kostspielig wäre (S. 84) . . . Es ergibt sich, dass, wenn äussere Gewalt die Gefügigkeit der Massen bedingt, sie doch in der Seele des einzelnen ihre Qualität verändern muss. Die hierbei entstehende Schwierigkeit wird teilweise durch Über-Ich-Bildung gelöst (S. 84) . . . In dem relativ determinierenden Charakter der Kindheitserlebnisse liegt der Grund dafür, dass bestimmte psychische Strukturen oft über die gesellschaftliche Notwendigkeit hinaus ihre Kräfte behalten." (S. 85)

Richtig! Doch diese Gedanken standen bereits im Herbst 1933 in der "Massenpsychologie des Faschismus" -- vgl. besonders den von Reich in die marxistische Gesellschaftslehre eingeführten Begriff "psychische Struktur". Warum unterlässt es Fromm, Mps. zu zitieren?

Doch wie wird diese Struktur individuell verankert? Durch das von der gleichen Struktur geprägte Verhalten des Erwachsenen, antwortet F. ganz richtig.

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"Es ist also nicht in erster Linie die biologische Hilflosigkeit des kleinen Kindes, die ein starkes Bedürfnis nach strenger Autorität erzeugt; die aus der biologischen Hilflosigkeit sich ergebenden Bedürfnisse können von einer dem Kinde freundlich zugewandten und nicht einschüchternden Instanz erfüllt werden. Es ist vielmehr die soziale Hilflosigkeit der Erwachsenen, die der biologischen Hilflosigkeit des Kindes ihren Stempel aufdrückt."

Aber Fromm verschweigt, dass es sich hier vor allem um sexuelle Bedürfnisse handelt und umgeht so mit bewundernswertem Geschick das ganze Problem der gesellschaftlich bedingten Sexualunterdrückung.

Besonders grotesk wirkt in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die mutterrechtliche Gesellschaft, in der von einem Ödipuskomplex im Freud'schen Sinne nicht gesprochen werden kann. Was ist aber in dieser Gesellschaft anders? Werden die Kinder sexuell nicht eingeschränkt? -- wie Malinowski uns bekanntlich berichtet. -- Nein. Nach F. besteht der entscheidende Unterschied darin, dass die beiden Funktionen des allmächtigen sexuellen Rivalen und der allmächtigen Autorität "z. B. in einer Reihe von primitiven Stämmen auf den Mutterbruder und den Vater verteilt" sind.

Im Abschnitt über "Autorität und Verdrängung" finden sich eine Reihe kluger Beobachtungen. Auch die Bedeutung der ungehemmten genitalen Sexualität für eine gesunde Entwicklung wird scheinbar anerkannt. Doch Sexualbefriedigung schaffe nicht schon an sich ein starkes Ich, was wir an den Primitiven beobachten können.

"Muss auf Grund der Veränderung der ökonomischen Bedingungen mehr Energie auf die Beherrschung der Natur verwandt werden, so wird im Gegenteil die neue Lebenspraxis und der damit verbundene Prozess des Ich-Wachstums Einschränkungen der Sexualität notwendig machen und diese Sexualunterdrückung kann zu einer Bedingung der Ich-Entwicklung werden."

In diesem Gedankengang steckt vielleicht als einzig richtiger Kern, dass bestimmte, durch Sexualunterdrückung entstandene Strukturen zu bestimmten Arbeiten in der kapitalistischen Produktion besonders geeignet machen. Subjektiv können solche Strukturen dem Individuum heute nützlich sein, objektiv bedeuten sie eine Einbusse an Arbeitskraft und Lebensfreude, eine Einbusse, die eine sozialistische Gesellschaft durch entsprechende Organisation der Arbeit überflüssig machen wird. Nur die kapitalistische Gesellschaft bedarf zur Bewältigung der Naturmächte sexuell gestörter Menschen.

Im Schlussabschnitt beschreibt F. die sadistisch-masochistische Durchschnittsstruktur des Menschen unserer Gesellschaft. Reichs Masochismustheorie wird wegen "physiologistischer Überschätzung des sexuellen Faktors" abgelehnt. Darum fehlt auch leider jede tiefere psychologische Begründung für die verschiedenen Verhaltungsweisen, in denen F. diese Struktur ausgedrückt findet. Doch ihre Beschreibung an sich ist geistvoll und lehrreich, leider in der Anordnung etwas unsystematisch.

Autorität wird es nach F. im Interesse geordneter Wirtschaftsführung auch in einer auf Interessensolid[ar]ität aufgebauten Gesellschaft geben, allerdings nur mehr eine rationale. In der Erziehung wird sie in einer solchen Gesellschaft ausschliesslich der Entfaltung des Kindes dienen,

"soweit sie die Unterdrückung bestimmter Triebregungen fördern muss, ist auch diese triebeinschränkende Funktion verschieden [von der im Kapitalismus, d. Ref.], weil sie im Interesse der Gesamtpersönlichkeit des Kindes liegt" (S. 135).

Doch eine solche Entfaltung mit Triebeinschränkung würde notwendig zu irrationaler Autoritätsbereitschaft führen, also F.s eigenes Programm gefährden. F. kennt eben nicht den erst von der Sexualökonomie herausgearbeiteten Begriff der Selbststeuerung.

Kehren wir zur Frage zurück, von der wir ausgegangen sind. F. kann zu keinen politischen Konsequenzen gelangen, weil er einerseits in viel zu hohen Abstraktionen ohne Kontakt mit den Bedürfnissen der politischen und pädagogischen Praktiker an theoretischer Klärung arbeitet. Doch ein solcher Forscher sollte sich dann lieber nicht Marxist nennen oder sich zu einer neuen Art Marxismus bekennen, der sich vom wirklichen durch Trennung von Theorie und Praxis unterscheidet. Wesentlicher noch ist es, dass F., statt den Weg der Sexualökonomie zu gehen, die sexualverneinende Wendung der analytischen Theorie mitmacht

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und sich damit den Ausblick auf die wichtigste Praxis versperrt, zu der der Einbau der Tiefenpsychologie in den Marxismus führt: nämlich die Praxis der Sexualpolitik und sexualökonomischen Massenpsychologie.

Sein Beispiel zeigt, wie in der unkritischen Kombination "Marxismus + Psychoanalyse" die letztere zu einem praktisch überflüssigen Zierat werden oder sogar direkt zu einer antisozialistischen Verbiegung der revolutionären Theorie führen kann.

K[arl] T[eschitz] [d.i. Karl von Motesiczky]


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