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Zur Vorgeschichte des LSR-Projekts
Wilhelm-Reich-Blätter
"Zum Status der Reich'schen Theorie" (1980)

Vorbemerkungen (1999)
A. Allgemeiner Überblick
B. "Früher" contra "später" Reich
  eine überflüssige Kontroverse

C. Freuds "Kommentar" zu Reich
D. Reichs Krise 1926/27


Erstveröffentlichung: Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 1/80, S. 8-20

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Zum Status der Reich'schen Theorie

A. Allgemeiner Überblick
(26 kB)

von Bernd A. Laska

I.

Überblicke ich Kommentare und Kritiken zu Reichs Werk, gleich ob pro oder contra, so ist mein Gesamteindruck, dass es bisher, in mehr als einem halben Jahrhundert, nur vereinzelte Ansätze einer rationalen Diskussion -- zudem nur bestimmte Teilaspekte betreffend -- gegeben hat. Dass Reich, der mir stets und vor allem durch Rationalität imponierte, bei Freund und Feind gleichermassen Irrationalität provozierte, hatte für mich immer etwas Paradoxes an sich. Eine Analyse der Debatten um Reich und sein Werk, die auch seine eigenen Äusserungen und Reaktionen mit einschlösse, wäre sicher wichtiger Bestandteil einer Statusbestimmung.

Die bisherige Sekundärliteratur zu Reich liesse sich grob in drei Kategorien einordnen: die erste mit mehr oder weniger stark hervortretenden hagiographischen Tendenzen; eine zweite, der ersten entgegengesetzte, der jedes Mittel recht ist, einen Gegner, dessen Einfluss meist gewaltig überschätzt wird, zu diskreditieren; und eine dritte, die scheinbar mit Reich sympathisiert, gleichzeitig aber -- wie mir scheint, oft ohne es zu merken -- Ansichten vertritt, die bei genauerer Betrachtung mit wesentlichen Grundpositionen Reichs inkompatibel sind (meist sog. "humanistische" oder ethisch-sozialistische). Nicht in diese Kategorien einzuordnen wären wohl die Bücher von Boadella (1)

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und Greenfield (2), die jedoch die Frage nach dem Status der Reich'schen Theorie nicht zu ihrem Anliegen machen.

Doch gerade die Frage: Was sagen denn die Fachleute zu Reich? stellt sich auch dem nicht autoritätshörigen Leser sofort, wenn er sich als Laie ernsthaft ein Urteil bilden will. Forscht er gründlich nach, so wird er erfahren, dass Reichs Beiträge zu den einzelnen Wissenschaften in deren Geschichte keine oder allenfalls (in Psychologie und Soziologie) marginale Spuren hinterlassen haben. Für die meisten ist damit der Fall erledigt: sie billigen Reich vielleicht einige originelle oder "vernünftige" Ansichten zu, die aber nicht "wissenschaftlich" sind. Auf einige rebellische Geister wirkt Reichs Aussenseitertum anders: sie werden Reich-Fans, oft nur kurzzeitig und/oder in einer Art "Polygamie", denn es gibt ja sehr viele attraktive Aussenseiter. Es dürften nur ganz wenige sein, die in Reich einen singulären Aussenseiter erkennen; für die die Frage nach dem Status des Reich'schen Werkes zugleich die Frage nach dem Status der etablierten Wissenschaft ("bürgerlich" oder "marxistisch") beinhaltet; die Wissenschaftsgläubigkeit und -feindlichkeit, ebenso wie Reichgläubigkeit und -feindlichkeit, als Skylla und Charybdis erkennen.

II.

Reichs allgemeines Ansehen als Wissenschaftler steht in einem kaum noch zu erhöhenden Kontrast zu seiner Selbsteinschätzung. Nach der Entdeckung der Orgonenergie sah Reich die von ihm begründete Lehre, nun Orgonomie genannt, nicht bescheiden als "Alternative" (wie es im heutigen Modejargon hiesse) zu den bestehenden Wissenschaften: "Bisher lief die Biologie, Medizin etc. der Chemie und Physik nach und versuchte sich, in völlig unrichtiger Weise, durch die im Toten gewonnenen Gesetze auf eine naturwissenschaftliche Basis zu stellen. Durch die Entdeckung des Orgons kehrt sich das Verhältnis um...

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Es wird also, und das darf ich ruhig voraussagen, von nun an nicht mehr die Biologie und Psychiatrie der Physik und Chemie, sondern es wird umgekehrt die Physik und Chemie der Biologie und Psychiatrie nachrennen, um sich auf eine bessere und exaktere naturwissenschaftliche Basis zu stellen." (3) Natürlich meinte Reich nicht die herkömmliche Biologie und Psychiatrie, sondern die orgonomische.

Warum Reich Freud und dessen sämtliche Schüler ausser sich selbst für Häretiker der ursprünglichen radikalen Psychoanalyse hielt, dürfte bekannt sein. (4) Und über seine Versuche, innerhalb eines marxistischen theoretischen Rahmens zu arbeiten, urteilte Reich 1942: "Die sexualökonomisch-biologischen Tatsachenfeststellungen waren in die marxistische Vulgärterminologie eingezwängt wie ein Elefant in ein Fuchsloch." (5) Nach der sog. Einstein-Affäre (6) schrieb er denn auch in einem Brief an Theodore P. Wolfe zusammenfassend: "Es wird sich also wiederholen, was sich bereits in der Begegnung mit dem Marx'schen und Freud'schen wissenschaftlichen System abgespielt hat: Ich werde wahrscheinlich Einsteins Theorie gegen Einstein selbst zu vertreten haben." (7)

III.

Wohl kaum sonst noch jemand hat allen Ernstes eine solche Haltung gegenüber den drei Geistesheroen Marx, Freud und Einstein an den Tag gelegt; eine Haltung, die wohl -- möglichst frei von irrationalen Motiven -- nicht prinzipiell und von vorn herein inakzeptabel für den sein darf, der Klarheit über den Status der Reich'schen Arbeiten sucht. Die bequeme Diagnose "Grössenwahn", ob er Reich nun gnädig nachgesehen wird oder nicht, wäre nur Ausflucht, wenn sie weitere Untersuchungen beeinträchtigt. Zu fragen wäre nach der oder den überragenden wissenschaftlichen Leistung(en), die Grundlage für eine solche einzigartige Selbsteinschätzung sein könnte(n).

Da hier nicht ins Detail gegangen werden kann, sei

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eine zusammenfassende Passage Reichs zu dieser Frage zitiert: "In Wirklichkeit habe ich nur eine einzige Entdeckung gemacht: Die Funktion der orgastischen Plasmazuckung.... Als es mir gelang, mich trotz aller Hindernisse und Anfeindungen auf dieses eine Problem drei Jahrzehnte lang zu konzentrieren, es zu bewältigen, mich daran als einer fundamentalen Naturfunktion zu orientieren, begann ich zu merken, dass ich den Denkrahmen der bestehenden menschlichen Charakterstruktur und damit der Zivilisation der letzten 5000 Jahre überschritten hatte... Als erstaunlich erschien mir stets nicht, dass das Orgon existiert und funktioniert, sondern dass man es im Verlaufe von zwanzig Jahrhunderten so gründlich übersah oder wegdisputierte, wo es von einzelnen lebensnahen Forschern gesichtet und beschrieben wurde... Ich glaube bestimmt, dass die Biogenese, die Ätherfrage, die Lebensfunktion und die 'menschliche Natur' längst von vielen wissenschaftlichen Arbeitern erobert worden wären, wenn diese Kernfragen nicht nur einen Zugang gehabt hätten: den über das Problem der orgastischen Plasmazuckung." (8) Es sollte eigentlich möglich sein, über die Rolle dieser "fundamentalen Naturfunktion" genaueren Aufschluss zu erhalten. Die Fachliteratur jedoch gibt zu diesem Thema nur sehr vage Auskunft, so z.B. über die Protoplasmaströmung: "Die Ursache ist nicht genügend geklärt, wahrscheinlich sind mehrere Faktoren wirksam." (9)

IV.

Unabhängig vom Ergebnis genauerer Nachforschungen ist es jedoch erstaunlich, wie Reich in der Beurteilung der Bedeutung seiner Entdeckung eine derartige Sicherheit zeigte, war er doch eigentlich "Dilettant" auf biologischem Gebiet. Natürlich war neben persönlichen charakterlichen Voraussetzungen von Bedeutung, dass (und wie!) Reich Psychoanalytiker war: er musste aufgrund seiner Erfahrungen eine Theorie vom wissenschaftlichen Prozess haben, deren kritischer Gehalt den heute diskutierter Theorien (z.B. Feyerabend,

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Kuhn) weit übertreffen würde. Doch das allein konnte nicht ausreichen. Was war, wenn überhaupt, Reichs experimentum crucis? Was war sein Erfahrungshintergrund?

Reich war Arzt, von 1919 bis 1934 Psychoanalytiker, wegen seiner naturwissenschaftlichen (und damals marxistischen) Orientierung in Freuds Kreis jedoch ein "Hecht im Karpfenteich". Er hatte, was Freud bewusst ignorierte, die Orgasmustheorie aufgestellt und die psychoanalytische zur charakteranalytischen Therapietechnik weiterentwickelt. Die Entdeckung der physiologischen Entsprechung des Charakterpanzers, des sog. Muskelpanzers, führte ihn ab 1933 in die Physiologie und Biologie, in Gebiete, deren Entwicklung er seit dem Studium mit grossem Interesse verfolgt hatte.

Erste Versuche, die Neurosentheorie psychosomatisch zu fundieren, finden sich schon 1927 in seinem Buch "Die Funktion des Orgasmus". Im gleichen Jahr rezensiert er begeistert ein Buch von Friedrich Kraus, eines der damals führenden Internisten: "Die 'Nässetheorie des Lebens', die der Autor mit einer Fülle von Belegen aus den verschiedensten naturwissenschaftlichen Gebieten entwickelt, gehört zu den interessantesten und einleuchtendsten Erörterungen auf biologischem Gebiet. ... Der neue, ...höchst fruchtbare Kerngedanke... ist die Idee einer die 'Tiefenperson' ausmachenden 'vegetativen Strömung'...". In dieser erkannte Reich "unschwer einen Ausdruck dessen, was man in der Psychoanalyse 'somatische Libido' nennt." (10)

Warum die Theorie von Kraus, der wegen seiner umfassenden Kenntnisse nicht nur in der Medizin, sondern auch in Physik, Chemie, Biologie und Philosophie, bisweilen sogar mit Leibniz verglichen worden ist, völlig in Vergessenheit geriet, wäre eine gesonderte Untersuchung wert. (11) Für Reich jedenfalls war sie die einzige Theorie, die die "Erscheinungen und Funktionen der lebendigen Substanz zu einer einheitlichen Grundauffassung" (12) zusammenfasst.

Dass die Theorie von Kraus auch seinerzeit in Fach-

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kreisen umstritten war, zählte für Reich nicht sonderlich; seine eigene Theorie war dies erst recht. Sein damaliges Vorgehen charakterisierte er wie folgt: "Sich selbst ein fachliches Urteil über neue Theorien aus fremden Spezialgebieten zu bilden, ist meist unmöglich. ... Wenn aber verschiedene Disziplinen unabhängig voneinander, ohne Ahnung der Konsequenzen ihrer Forschung, ohne Vorsatz, einander je zu begegnen, immer mehr nach einem bestimmten Punkte hin zu konvergieren scheinen, über den Konvergenzpunkt in der Problematik ähnliche oder gar gleiche Anschauungen entwickeln, wenn schliesslich bestimmte Probleme sich nur unter der Berücksichtigung zweier oder dreier autonomer Anschauungen lösen, und nicht unter Zuhilfenahme beliebig anderer, dann zweifeln wir nicht, dass diese Theorien, und nicht die heuristisch wertlosen isolierten, die grössere Wahrscheinlichkeit für sich haben." (13)

Die Theorien, die Reich damals, 1934, in ein einheitliches Konzept integrierte, waren: seine eigene Orgasmus- und Charaktertheorie, Kraus' biologische Theorie der Tiefenperson ("vegetative Strömung"), Max Hartmanns Sexualitätstheorie und verschiedene damals neue Erkenntnisse über das Vegetativum -- die seither übrigens nicht wesentlich erweitert werden konnten (trotz der ärztlichen Hilflosigkeit gegenüber den fast schon ubiquitären vegetativen Störungen und entsprechend intensiver Forschung). Neue Probleme und offene Fragen, die sich Reich nach dieser theoretischen Integration stellten, veranlassten ihn, eigene Experimente im Labor durchzuführen: Es entstand die "sexualökonomische Lebensforschung" (Bion- und Ca-Experimente); es folgte die Entdeckung der nichtelektromagnetischen "Orgonstrahlung" an einer Bionkultur.

V.

Warum Reich, auf den neuen Gebieten ja "Dilettant", seine experimentellen Beobachtungen mit solcher Sicherheit so deutete, dass die aus ihnen abgeleiteten Theorien den Rahmen der bisherigen naturwissenschaft-

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lichen Konzepte sprengten, kann hier sachlich nicht diskutiert werden. Kontrollversuche und Fachleute, die zu autonomem Urteil fähig sind, wären für eine solche Aufgabe Voraussetzung.

Was Reich in der Überzeugung von der Richtigkeit seiner Interpretationen bestärkt haben mag, war -- neben seinen Zweifeln an der Rationalität des normalen wissenschaftlichen Prozesses -- mindestens zweierlei: einmal der starke Trend zur Überspezialisierung in allen Wissenschaften und zum anderen die Tatsache, dass die herkömmliche Lebensforschung vornehmlich am toten Objekt arbeitete.

Reich, der -- wie übrigens auch Kraus -- hauptsächlich mit lebenden Objekten arbeitete, entfernte sich damit völlig vom Hauptstrom der Biologie, der bald in Form der Molekularbiologie gewaltige Triumphe feiern sollte. Einer der Pioniere dieser Biologie, der kompetent und zugleich kritisch eingestellt ist, ist der prominente Nukleinsäureforscher Erwin Chargaff (*1905). Er gestand 1977 ein: "Ich habe dreissig Jahre gebraucht, bis ich erkannt habe, dass die Biochemie eigentlich nur mit totem Gewebe arbeitet, ...dass das, was wir Biochemie nennen, eigentlich Nekrochemie heissen müsste." (14) Und er wirft in diesem Zusammenhang sogar die Frage auf: "Vielleicht sind alle unsere Vorstellungen über die lebende Zelle falsch." (15)

Dass die Biologie in eine Sackgasse geraten sein könnte, wird u.a. auch durch die Kargheit der Ergebnisse der Krebsforschung nahegelegt, in der ein gigantischer Aufwand getrieben wurde und wird. Nach Jahrzehnten weltweit intensivst betriebener Forschung stellte der Bericht über die "Grosse Krebskonferenz" vom 27.9.79 in Bonn fest: "Angesichts des ungewöhnlich komplexen und daher so schwierig lösbaren Problems der Entstehung und Ausbreitung von Krebserkrankungen wäre es sicher eine Illusion, in absehbarer Zeit einen 'Durchbruch' zu erwarten." (16)

Reich, der bekanntlich das Krebsproblem als eines seiner Hauptarbeitsgebiete betrachtete, äusserte sich

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schon drei Jahrzehnte zuvor, als alle Welt auf eine Lösung durch "die Wissenschaft" hoffte und niemand das jetzige Fiasko prophezeit hätte: "Die Geissel des Krebses ist kein so grosses Problem wie es scheint. Das Problem liegt in der Charakterstruktur der Krebspathologen, die es so meisterhaft vernebelt haben." (17) Und: "Wir können über die Konsequenz in der Vermeidung der Hauptsache nur staunen. Die Geschädigten sind wieder nur die vielen Kranken." (18)

VI.

Die Sicherheit von Reichs Urteil in wesentlichen Fragen wird, weil es sich bei ihnen noch immer um Tabuthemen handelt, meist ignoriert. So schrieb er 1927 zum Problem der seelischen Gesundheit: "Man mag der Individualität im Seelischen noch so breiten Spielraum lassen: wie es eine Physiologie des normalen Körpers gibt, obwohl nicht zwei Menschen körperlich gleich gebaut sind, ...so gibt es auch im Seelischen eine zweckentsprechende Grundstruktur, die sich in einer bestimmten Triebkonstellation ausdrückt. Sie schliesst die seelische Differenzierung keineswegs aus. ... Damit erledigt sich der Einwand, dass man im Seelischen nicht 'schematisieren', d.h. das Gemeinsame suchen dürfe. Pathologisch nennen wir nicht die Abweichung bei vorhandener normaler Grundstruktur, sondern nur die Verzerrung der Grundstruktur selbst." (19)

Das in diesen Zeilen enthaltene Programm, ein Kriterium für seelische (später psychosomatische) Gesundheit zu finden, verfolgte Reich noch viele Jahre. Gerade weil er darin erfolgreich war, allerdings die Dogmen der psychoanalytischen Theorie verletzte, wurde er 1934 aus der IPV ausgeschlossen. (20) Heute, ein halbes Jahrhundert später, findet sich der Psychoanalytiker S. O. Hoffnann stets wieder an dem gleichen kritischen Punkt: "Das vorrangigste Problem ... ist die unzureichende Trennung von Gesundheit und Krankheit." (21) Eine heuchlerisch-"humanistische" Ideologie verhindert noch immer die Klärung der Frage.

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VII.

Auf Chargaffs Frage, ob alle unsere Vorstellungen über die lebende Zelle letzten Endes falsch seien, würde Reich wohl antworten, dass all die mit einem so ungeheuren Aufwand erforschten Details wohl nicht unbedingt "falsch" sein müssten, dass jedoch das Wesentliche nicht erfasst worden sei.

Diese Auffassung, dass der etablierten Wissenschaft vom Leben, trotz all ihrer unbezweifelbaren Triumphe, das Wesentliche entgangen sei, äusserte auch ein anderer hochkarätiger Biologe, der Nobelpreisträger Albert Szent-Györgyi (*1893). Man habe, so schreibt er, ihn oft als Vitalisten diffamiert, ein Vorwurf, der "schlimmer ist, als würde man Kommunist genannt." (22) Szent-Györgyi, der jahrzehntelang über Problemen der biologischen Energieumwandlung gearbeitet hat, verfiel nicht in den allgemeinen Siegestaumel, der seit den Erfolgen der Molekularbiologie (nach Chargaff "die überheblichste aller Wissenschaften" (23)) die Geldquellen sprudeln lässt. Er stellte nüchtern fest, dass "viele der grössten Probleme der Biologie ungelöst, wenn nicht unberührt" geblieben seien; und er bezweifelt, "ob die Physik in ihrem gegenwärtigen Zustand uns eine Analyse der (dem Leben) zugrundeliegenden Mechanismen erlaubt... Wir werden wohl auf die Entdeckung einer gänzlich neuen physikalischen Wissenschaft warten müssen, bevor wir weiter zum Wesen des Lebens vordringen können". (24) Es war Reichs Überzeugung, die Grundlagen für eine solche Wissenschaft gelegt zu haben.

VIII.

Chargaff und Szent-Györgyi, zwei prominente, aber nicht ganz angepasste insider,  kommen in ihren Urteilen über ihr Spezialgebiet, die Biologie, in sehr wesentlichen Punkten zu ähnlichen bis gleichen Ergebnissen wie Reich. Allerdings haben sie, die in etwa der gleichen Generation wie Reich angehören und dem gleichen österreichisch-ungarischen

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Kulturkreis entstammen, etliche Jahrzehnte länger gebraucht, um zu dieser Einschätzung der Situation zu kommen. Dennoch gehören sie innerhalb des Wissenschaftsbetriebs zu den ganz ganz wenigen, denen ihr stets durch Abhängigkeit von Geldgebern geprägtes Dasein das Rückgrat nicht gebrochen hat. Reich scheint diese Gefahr des angepassten Berufslebens schon in seinen ersten Studiensemestern erkannt zu haben; denn als er sich 1920 der Psychoanalyse verschrieb, war klar, dass damit -- trotz hervorragender Leistungen -- an eine reguläre akademische Karriere nicht mehr zu denken war.

Ich glaube, die Grenze zur Hagiographie noch nicht zu überschreiten, wenn ich die m.E. hohe qualitative Differenz betone zwischen der Kritik, die Chargaff und Szent-Györgyi nach Etablierung ihres Rufs und quasi im Pensionsalter formulierten, und der Kritik des jungen, ab 1934 in jeder Hinsicht ganz auf sich gestellten Exilanten Reich. Damit ist selbstverständlich auch der Inhalt der Kritik und ihre Fundierung gemeint.

Szent-Györgyi sagt eigentlich nur seine ganz auf das rein Fachliche beschränkte Meinung, während Chargaff schon etwas weiter ausholt und dabei auch in der Benennung eines unmittelbaren Grundes der Misere der Biologie mit Reich übereinstimmt: "Übrigens muss gesagt werden, dass es wenig gibt, wovor der Biochemiker sich so unbehaglich fühlt, als wenn er es mit dem Leben selbst zu tun hat." (25) Doch Chargaffs Menschenbild erlaubt ihm nicht, über simples Beklagen und Moralisieren hinauszugelangen. Ideologisch ist er ein Vertreter dessen, was Reich mechanistisch-mystizistische Kultur genannt hat; und in seinem gespaltenen Weltbild hat der moralische Mensch, zumindest der "Geist", eine irgendwie autonome Existenz ausserhalb der Naturprozesse -- das Übliche.

So wertvoll eine solche Kritik auch ist; sie bleibt stets punktuell und somit m.E. der Reich'schen weit unterlegen.

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IX.

Ein unerschütterliches Bewusstsein von der Überlegenheit seines Standpunktes, der ihm direkten Zugang zu Problemen erlaubte, denen das Gros der Menschheit auszuweichen trachtet, muss Reich gehabt haben, als er 1951 -- die etablierte Wissenschaft hatte gerade mit der "Entfesselung" der nuklearen Energie neue Triumphe gefeiert -- schrieb: "Die Menschheit hat viele Denksysteme entworfen... Aber die Natur, die in Wirklichkeit funktional und nicht mechanisch ist, ist ihr durch die Finger geglitten." (26) Zählt man die Tiergattung Mensch mit zur Natur, was für Reich selbstverständlich war, so kann man heute die zunächst vielleicht befremdlich klingende schlichte Wahrheit dieser Aussage eher erkennen als vor drei Jahrzehnten.

Nicht jedoch die Unvollendetheit der Wissenschaft, wie man missverständlich annehmen könnte, meinte Reich damit, sondern ihren bloss instrumentellen Charakter im Dienste der Tendenz des Menschen, den Problemen des lebendigen Lebens auszuweichen. (27) Er unterschied daher zwischen notwendigem Irren aus Unkenntnis und nichtnotwendigem Irren, das aus dieser Tendenz erwächst.

Sicher würden nur wenige -- auch bei Kenntnis der hier notwendigerweise ausgesparten Details -- allen Ernstes Reich in seine Position folgen. Wer es aber tut, mit heissem Herzen und kühlem Kopf, der wird vielleicht fragen: Als natur-(incl. gesellschafts-)philosophische kritische Metatheorie mag Reichs Konzept zwar -- nach entsprechendem Ausbau -- nicht zu übertreffen sein; wie aber steht es nun wirklich mit der Stichhaltigkeit seiner wissenschaftlichen Einzelaussagen?; und was bliebe von seiner rudimentären Metatheorie, wenn diese Einzelaussagen nicht haltbar wären?

Diese Statusbestimmung der Theorie(n) Reichs, die m.E., wie schon gesagt, ohne Statusbestimmung der etablierten Wissenschaften, Ideologien etc. nicht möglich ist, steht noch aus. Absicht dieses Beitrages ist es, Aktivitäten in dieser Richtung anzuregen.

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Anmerkungen:

(1) David Boadella: Wilhelm Reich -- The Evolution of his Work, London 1973

(2) Jerome Greenfield: Wilhelm Reich vs. the U.S.A., New York 1974

(3) Wilhelm Reich: The Einstein Affair (Brief an T P Wolfe vom 18.2.44), Rangeley/ME 1953

(4) Dieses Thema ist ausführlich dargestellt in der Monographie über Wilhelm Reich, die Anfang 1981 im Rowohlt-Verlag erscheinen wird. [1998: vgl. Auszug]

(5) Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1971, S. 23

(6) siehe Wilhelm-Reich-Blätter Nr 2/76N

(7) wie Anm. (3)

(8) Wilhelm Reich: Ausgewählte Schriften, Köln 1976, S. 27

(9) dtv-Atlas zur Biologie, München 1967 (2. Aufl. 1979), S. 33

(10) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd.XIII (1927), S. 338f

(11) ist für eine spätere Ausgabe der WRB geplant.

(12) Wilhelm Reich: Die vegetative Urform des Libido-Angst-Gegensatzes, in: Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, Bd.I (1934), S. 211 f

(13) ebd.

(14) "Man braucht eine kritische Naturwissenschaft", Gespräch mit Erwin Chargaff, in: Nachrichten aus Chemie, Technik und Laboratorium, 25 (1977), Heft 1, S. 5ff

(15) Erwin Chargaff: Nützliche Wunder, in: Scheidewege, 6 (1976), Heft 3, S. 309 ff

(16) Deutscher Bundestag, 8.Wahlperiode, Drucksache 8/3556 vom 16.01.1980, S. 22

(17) Wilhelm Reich: Christusmord, Freiburg und Olten 1978, S. 35

(18) Wilhelm Reich: Der Krebs, Köln 1974, S. 35

(19) Wilhelm Reich: Die Funktion des Orgasmus, Leipzig/Wien/Zürich 1927, S. 192

(20) wie Anm. (4)

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(21) S. O. Hoffmann: Charakter und Neurose, Frankfurt 1979, S. 176

(22) Albert Szent-Györgyi: Drive in Living Matter to Perfect Itself, in: Synthesis 1 (Redwood City/CA/USA) 1974 (3rd ed. 1977), p. 14 ff

(23) Erwin Chargaff: Variationen über Themen der Naturforschung nach Worten von Pascal und anderen, in: Scheidewege, 5 (1975), S. 365 ff

(24) wie Anm. (22)

(25) wie Anm. (15)

(26) Wilhelm Reich: Christusmord, a.a.O., S. 31

(27) ebd., S. 30

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