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Wilhelm-Reich-Blätter

Buchbesprechungen

Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 3/81:
Colin Wilson: The Quest for Wilhelm Reich
Leo Raditsa: Some Sense about Wilhelm Reich
W. Edward Mann & Edward Hoffman:
The Man Who Dreamed of Tomorrow

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Colin Wilson

Colin Wilson
THE QUEST FOR WILHELM REICH

A Critical Biography
Anchor Press/Doubleday, Garden City, N.Y., 1981
XVI+272 pp, 12.95 $

Eine neue Biographie, dazu eine, die sich "kritisch" nennt, weckt gewisse Erwartungen. Wilsons Buch, das sei vorweg gesagt, kann diese nicht erfüllen. Wichtige neue biographische Informationen aber sind vor Öffnung des Reich-Archivs gar nicht zu erwarten, und an einer bestimmten Art von Kritik an Reich mangelt es bekanntlich nicht. Ein überflüssiges Buch also? Die Antwort ist so einfach nicht.

Reich-Anhänger ziehen es in diesem Zusammenhang oft vor, ""Kritik"" zu schreiben. Jene unter ihnen, die genauere Kenntnis dieser Kritik besitzen, wissen zwar, dass das sogar überwiegend berechtigt ist; nicht alle aber können es sich mit dieser Feststellung bequem machen und, im vermeintlichen Besitz der Wahrheit, genüsslich ihr Sektiererdasein erleiden.

Jemand also, für den mit dieser Situation der Reichkritik ein zentrales Problem der Reich'schen Theorie -- nicht nur ein wissenschaftstheoretisches, sondern auch ein existenzielles für den, der diese Theorie in ihren Grundzügen für original, singulär und zudem "richtig" hält -- erst aufgeworfen ist, könnte Wilsons Buch dennoch lesenswert finden. Nicht, dass Wilson selbst ein solcher wäre oder sich dieser Problematik gewachsen zeigte -- ganz im Gegenteil. Aber dadurch, dass er seine Motive und seine ideologische Position relativ kenntlich darstellt, lässt sich über diese und die Möglichkeiten, von ihr aus Reich zu beurteilen, einiges lernen.

Seine ideologische Position zu verstecken hat Wilson keinen Anlass. Es ist die des landläufigen "Pluralismus", mit seinen

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Tugenden Toleranz, Fairness, Vorurteilsfreiheit, Überzeugung durch Argumente usw., die zumindest in Dingen, für die die Wissenschaft zuständig erklärt wird, nicht nur in den angelsächsisch geprägten Demokratien von allen Vernünftigen und Gutwilligen als der Weisheit letzter Schluss angesehen wird. Dass sie nur eine ultima ratio ist, sehen die wenigsten, vor allem aber nicht jene "Realisten" vom Schlage Wilsons, die von einer quasi ewigen "Natur des Menschen" in einem apologetischen Sinne sprechen.

Mit den Tugenden des Pluralismus aber, und das ist eine der wesentlichen Erkenntnisse Reichs, steht es wie mit den Tugenden jeder anderen Lehre vom Sollen. Ihre Forderungen sind Begleiterscheinungen, ja sogar gute Indikatoren, einer gesellschaftlichen Realität, in der die Individuen zunächst "materiell" so zugerichtet werden, dass sie später zu deren Befolgung nur bedingt fähig sind.

Dass Reich sich, aufgrund seiner empirischen Befunde über die "Natur des Menschen", nicht in die theoretische Zwickmühle der fatalen Alternative "Meinungsfreiheit oder Meinungsdiktat" begeben hat, scheint Wilson nicht ganz unberührt gelassen zu haben. Seine folgenden als Beispiele zitierten Äusserungen sind bezeichnend: "Das einzig Erschreckende an Reichs Auffassungen war seine Überzeugung, dass er recht habe und alle anderen unrecht. [...] Wenn er zu politischer Macht gekommen wäre, wären seine 'Feinde' wahrscheinlich in Konzentrationslagern gelandet." (S.3) Am meisten habe ihn an Reich geärgert, "dass er unfähig zu sein schien, an die ehrlichen Absichten von irgendjemandem zu glauben, der nicht seiner Meinung war." (S.2)

Bezeichnend dabei ist, dass Wilson bei der Niederringung seiner Verunsicherung als Pluralist selbst einige seiner geheiligten Tugenden aufgibt (aufgeben muss?), zu denen natürlich auch die Unterlassung von Unterstellungen und das Bemühen um faire und differenzier-

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te Betrachtung gehört. Nach diesem Auftakt und dem folgenden Buchtext berührt es dann etwas seltsam, wenn er in einem Nachwort seine tiefgehende Antipathie gegenüber Reich "offen bekennt". Diese aber sieht er, seiner ideologischen Position ganz getreu, nicht als Hindernis einer "objektiven" Bewertung der wissenschaftlichen Leistung Reichs an.

An die Überlegenheit seiner Ideologie, die sich ja selbst nicht als solche sieht, und an sich als Tugendbold mit "freiem Willen" (auch eines seiner Hauptanliegen) glaubend, nennt er denn auch als eines der Motive dafür, dass er das Buch geschrieben hat, er habe jenen Kritikern Reichs nicht zustimmen können, die meinen, dass er nach der "Entdeckung des Orgons" auf Abwege geraten sei: "Jeder, der sich die Mühe macht, Reichs Entwicklung im Detail zu verfolgen, merkt schnell, dass diese Kritiker nicht von den vollständigen Tatsachen ausgehen... Reich hat die Entdeckung langsam gemacht, Schritt für Schritt, auf überaus bewährte, wissenschaftliche Vorgehensweise." (S. 234)

Wilsons Behandlung der Orgonomie ist denn auch tatsächlich so, dass selbst Richard A. Blasband, der das Buch für das "Journal of Orgonomy" besprochen hat (15 (1981), pp 130-132), sie "vergleichsweise fair" genannt hat.

Wilson zeigt hier seine "Schokoladenseite". Die Ergebnisse von Reichs Behandlung von Krebsmäusen seien "sensationell" gewesen, die bei krebskranken Menschen "bemerkenswert". Zu Reichs Experiment XX (vgl. "Über die Organisation plasmatischer Materie aus massefreier Orgon-Energie", in: "Der Krebs", Köln 1974, S.80 ff) meint Wilson: "Gibt es dabei irgendeinen grundsätzlichen Fehler, entweder in Reichs Postulaten oder in seiner experimentellen Methode, dann ist es jedoch sehr schwierig zu erkennen, worin er besteht." (S.196) Auch Reichs DOR-Konzept bereitet Wilson keine Schwierigkeiten, im Gegenteil: "...es ist schwer vorstellbar, wie Reich auf der Grundlage des Oranur-Experiments zu einer anderen Schlussfolgerung hätte kommen

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können." (S.209) Ebenso akzeptiert er bereitwillig die Berichte über Reichs Experimente zur Wetterbeeinflussung und erwidert eventuellen Skeptikern kategorisch: "Die Hypothese der Selbsttäuschung ist unhaltbar." (S.212) Und sogar noch Reichs UFO-Aktivitäten schrecken ihn nicht, obwohl er hier seine Begeisterung hinter vorsichtigeren Worten verbirgt: "Die ganze Geschichte, im einzelnen in 'Contact with Space' dargestellt, klingt wie eine paranoide Phantasie; aber auch hier ist es nötig, sich daran zu erinnern, dass alles von jedermann in Little Orgonon (Arizona) beobachtet worden ist." (S.225)

Obwohl Wilson ab und zu mit der Diagnose aufwartet, Reich sei "immer paranoischer" geworden, und zwar bereits seit den zwanziger Jahren, betont er auch des öfteren, dass Reich, insbesondere ab ca. 1935, nie den Pfad wissenschaftlicher Logik verlassen oder sich von Phantasien bzw. Wunschbildern leiten lassen habe. Nein, "Reich war weder ein Spinner noch ein Verrückter." (S.188)

In diesem Teil des Buches, den Blasband "vergleichsweise fair" nennt, findet sich wenig, was seinem Untertitel gerecht würde. Kritik übt Wilson zwar in diesem Teil auch, aber weniger am Werk, sondern meist am Menschen Reich. Wenn diese z.T. berechtigt erscheint, wie m.E. an einigen Aspekten des Verhaltens Reichs gegenüber den Institutionen der amerikanischen Gesellschaft, so bleibt doch sein Standort stets der des "homo normalis" im Reich'schen Sinn. Was Wilson überhaupt nicht aufbringt, obwohl er sehr mit dem Menschen Reich befasst ist, ist auch nur das geringste Mass an Empathie -- eigentlich ja kein Wunder, aber doch im Falle Reich wohl das entscheidende Hindernis, das ihm den Zugang zu den wesentlichen Aspekten des Werkes versperrt hat.

Der restliche Teil des Buches, also alles, was nicht mit Orgon-Energie zu tun hat, ist natürlich dadurch geprägt. Blasband hat dafür die reichianische Allzweck-Formel parat: "Emotionelle Pest in Aktion."

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Wenn Blasband erklärt, Wilson sei, wie es bei allen Angriffen der emotionellen Pest gegen die Orgonomie üblich ist, von dem Werk tief berührt, demonstriere sogar stellenweise grosse Bewunderung für Reich und dessen Einsichten, könne diese aber nicht verkraften, so scheint mir das zwar nicht falsch, aber doch zu stereotyp und pauschal; so, als wolle er Wilson unbedingt mit allen anderen Reich-Feinden zusammenwerfen und die Qualität seines Buches dadurch herabsetzen, dass er ihm Originalität abzusprechen versucht.

Darin scheint sich mir die gleiche intellektuelle Grobschlächtigkeit auszudrücken, aufgrund der Blasband Gefallen an der Wilson'schen Darstellung der Orgonomie findet. Die Weigerung, etwas genauer hinzuschauen und die Position des Gegners differenzierter zu betrachten, kann freilich auch eigene Verunsicherung verraten, kann ein ähnlicher Abwehrmechanismus sein wie der, den ich bei Wilson vermutet habe.

Immerhin ist es doch ungewöhnlich und zu Erklärungsversuchen herausfordernd, dass Wilson, ein recht bekannter britischer Autor übrigens, sich öffentlich und eindeutig gerade für jenen Teil der Reich'schen Arbeiten einsetzt, der Angriffen am schutzlosesten ausgeliefert ist. Ungewöhnlich für Wilson ist zudem der Aufwand an Vorarbeiten, den er für dieses Buch getrieben hat. Mehr als ein Jahrzehnt lang hat er sich mit dem Thema beschäftigt und die Mühe nicht gescheut, ausgiebig zu recherchieren, bei Reich-Kennern und bei Leuten, die Reich noch gekannt haben. (Er hat dabei sogar ein bisher unbekanntes biographisches Detail -- die Affäre Bergerson -- zu Tage gefördert). Diese Arbeitsweise kann bei einem Mann, der in seinen 40er Jahren schon mehr als 30 (!) Bücher hinter sich hat, nicht die Regel sein.

Was aber mag Wilson denn nun bewogen haben, ein Buch über einen Mann zu schreiben, der ihm so durch und durch unsympathisch ist? Was mag ihn so fasziniert haben, dass er sogar diesen ungewöhnlichen Aufwand dafür trieb? Warum ist er Reich gerade dort gefolgt, wo

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dieser am wenigsten Experte war und am leichtesten verwundbar: auf den im traditionellen Sinn als naturwissenschaftlich zu bezeichnenden Gebieten?

Das Buch sagt zu diesen Fragen, von denen er selbst die erste ausdrücklich aufwirft, durchaus Brauchbares aus. Natürlich ist ihm Reichs Sexualtheorie ein Greuel, was bedeutet, dass er ihre wissenschaftliche Unhaltbarkeit behauptet. Hier ist er am schwächsten, droht gelegentlich sogar ins Pornographische abzugleiten und hat eigentlich nicht einmal ein Problembewusstsein: "Ich habe nie verstanden, warum jemand unter siebzig sexuelle Befreiung nötig hat." (S.1) Noch ein markanter Satz soll hier zitiert werden: "Hitlers wenige Bemerkungen über Sexualität bei seinen 'Tischgesprächen' legen nahe, dass er mit Reich übereinstimmt. (...) Hitler scheint auch Reichs Argwohn gegen die Kirche zu teilen... ist aber nicht exakt ein Mann Reich'schen Geistes." (S.142f) Nicht unerwähnt darf jetzt aber bleiben, dass das nicht alles ist, was er zu diesem Thema zu sagen hat. Seine Psychologie und Neurosentheorie kann hier jedoch nicht referiert werden.

Sicher, die reichianische Standarderklärung "emotionelle Pest" mag eine Teilerklärung bzw. ein Kürzel dafür sein, was Wilson motiviert hat; sie ist aber allenfalls unter massivem Aufwand an Spitzfindigkeiten auf die Tatsache seiner "fairen" Behandlung der Orgonomie anzuwenden. Wilson las den "Krebs" und fand, dass Reich "mit der Klarheit und Sachlichkeit des echten Wissenschaftlers" geschrieben habe. Leicht hätte er, wie so viele vor ihm, auch zum gegenteiligen Befund kommen können.

Ohne es hier durch ausführliches Zitieren belegen zu wollen, habe ich den Gesamteindruck gewonnen, dass Wilsons Buch ein zwangsmoralischer Kraftakt ist, eine Exerzitie, durch die er die Überlegenheit seiner pluralistischen Ideologie beweisen wollte. Wem aber? "Die Welt" glaubt sowieso an sie. Die, die dem "monomanen" Paranoiker Reich bedingungelos folgen, sind ohnehin hoffnungslose Fälle. Bleibt nur -- er selbst, dessen ideologische Grundfesten, so vermute ich, durch

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Reich erschüttert worden sind.

Worden sind? Vielleicht sind sie es noch immer. Denn die Tugenden seiner Ideologie versagen gegenüber einem Objekt wie Reich, entlarven sich gewissermassen selbst. "Fairness" wird zur Farce, und eine kritische Biographie Reichs, die an sich sehr wünschenswert ist, ist sein Buch bestimmt nicht geworden. Das Zuviel an "Kritik" bezüglich der Person und dem nichtorgonomischen Teil des Werkes wird durch das Zuwenig bezüglich dem orgonomischen natürlich nicht aufgewogen: beide Mängel addieren sich.

Pluralistische Tugenden sogar gegenüber einem zu bewahren, dem man zuvor, eigener ideologisch bedingter Denkhemmung erliegend, die Grobheit unterstellt, er habe für diese Tugenden prinzipiell nur Fusstritte übrig, diese "edle" Haltung mag dem Ideologen selber erhebende Gefühle vermitteln. Im Falle Reich aber, der wie kein anderer geeignet wäre, das Ideologische am Pluralismus zu exponieren, steht Wilson damit auf verlorenem Posten.

So allerdings wird das Buch nicht von jedem Leser verstanden werden. Manch einer wird sich vielleicht von der "fairen" Behandlung der Orgonomie blenden lassen, die bestenfalls Kritiklosigkeit bezeugt. Wilson verkörpert sogar in gewisser Weise einen heute gar nicht so seltenen Typus des Reich-Enthusiasten, nämlich einen jener wunderlichen "Praktiker", die nur Reichs Orgonomie (neben vielen anderen Para-Sachen) für wertvoll halten. Anders als Wilson beginnen diese aber oft erst dann zu -- theoretisieren, wenn ihre "Experimente" nicht wie gewünscht klappen; dann müssen DOR- und ORANUR-Effekte herhalten. Und im Gegensatz zu Wilson, dem Orgonomie-Freund und Reich-Hasser, ist ihnen schlicht schnuppe, was Reich sonst noch entdeckt hat. Ihnen aber wird Wilsons Buch nichts zu bieten haben. Wer jedoch an den oben angesprochenen Themen interessiert ist und auf Invektiven gegen Reich nicht gleich allergisch reagiert, der mag dem Buch durchaus etwas abgewinnen.

B.A.L.

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Leo Raditsa

Leo Raditsa
SOME SENSE ABOUT WILHELM REICH

Philosophical Library, New York, N.Y., 1978
126 pp, 6.00 $

Raditsa, ein amerikanischer Historiker, hat dieses Buch, wie er eingangs bemerkt, geschrieben, um mit sich selbst über den Einfluss ins Reine zu kommen, den eine etwa 20-jährige Beschäftigung mit Reich auf ihn ausgeübt hat. Das "some sense" im Buchtitel, das das Subjektive und Vorläufige seiner Überlegungen schon auf den ersten Blick signalisieren soll, erklärt er im ersten Satz der Einleitung damit, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt "arrogant" wäre zu behaupten, mehr als das leisten zu können. Auf die Bedeutung, die mir diese Bemerkung zum Verständnis der Position des Autors zu haben scheint, werde ich später zurückkommen.

Als ich das Buch Anfang 1981 zum ersten Mal las, war ich ziemlich begeistert, obwohl ich Raditsas Ansichten in vielen Fällen nicht teilte. Ich war aber froh, dass hier endlich einmal jemand war, der dem Reich'schen Werk die nicht nur an der Oberfläche haften bleibende kritische Beachtung geschenkt hat, die es meines Erachtens verdient. Diese spontane Begeisterung ist jetzt, wo ich das Buch für die Rezension ein zweites Mal las, einer kritischeren und differenzierteren Haltung gewichen.

Das Buch, Titel und Seitenzahl sagen es, befasst sich kaum mit Details aus Leben und Werk Reichs, deren Kenntnis man, zumindest für eine kritische Lektüre, mitbringen muss. Die Betrachtungen des Autors sind mehr genereller und eher philosophischer Natur. Von den zahlreichen Aspekten des Reich'schen Werkes, die er so beleuchtet, möchte ich zwei vorstellen, die mir am wichtigsten erscheinen. Am Schluss der Besprechung wird man,

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so hoffe ich, erkennen können, auf welch enge Weise sie miteinander zusammenhängen.

Der erste Aspekt betrifft die empirische Basis von Reichs Theorie.

Als Raditsa mit den Reich'schen Schriften bekannt wurde, so berichtet er, habe er den überwältigenden Eindruck gehabt, dass alles, was Reich sagte, "wahr sei oder wahr sein sollte." (S.18) Die allgemeine Zurückweisung von Reichs Werk sei für ihn eine ganz offensichtliche Abwehrreaktion gewesen, die er auf die gleiche Weise wie Reich verarbeitet habe, d.h. er habe sie als Folge der Unfähigkeit vieler Menschen angesehen, unerfreuliche Wahrheiten über sich selbst zur Kenntnis zu nehmen und ihr Leben in Eigenverantwortung zu führen. Reich sei ihm stets als der Denker erschienen, dem niemand gewachsen ist bzw. den noch niemand auf überzeugende Weise bewältigt hat. Das übrigens meine er noch immer. (S.18)

Eines aber habe sich bei ihm im Laufe der zwanzigjährigen Beschäftigung mit Reich geändert. Unter dem Druck der Erfahrung habe er angefangen, jenen hartnäckigen und misstrauischen Reaktionen auf Reichs Werk einen rationalen Kern zuzubilligen. Wieviel Feigheit und bisweilen gar Gemeinheit dabei auch im Spiel sei, verrieten diese doch auch Lebensklugheit und eine recht bewundernswerte Einsicht darein, dass alles, was Individuen für sich tun könnten, sie auch für sich selbst tun müssten, d.h. wohl: kein anderer für sie tun könnte. (S.19)

Dazu liesse sich ohne grosse Mühe etwas sagen, das Reichs Position richtigstellen würde, denn dieser hat ja gerade die "Rationalität des Irrationalen" zu einem seiner zentralen Themen gemacht und die Vergeblichkeit therapeutischer Bemühungen an anderen oft betont.

Interessanter aber erscheinen mir im Moment jene Erfahrungen Raditsas, die ihm seinen Glauben an die totale Wahrheit der Reich'schen Theorie geraubt haben.

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Leider geht er in diesem Zusammenhang darauf nicht ein. An ganz anderer Stelle des Buchs aber berichtet er von seinen Erfahrungen mit Leuten, die eine Reich'sche Therapie hinter sich haben. Bei ihnen habe er häufig bemerkt, dass sie die Therapie allzu sehr in die Länge zögen, sie irgendwie zum Lebensersatz machten. Obwohl sie eine gewisse Selbständigkeit erreichten, hingen sie oft mit einer starren Buchstabengläubigkeit und mystischen Ergebenheit an Reich und seinem Werk. Die Reich'schen Therapeuten, also auch meist Ex-Patienten, nimmt er von dieser Kritik nicht aus. Sie seien stets in Gefahr, zu engstirnigen Sektierern zu werden -- eine eher vorsichtige und höfliche Formulierung.

Raditsas Erörterungen zu diesem Thema sollen hier, obwohl nicht uninteressant, nicht referiert werden. Sie scheinen mir insgesamt, wie seine obige Argumentation bezüglich der Reaktionen auf Reichs Werk, nicht stichhaltig zu sein. Wer aber vermeiden konnte, in seiner Wertschätzung für Reich mit oder ohne Therapie selbst die von Raditsa beobachtete Haltung einzunehmen, wird dessen Skepsis bezüglich Therapie im Grossen und Ganzen teilen.

Welch grosse Skepsis hinsichtlich der Resultate der von ihm selbst entwickelten Therapie und der Therapierfreudigkeit seiner Schüler gerade Reich geäussert hat, beachtet Raditsa bezeichnenderweise nicht. Er macht ihm zum Vorwurf, er habe alle Menschen als Patienten angesehen. Wohlweislich unterlässt er es, die wichtige Unterscheidung zu treffen, ob er mit Patient einen zu behandelnden oder einen funktionsgestörten Menschen meint.

Aber ich möchte mich auch hier nicht auf Raditsas meiner Meinung nach unzulängliche Behandlung der Problematik konzentrieren, sondern eher einen Verdienst darin sehen, dass er eine Frage überhaupt aufgeworfen hat, die weder von Reich noch von seinen "Nachfolgern" die Beachtung erfahren hat, die sie eigentlich verdient:

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die nach der empirischen Basis der Reich'schen Theorie.

Diese Frage, die Raditsa übrigens nicht explizit gestellt hat, versetzt all jene Reichianer in arge Verlegenheit, die Reichs Lehre nicht bloss als Ideologie verzehren. Reich selbst, der sich ja wohlgemerkt stets als Naturwissenschaftler gesehen hat, hat den ungeheuren Druck sehr wohl gespürt, der von dieser Frage ausgeht. Seine Entwicklung zur Orgonomie kann man am ehesten unter diesem Gesichtspunkt verstehen. Und wie auch immer das zukünftige Urteil über die Orgonomie aussehen mag: man wird Reich stets dafür bewundern können, dass er diesem Druck sehr lange standgehalten hat. Er hat sich nicht mit dem alten Trostwort begnügen können, nach dem es bei grossen Dingen genügt, gewollt zu haben.

Um ein bisschen konkreter zu werden: Reich, "ein grossartiges Kind der Liebe Europas zur Rationalität, vielleicht gar ihr letztes", wie Raditsa treffend bemerkt, hatte relativ früh die aufklärerische Vision eines rationalen Menschen aus dem (inzwischen stillschweigend ersatzlos gestrichenen) traditionell geisteswissenschaftlichen Konzept in ein (in einem nicht traditionellen Sinne) naturwissenschaftliches weiterentwickelt. Eine empirische Basis dafür scheint er allem Anschein nach sehr wohl gehabt zu haben, allerdings ebenfalls eine von anderer Art als die sonst in den Naturwissenschaften geforderte.

Wenngleich auf die an dieser Stelle auftauchenden Probleme hier nicht eingegangen werden kann, so sei doch hervorgehoben, dass Reich, soweit ich es überblicke, für jede Kritik, die die Weiterentwicklung dieses Konzepts förderte, ausserordentlich dankbar war. Das allerdings -- und auch darin liegt viel Problematik verborgen -- kam nicht sehr häufig vor. Reich hatte eine Position bezogen, der gegenüber alle Lager, ob Wissenschaftler oder Politiker, ob Rechte, Linke oder Liberale, in entscheidenden Fragen eine Einheitsfront bildeten.

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Damit bin ich bereits beim zweiten Aspekt des Buches, den ich für hervorhebenswert halte: Raditsas Versuch, mit jener Haltung Reichs zurechtzukommen, die oft mit "Grössenwahn", "Monomanie", "Intoleranz", "Rechthaberei" u.ä. zu bezeichnen versucht wird.

Auch dies ist Neuland und ein äusserst komplexes Thema, das hier freilich nur andeutungsweise behandelt werden kann. Raditsa wirft Reich u.a. zwei Dinge vor: "Widerwille, seine politische Gleichheit mit anderen Menschen zu akzeptieren" und "...sich mit seinen Berufskollegen auseinanderzusetzen." (S.88)

Für den zweiten Vorwurf mag es genügen, auf die Jahre bis zu Reichs Ausschluss aus der IPV zu verweisen, um zu zeigen, dass es da geradezu umgekehrt war -- was im übrigen bei inhaltlicher Diskussion viel mehr zu Gunsten Reichs hergäbe als bloss einen "Freispruch".

Beim ersten Vorwurf unterlässt es Raditsa, die wichtige Unterscheidung zwischen den Bereichen Politik und Wissenschaft zu treffen, und übersieht zum anderen, dass Reich in einem Grenzgebiet operierte; dass er ja gerade Gebiete, über die es zuvor bloss "Meinungen" gab, über die so oder so irgendwie entschieden wurde, die also noch der Politik zugehörten, für die Wissenschaft erobert hat bzw. erobern wollte, vor allem aber für erobernswert hielt.

Ganz auf dieser Linie liegt Raditsas Behauptung über "Reichs Unfähigkeit, mit der Einsicht zu leben, dass andere Menschen ihre eigenen Gedanken denken." (S.71f) Oder die andere: "Er konnte sich bona-fide-Meinungsverschiedenheiten nicht vorstellen." (S.20) Das sind fast wörtlich die gleichen Vorwürfe, die Wilson Reich macht. Was ich in der Besprechung von dessen Buch (in diesem Heft) über die Pluralismus-Problematik gesagt habe, lässt sich auch auf Raditsas Vorwürfe anwenden. Vor allem scheint es mir wichtig, diese Vorwürfe, was ich hier nicht tun kann, an konkreten Beispielen inhaltlich zu diskutieren.

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Indem Raditsa diese Vorwürfe formal und pauschal erhebt und dabei ignoriert, wie denn die "eigenen Gedanken" der anderen beschaffen waren bzw. sind, und inwiefern deren Meinungen (und Handlungen!) mit "bona fide" korrekt zu charakterisieren waren bzw. sind, glaubt er auf bequemste Art einem zentralen Problem ausweichen zu können, das er -- und nicht nur er -- mit dem "Denker, dem niemand gewachsen ist", (S.18) hat.

Natürlich stört Raditsa wenig, dass es überhaupt monomane oder grössenwahnsinnige Menschen gibt. Und es geht ihm wohl auch kaum darum, dass ein längst Verstorbener wie Reich aufgrund dieser Eigenschaften sich selbst die Chancen genommen hat, von seinen Zeitgenossen gebührend für sein Werk geehrt zu werden.

Was Raditsa zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass Reichs Theorien auch mit Diplomatie, Charme und Engelsgeduld nicht an den Mann zu bringen sind; dass auch heute, wo Reich lange tot und seine Bücher weit verbreitet sind, die "Leute entweder auf ihn schwören oder ihn verdammen, aber nicht kritisch über ihn sprechen können." (S.17)

Raditsa versucht nun, diese kritische Haltung einzunehmen, denn er will zwar mit der Reich'schen Wahrheit leben, aber nicht wie ein fanatischer Sektierer. Sein Problem ist, wie man das kann, ohne selbst "monoman" usw. zu werden; denn die Reich'sche Theorie beinhaltet in ihrem Kern ja gerade etwas, was einem nicht mehr erlaubt, so gedankenlos wie er von "politischer Gleichheit", "eigenen Meinungen" und "bona fide" zu sprechen.

Beherrscht von zwangsmoralischem Pluralismus (vgl. Besprechung Wilson) und der gleich anfangs in einer vorbeugend beschwichtigenden Geste ausgedrückten Angst, evtl. "arrogant" zu wirken, findet Raditsa keinen Ausweg. Er stimmt in den Chor jener mit ein, die Reich sein Sündenregister wider den pluralistischen Geist vorhalten. Davon zeugt sein ganzes Buch, insbesondere aber die folgende Stelle:

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"Das wirkliche Problem mit Reichs Werk ist, dass etwas von dem, was er sagt, wahr ist... [und] was mit dieser Wahrheit zu tun ist, wie mit ihr zu leben ist." (S.75) Es ist mit Sicherheit keine bloss stilistische Unachtsamkeit, dass er, wohlgemerkt, nicht schrieb: Das wirkliche Problem mit Reichs Werk ist, dass ICH etwas von dem, was er sagt, für wahr halte... (und) was ICH mit dieser Wahrheit tun kann, wie ICH mit ihr leben kann.

In diesem Satz Raditsas konzentriert sich das ganze Elend der pluralistischen Ideologie, der er aufsitzt, und die er als Weltanschauung und nicht nur als vielleicht ganz nützliche Spielregel ansieht. Wieder hält er Wissenschaft und Politik nicht auseinander, geht aber auch nicht auf die Probleme ein, die gerade im Fall Reich dadurch entstehen, dass beide Bereiche so eng ineinander verfilzt sind.

Aus lauter Angst, er könne nicht genügend Respekt vor den "eigenen Gedanken" der anderen haben, setzt bei Raditsa in Hinblick auf den zu erwartenden Konsensus eine Denkblockade ein, die ihn gerade von der Entwicklung wirklich eigener Gedanken abhält. Die Gedanken, die hier gemeint sind -- und dadurch wird das Problem nicht gerade einfacher --, beziehen sich im Prinzip auf die Natur des Konsensus, der gegen Reichs "monomanen" Anspruch besteht.

Bezeichnenderweise spricht Raditsa nie aus, was eigentlich an Reichs Werk "wahr ist", inwiefern Reich "der Denker ist, dem niemand gewachsen ist". Dafür redet er unbekümmert und ohne jede Ironie von der -- "Rationalität der freien Gesellschaften." (S.91)

Dennoch: Raditsas Faszination ist noch immer vorhanden. Sie kann sich wohl kaum aus irgendeiner Einzelthese Reichs nähren, gar einer der eher belanglosen, die bei der zuständigen Fachkollegenschaft "mehrheitsfähig" wäre. Reich ist für Raditsa gewiss nicht nur Mosaiksteinschen in einem eklektizistischen Weltbild. Zudem ist er weder Therapie- noch Orgon-Fan. Da bleibt

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eigentlich nur noch die Möglichkeit, dass das wahre "Etwas" von dem, was Reich sagt, für Raditsa gerade jenes Konzept ist, das seine aus Angst vor eigener "Monomanie" vertretene pluralistische Ideologie prinzipiell überwunden hat. Eine verzwickte Sache! Wenn Raditsa jedenfalls meint, Reich habe "lebendigen Zweifel gefürchtet, den Zweifel, der auftaucht, wenn man erkennt, dass Menschen von Format und gutem Willen anders denken" (S.87), so scheint mir das ein mustergültiges Beispiel für die Projektion eigener Ängste zu sein.

Sicher, es ist nicht ganz einfach zu entscheiden, ob Reich monoman oder "monoman" war. Der quantitativ äusserst geringen empirischen Basis seines Konzepts vom "rationalen Menschen" steht eine quantitativ denkbar gewaltige seiner Gegner entgegen: die von etwa sechs Jahrtausenden Menschengeschichte. Vielleicht aber lässt sich diese auch anders interpretieren und auswerten als das bisher meist getan wurde.

"Mindfucking!" oder so ähnlich wird der Theorieverächter fluchen, auf seine "vibrations" pochen und überzeugt sein: "Reich hatte recht!" Soll er nur. Raditsas Buch jedenfalls ist nichts für ihn. Allen anderen kann ich es aus ähnlichen Gründen empfehlen wie das von Wilson.

B.A.L.

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W. Edward Mann and Edward Hoffman

W. Edward Mann and Edward Hoffman
THE MAN WHO DREAMED OF TOMORROW

A Conceptual Biography - Foreword by Eva Reich
J.P.Tarcher, Los Angeles
Distribution: Houghton Mifflin Company, Boston; 1980 295 pp, 12.95 $

"Wilhelm Reich war ein Mann, der seiner Zeit um Jahre voraus war." "Reich ist ohne Frage eine zentrale Figur unserer Epoche, aber freilich war er fehlbar und hat auf verschiedenen Gebieten Fehler gemacht... wir bringen eine ausgewogene Betrachtung dieses brillanten und unbeugsamen Denkers." "Er wird seinen Platz neben Einstein, Freud und Marx einnehmen."

Diese Häufung von Klischees, die dem Leser gleich auf den ersten Seiten zugemutet wird, ist zwar zum Glück nicht kennzeichnend für das ganze Buch. Das erste davon aber kehrt penetrant den ganzen Text hindurch immer wieder, ab und zu mit Zeitangaben versehen: zwei Dekaden, drei Dekaden... Insofern, aber auch nur insofern, ist der Titel des Buches treffend gewählt. Das Morgen, von dem Reich geträumt haben soll, sei, so versuchen die Autoren zu suggerieren, (fast? in Ansätzen?) schon da.

Um diese These zu stützen, scheuen sie vor der dubiosesten "Evidenz" nicht zurück. Vom Hite-Report bis zur Jogging-Mode, von Otto Mühls AAO bis zu Bhagwans Poona, nicht zu vergessen die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung: alles mögliche wissen sie zitierfreudig für ihre These auszuschlachten -- freilich auch seriösere Ereignisse.

Typisch für die Selektionswirkung des Filters, der ihnen bei der Informationsaufnahme hinderlich (oder bei der Informationsabgabe dienlich?) ist, ist folgendes

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Beispiel: Im Abschnitt "Reichs sexuelles Vermächtnis" (!) gehen sie relativ ausführlich, mit einem seitenlangen Zitat, auf die AAO ein, ohne jedoch auf Reichianische Kritik an dieser "überaus interessanten" Gruppe auch nur hinzuweisen. (z.B. in "Energy and Character", 8,1 und WRB 4/77).

Euphorisch reihen Mann und Hoffman Beispiel an Beispiel und behaupten stets aufs Neue, dies oder jenes habe Reich vorausgesehen, sei von ihm inspiriert, ginge auf ihn zurück usw. Trotz aller Ablehnung von offizieller Seite zöge Reich heute eine "weltweite Gefolgschaft" an. Es gäbe "intellektuell respektable" Reich-Zeitschriften in verschiedenen Ländern, und sogar Konferenzen über Reich würden abgehalten.

Natürlich sehen die Autoren auch die gegenwärtige Gesundheitsbewegung durch ihre in puncto Reich zwanghaft optimistische Brille. Im kanadischen Toronto, dem Wohnort von Mann, wo sich 1979 mehr als 4000 Menschen zu einer Art Gesundheitstag getroffen hatten, ist Reich, wie auch hierzulande bei solchen Gelegenheiten, allenfalls am Rande erwähnt worden. Doch die Autoren versichern: "Sein Geist war dort wirksam."

Keineswegs aber scheint mir der Geist Reichs bei der Abfassung dieses Buches wirksam gewesen zu sein, obwohl den Autoren abschnittsweise sehr gute Darstellungen von Teilen der Reich'schen Theorie gelungen sind. Reichs Optimismus war zwar auch, wie u.a. aus dem Briefwechsel mit Neill (vgl. in diesem Heft) hervorgeht, zeitweilig äusserst unrealistisch. Aber er ist für mich aus der biographischen Situation heraus verständlicher. Vor allem fehlte ihm eines: dieses bei Mann/Hoffman so störende Anbiederische an die vermeintlich oder tatsächlich Erfolgreichen. Unvorstellbar, dass Reich auf die Sex-Parolen eines Mühl oder Bhagwan hereingefallen wäre.

Eine Komponente dessen, was man den Geist Reichs nennen könnte, wenn nicht gar die wesentliche, ist doch

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gerade die Kraft, mit einer selbstgefundenen "Wahrheit" gegen eine auf dem jeweiligen Gebiet (quasi politisch) tonangebende Mehrheit zu stehen, ohne sich in Fanatismus treiben zu lassen.

Für den, der zwar von Reich fasziniert ist, diese Kraft aber beim Nachvollzug des Reich'schen Weges nicht aufbringen kann, bieten sich drei Auswege an: 1) Reich-Fan irgendeiner Spielart zu werden, als da sind: Therapie-Freak, Freudo-Marxist, DOR-Sucher usw. 2) Erst Reich undifferenziert Monomanie, Rechthaberei usw. zu unterstellen, wofür man, wenn man es auf formale und pauschale Art anstellt, unschwer Belege findet; dann den Sünder vor das Tribunal des heiligen Pluralismus stellen, wo alles nach Wunsch abläuft und einem obendrein die Illusion vermittelt wird, man sei ein kritischer Kopf. Das haben Wilson, Raditsa (vgl. Besprechungen in diesem Heft) und andere getan. 3) Die Realität zwanghaft optimistisch umdeuten, zur Vertuschung dieses Verfahrens einige Vorbehalte formulieren, sporadisch formal etwas Skepsis einstreuen, auch mal über Reichs "personality problems" plaudern usw. So kann man zwar viel über Reich reden, enthusiastisch und kritisch, sich aber dennoch stets auf Distanz halten. So in etwa scheinen mir Mann und Hoffman verfahren zu sein.

Die interpretatorische Grosszügigkeit, die die Autoren aufbringen müssen, um ihre These zu stützen, dass heute "Neuerer in fast jeder wissenschaftlichen Disziplin angefangen haben, Gedanken zu artikulieren, die denen Reichs sehr nahe kommen", scheint mir einer der wesentlichen Faktoren, die beim Leser den Eindruck der Oberflächlichkeit entstehen lassen können. Dieser Mangel an Tiefe wird auch nicht durch das Kapitel "Spirituelles Wiedererwachen" wettgemacht, das den pro-religiösen Tendenzen des späten Reich gewidmet ist.

Zu Reichs Orgon-Theorie äussern sich die Autoren erstaunlicherweise sehr vorsichtig. Für diese "Vision Reichs" von einer "unentdeckten, subtilen Energie"(!)

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sehen sie einen möglichen Platz als "wertvolle Komponente" in Rudolf Steiners Weltkonzept. Weniger vorsichtig hingegen äussern sie sich zum Thema "Reich und Religion" sowie über Parapsychologie und Okkultes.

Hier sprechen sie mit der Selbstsicherheit des Fachmanns, erheben sich sogar über den sonst so bewunderten Meister und schelten ihn. -- (Schliesslich will man ja auch mal "kritisch" sein). Auf diesem Gebiet sei sein "schwacher Punkt" gewesen. Er habe einen "fast obsessiven Glauben an die Nutzlosigkeit des Wissensschatzes der mystischen und mythologischen Traditionen" gehabt.

Ursprünglich habe Reich "eine recht zynische, marxistische Sicht der Religion gehabt"; als aber sein Denken "heranreifte", habe er "klarer zwischen autoritärer, lebensfeindlicher Religion und dem zu differenzieren begonnen, was er echte bzw. natürliche Spiritualität nannte." Leider aber sei er nicht reif genug geworden. "Hätte er lange genug gelebt...", seufzen die Autoren, er hätte all das noch zu schätzen gelernt: das Okkulte und das Parapsychologische, die Kabbalah und die orientalischen Lehren, denn... "intellektuell ist er immer beweglich geblieben."

Leider nun ist es so, dass sich in Reichs Schriften, beginnend in den 40er Jahren, tatsächlich Stellen finden lassen, die Mann und Hoffman für eine Interpretation in ihrem Sinne verwenden konnten. Das reicht von Reichs idealisierenden Spekulationen zu matriarchalischen Religionen über die immer häufiger werdenden "kosmischen" Betrachtungen bis zu folgender Aussage Reichs im Interview mit Kurt R. Eissler:

"Während Freud im Judaismus befangen war, war ich davon frei. Meine Sympathien gehören eher der christlichen Geisteswelt und der katholischen Sphäre. Nicht, dass ich sie gutheisse oder daran glaube. Ich glaube nicht an diese Dinge. Aber ich verstehe sie gut. Die Christen haben die tiefste Perspektive, die kosmische."

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Diese merkwürdige Tendenz zum "Kosmischen" in sich scheint Reich allerdings schon um etwa 1940 herum gefühlt zu haben, als er zu Beginn seiner zweiten "Funktion des Orgasmus" davon spricht, es sei "nützlich, wissenschaftliche Biographien in jungen Jahren zu schreiben. (...) Auch ich könnte nachgeben und ableugnen, was in jungen Kampfjahren ehrliche, wissenschaftliche Überzeugung war."

Nun, abgeleugnet hat er seine wesentlichen Erkenntnisse zwar nie. Aber durch Setzen neuer Schwerpunkte hat er es manchem leicht gemacht, ihren Stellenwert zu mindern, sie zu relativieren. Eine Einschätzung seines Werkes wurde dadurch nicht gerade erleichtert.

Reich wurde bisher in vielerlei Hinsicht ausgeschlachtet: als Freudo-Marxist, als Erfinder einer Wundertherapie, als über- und antiwissenschaftlicher Guru, als "kosmischer Orgon-Ingenieur", als Anwalt "guter, lebensfreundlicher Religion" u.a. Seine Schriften lassen das alles offensichtlich zu. In einigen davon (hauptsächlich "Rede an den Kleinen Mann" und "Christusmord") versucht er sich leidenschaftlich gegen diesen Missbrauch seines Werkes durch den "Kleinen Mann", der "dem Wesentlichen stets ausweiche", zu wehren -- vergeblich, wie man sieht.

*

Erster Nachsatz:

Ich habe mich beim Lesen des Buches von Mann und Hoffman gewundert, warum die Autoren zur Stützung ihrer These über Reichs zunehmende Aufgeschlossenheit gegenüber Religion nicht seine oben zitierte Aussage über den Katholizismus mit herangezogen haben, zumal es nicht viele derart geeignete Zitate gibt.

Der vermutliche Grund dafür scheint mir all der zur Schau gestellten "kosmischen Religiosität" der Autoren den ohnehin falschen Glanz zu nehmen: auf der Klappe von Manns früherem Buch "Orgone, Reich, and Eros" steht nänlich, er sei ehemaliger anglikanischer Priester.

/148/

Zweiter Nachsatz:

Diese Besprechung mag manchem, der dieses ja "Reich-freundliche" Buch kennt, als zu kritisch oder zu unausgewogen erscheinen. Ich möchte deshalb, wie schon oben, ausdrücklich noch einmal betonen, dass es den Autoren gelungen ist, Teile der Reich'schen Theorie sehr gut darzustellen.

Das aber scheint mir mittlerweile, wo Reichs wesentliche Werke und gute Gesamtdarstellungen leicht zugänglich sind, nicht mehr so der Herausstellung wert wie jene Aspekte des Buches, die ich kritisiert habe.

B.A.L.

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