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Zur Vorgeschichte des LSR-Projekts
Wilhelm-Reich-Blätter


Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 5,6/79, S.123-137

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Über Erich Fromm

von Bernd A. Laska

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Erich Fromm ist auch hierzulande, insbesondere in den letzten Jahren, zu einem aussergewöhnlich erfolgreichen Autor geworden. In den Bestsellerlisten des SPIEGEL findet man ihn seit langem regelmässig, zeitweilig sogar mit zwei Titeln, unter den ersten Zehn -- ein Verkaufserfolg, dessen sich nur wenige Autoren rühmen können. Dies, in Verbindung mit den Themen, die er zu behandeln pflegt, soll Anlass genug sein, in dieser Zeitschrift seine "Bezogenheit" zu Reich zu untersuchen, die grösser ist, als man es vielleicht aufgrund der Lektüre seiner neueren Werke vermuten mag.

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In von Wilhelm Reich herausgegebenen Zeitschriften erschienen 3 Rezensionen von Büchern Erich Fromms:
Karl Teschitz: Autorität und Familie (1936).
Harry Obermayer: Escape from Freedom (1941). Dt.: Die Furcht vor der Freiheit (1945)
Myron Sharaf: Man for Himself (1947).Dt.: Psychoanalyse und Ethik (1954)

Erich Fromm, Jahrgang 1900, stammt aus einer jüdisch-religiösen Familie, aus der eine Reihe von Rabbinern hervorgegangen ist. Diese Laufbahn wollte auch er ursprünglich einschlagen. In Frankfurt aufgewachsen, studierte er dann aber dort Philosophie, Soziologie und Psychologie und promovierte 1924 in Heidelberg zum Doktor der Philosophie. Ende der Zwanziger Jahre ging er nach Berlin und erhielt dort bei dem "Laienanalytiker" Hanns Sachs eine psychoanalytische Ausbildung.

Als Reich 1930 nach Berlin kam, bildete sich um ihn bald ein kleiner Zirkel marxistisch orientierter Analytiker, zu denen auch Fromm gehörte. Reich erinnerte sich: "Er publizierte um diese Zeit seine Analyse des Christusdogmas, eine ausserordentlich wertvolle Arbeit. Doch sie fand weder an die sexualökonomischen Fragen noch an die aktuelle Politik Anschluss. Fromm akzeptierte in einem ausführlichen Gespräch, das wir bald hatten, meine sexualpolitische Deutung. Es leuchtete ihm ein, dass einzig die sexuelle Energie zur Aufhellung massenpsychologischer Dynamik hinreichte." (1)

Fromm ging 1931 zurück nach Frankfurt, wo er sich

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der Gruppe um Max Horkheimer, der späteren "Frankfurter Schule", annäherte. Als 1932 -- finanziell gut abgesichert -- die "Zeitschrift für Sozialforschung" begründet wurde, wurde Fromm für einige Jahre ihr ständiger Mitarbeiter. Einer seiner ersten Beiträge war eine zustimmende Rezension von Reichs "Einbruch der Sexualmoral". Später aber wunderte sich Reich, dass Fromm "es zuwege brachte, in seinen Publikationen über Autorität und Familie, Angst vor Freiheit etc. das Sexualleben der Menschenmassen und seine Beziehung zur Freiheitsangst und Autoritätssucht komplett zu unterschlagen. Ich habe dieses Vorgehen nie begreifen können, da ich an der grundsätzlich ehrlichen Einstellung Fromms zu zweifeln keinen Grund hatte. Aber die Sexualverneinung im sozialen und persönlichen Leben spielt manchen Trick aus, der rationalem Begreifen unzugänglich ist." (2)

Fromms nächste grössere Arbeit war der sozialpsychologische Teil der von Horkheimer 1936 im Exil herausgegebenen Studie "Autorität und Gesellschaft", in der Fromm "mit bewundernswertem Geschick das ganze Problem der gesellschaftlich bedingten Sexualunterdrückung umgeht" -- wie es in einer Rezension in Reichs Zeitschrift heisst. (3)

Fromm, ein sog. Laienanalytiker, der Psychoanalyse bisher hauptsächlich literarisch-philosophisch und, im Gegensatz zum Mediziner Reich, kaum klinisch betrieben hatte, hatte also für ein paar Jahre eine intellektuelle Heimat gefunden -- als Buchgelehrter unter Buchgelehrten. Die Frankfurter Schule hat von Reichs Arbeiten nur am Rande Notiz genommen. Erst aus der zweiten (oder dritten?) Generation der Kritischen Theoretiker hat es vereinzelt Kritik an Reich gegeben, die zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Zeitschrift besprochen werden soll. Stärke und Schwäche der Kritischen Theorie zeigen sich prägnant in Adornos Satz: "Indem der Geheilte dem irren Ganzen sich annähert, wird er erst recht krank." Auf sehr abstrakten Ebenen lässt sich mit solcher Erkenntnis und ihren Variatio-

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nen vorzüglich und imposant operieren. Aller Aufwand an dialektischer Denkschärfe, alle Zelebration des Zerebralen kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kritische Theorie an ihrer Basis krankt, weil sie einem hilflosen Wertrelativismus verfallen ist. Fragen, was denn nun eigentlich nach welchen Kriterien "irr" ist am "Ganzen" und wie jemand als "krank" zu klassifizieren wäre, pflegt sie wortgewandt zu umgehen. Solange sie abstrakt bleibt, erscheint sie manchem grossartig und überlegen. Doch konkret, sozusagen als Fundament für den kunstvollen Überbau, werden dann so pflaumenweiche Forderungen wie die nach "menschlichen Beziehungen", nach einer "besseren Gesellschaft", nach "vernünftigerer Organisation" genannt oder des Weisen Horkheimers "Sehnsucht nach dem ganz Anderen".

Fromm, dessen Neigung zu dogmatischem Moralismus mit den Jahren immer deutlicher hervortrat, entzweite sich Ende der Dreissiger Jahre von den Frankfurtern, wahrscheinlich wegen deren Wertrelativismus. Von da an schrieb er sozusagen auf eigene Faust, aber nur scheinbar, wie wir noch sehen werden. Denn in zugespitzter Formulierung könnte man seine nächsten Bücher getrost als Reich-Plagiate bezeichnen -- allerdings entsexualisiert, ethisiert und dogmatisiert, kurz: theologisiert.

Über "Escape from Freedom" und "Man for Himself" sind in von Reich herausgegebenen Zeitschriften Besprechungen veröffentlicht worden, (4) deren Übersetzungen hier, stellenweise leicht gekürzt, wiedergegeben werden sollen.

Das erste Buch wurde von Harry Obermayer, Tel Awiw, besprochen: (5)

"Am auffallendsten an Fromms soziologischer und charakterologischer Analyse der menschlichen Furcht vor der Freiheit ist die Art, in der er sich sexualökonomische Erkenntnisse zu eigen macht, ohne deren Herkunft zu nennen.

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Im Gegensatz zur Sexualökonomie, die die menschliche Charakterstruktur als Ergebnis eines Konflikts zwischen sozialen und biologischen Funktionen betrachtet, ist Fromms "Psychologie zwischenmenschlicher Beziehungen" eine Art Sozialphilosophie: 'Der Mensch ist primär ein soziales Wesen' -- 'Das Problem der Psychologie ist das der besonderen Art der Bezogenheit des Individuums zur Welt und nicht das der Befriedigung oder Frustration dieses oder jenes Triebbedürfnisses per se' (Hervorh. HO). Kein Wunder also, wenn seine 'dynamische Psychologie' immer wieder metaphysischer Ergänzungen bedarf: wie zum Selbsterhaltungstrieb dessen Gegenspieler, das 'Bedürfnis, nicht allein zu sein'; oder die 'primären Bindungen', die angeblich am Anfang sowohl der sozialen wie auch der individuellen Entwicklung stehen und Sicherheit und Einheit mit Natur und Gesellschaft garantieren. [...] Die historische und individuelle Entwicklung wird 'Individuation' genannt. Sie besteht in einer ... Emanzipation von den primären Bindungen und führt zu immer grösserer Scheinfreiheit ('Freiheit von' statt 'Freiheit zu'). Ein dialektischer Aspekt dieser Individuation ist die wachsende Unsicherheit und Machtlosigkeit des Menschen. Den anderen -- die Wiederherstellung der gestörten Harmonie, die Bezogenheit zur Welt, die sich am deutlichsten in der Liebe und in produktiver Arbeit ausdrückt -- muss Fromm postulieren. Das aber wurde auch schon von allen Moralphilosophen vor ihm getan.

Fromms 'primäre Bindungen' sind eine unglückliche Konstruktion, selbst wenn sie nur metaphorisch gemeint wären. Seine Exkurse ins Mittelalter und in die kapitalistische Epoche zeigen, dass er mit den Sicherheit gebenden primären Bindungen in Wirklichkeit die ökonomischen und sozialen Einschränkungen früherer Zeiten meint. Mit der Entwicklung des Kapitalismus verschwinden sie, und die soziale Individuation beginnt. Von Sicherheit in den früheren Phasen der menschlichen Entwicklung zu sprechen ist

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jedoch eine unhaltbare Sache. Andererseits kann Fromm nicht erklären, welche anderen Ursachen es für die primären Bindungen geben mag, die hier besonders stark sind. Bedeuten sie 'Einheit mit Natur, Sippe oder Kirche'? Bezeichnen sie das, was beim Primitiven Naturgefühl und beim modernen Menschen ozeanisches Gefühl genannt wird? In jedem Fall hat Fromm die Tatsachen ausser Acht gelassen, die die Grundlage dieser Gefühle bilden und von Reich in seiner Orgasmustheorie beschrieben worden sind. Der Prozess der Individuation wirkt am stärksten beim Kind. Der Psychoanalytiker Fromm geräte aber in arge Verlegenheit, sollte er erklären, warum ein Kind, das gerade laufen gelernt hat, sich nach dem Strampeln in der Krippe zurücksehnen und warum es sich machtlos fühlen sollte (Verlust einer 'primären Bindung')...

Man fragt sich, wo der energetische Gesichtspunkt in dieser 'dynamischen Psychologie' geblieben ist und welche psychischen Entwicklungsgesetze wirken sollen. Sicher, sie hat ihr eigenes, besonderes Gesetz, das der 'dynamischen Adaption', das zwischen dem Selbsterhaltungstrieb (welche Form dieser auch immer in einer gegebenen Gesellschaft annehmen mag) und dem 'Bedürfnis, nicht allein zu sein' vermittelt und so zur sozialen Bildung einer Charakterstruktur führt. Dies geschieht entweder im Sinne von 'Fluchtmechanismen' (wie bei masochistischer Unterwürfigkeit oder sadistischer Destruktivität) oder es führt (unter entsprechender Anleitung?) zu Bezogenheit zur Welt, spontaner Arbeit usw. 'Charakter ist im dynamischen Sinn der analytischen Psychologie die besondere Form, zu der in einer gegebenen Gesellschaft die menschliche Energie durch dynamische Anpassung der menschlichen Bedürfnisse an bestimmte Existenzweisen gestaltet wird.' 'Menschliche Energie' jedoch ist bei Fromm nur eine leere Phrase; sie ist bei ihm nicht einmal, wie einst in der Psychoanalyse, eine ernsthafte Hypothese... Über die 'wahre' Natur des Menschen, über die 'menschlichen Bedürfnisse' schreibt Fromm, sie

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bestünden nicht in 'bestimmten Bedürfnissen, wie Hunger, Durst, Sexualität, die allen Menschen gemein sind', sondern in 'jenen Trieben, die die Unterschiede in den menschlichen Charakteren ausmachen, wie Liebe und Hass, Machtgier und Unterwürfigkeit, Genuss an sinnlichen Freuden und Angst davor, die alle Produkte des sozialen Prozesses sind. Sowohl die allerschönsten wie auch die scheusslichsten Neigungen des Menschen sind nicht Teil einer fixierten, biologisch gegebenen menschlichen Natur, sondern Ergebnis des sozialen Prozesses, der den Menschen schuf. Mit anderen Worten: die Gesellschaft hat nicht nur unterdrückende Funktion -- obwohl sie diese auch hat -- sondern auch eine kreative Funktion.'

Was Fromm, nach seiner Definition von Charakter, 'menschliche Bedürfnisse' nennt, sind schlicht und einfach die Symptome des Charakterpanzers. Sie stellen die vegetative Energie in ihrer besonderen sozialen Funktion dar, d.h. in der Abwehrfunktion gegen natürliche Bedürfnisse und in der Anpassung an die autoritäre Gesellschaft... Fromm sagt, die Charakterstruktur ('menschliche Bedürfnisse') würde durch die Umwelt geformt (Selbsterhaltungstrieb plus Bedürfnis, nicht allein zu sein). Ein solches Konzept bedarf jedoch gar nicht der Einführung einer 'dynamischen Adaption': jede behavioristische Schule könnte dasselbe sagen. Die wirkliche Bedeutung der 'dynamischen Adaption' besteht jedoch darin, dass sie die Tatsache verschleiern soll, dass in der Charakterstruktur die sozialen Verhältnisse reproduziert werden.

Dem Soziologen hat Fromm somit wenig zu bieten. Seine Formulierungen sind, wie es Engels einmal in Verbindung mit der Erklärung von Ideologien ausdrückte, wie ein algebraisches Problem mit zwei bekannten Grössen.

[Theodore P. Wolfe, Redakteur des IJSO, erläutert hierzu in einer editorischen Fussnote:
Das heisst, er erklärt einen Cha-

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rakterzug mit einer Charakterhaltung, so als wenn man sagen würde, jemand sei so bösartig, weil er so gemein sei, oder dass die Leute Hitler gefolgt seien, weil sie eine unterwürfige Haltung hatten. Ein solches Erklären der einen Ideologie mit einer anderen ist ein Grundfehler, der einem wissenschaftlichen Psychologen oder Soziologen nicht unterlaufen sollte... ]

[...] Fromm, der Reichs 'Charakteranalyse' kennt und sie auch beiläufig 'erwähnt', versteht es hervorragend, die Bedeutung der darin enthaltenen Erkenntnisse aufzuheben... Fromm ist sich zwar der menschlichen Furcht vor der Freiheit bewusst und beschreibt sie auch treffend, aber wenn er affektive Prozesse zu erklären versucht, spricht er ständig in allegorischen Wendungen... Heute, wo die Orgasmustheorie zwanzig Jahre alt ist, beeindruckt Fromms psycho-soziologische Interpretation der Sexualität als das 'Bedürfnis, nicht allein zu sein' einfach nur als anachronistisch."

(Übers.: BAL)

Die Besprechung des zweitgenannten Buches von Fromm schrieb Myron Sharaf; (6) sie ist von Reich selbst als sehr gelungen bezeichnet worden. (7)

"[...] Das Buch 'Psychoanalyse und Ethik' würde man kaum besprechen, gäbe es nicht diese beiden Tatsachen:
1) 1947 ist Fromm mehr denn je von Reich beeinflusst, allerdings ohne ihn zu erwähnen, und
2) 'Psychoanalyse und Ethik' hat einen aussergewöhnlichen Erfolg in akademischen Kreisen, einen Erfolg, der wohl in nicht geringem Masse darauf zurückzuführen ist, dass Fromm Aspekte von Reichs Arbeiten in einer verwässerten, mundgerechten Weise darstellt...

Ein Punkt, den Fromm immer wieder betont, ist der, dass im psychoanalytischen Denken ein Konzept der gesunden Persönlichkeit fehlt. Fromm schreibt: 'Freud und seine Schüler gaben eine glänzende Analyse des

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neurotischen Charakters... Aber der Charakter der normalen, gereiften und gesunden Persönlichkeit wurde kaum beachtet. Dieser Charakter, von Freud als genitaler Charakter bezeichnet, blieb ein vages und abstraktes Gebilde.' (S. 98) Es ist nun aber eine bemerkenswerte Unterlassungssünde, wenn Fromm nicht erwähnt, dass gerade dies eine der grossen Lücken der Psychoanalyse war, die zwanzig Jahre zuvor die Aufmerksamkeit Reichs auf sich gezogen hatte und von ihm seither im grossen und ganzen gefüllt werden konnte. (Anm. Sharaf: Im obigen Zitat schreibt Fromm Freud mehr zu, als dieser rechtens beanspruchen könnte. Freud schrieb von einem genitalen Entwicklungsstadium, der Begriff 'genitaler Charakter' aber sowie seine Beschreibung gehen auf Reich zurück.)

Indem Reich an Freuds ursprünglicher Betonung der sexuellen Basis des Charakters festhielt, zeigte er in 'Die Funktion des Orgasmus' (1927) und noch ausführlicher in 'Charakteranalyse' (1933), dass das, was im wesentlichen das genitale vom neurotischen Individuum unterscheidet, dessen Fähigkeit zu voller Befriedigung in der sexuellen Umarmung ist. Spontane Liebe und Arbeit, direkter Kontakt mit Natur und Menschen wurden als inhärente Eigenschaften des genitalen Menschen gesehen, die auf seiner Fähigkeit beruhen, sich den vegetativen Strömungen und insbesondere dem Höhepunkt der orgastischen Lust ohne Hemmung hinzugeben.

Es ist interessant und enthüllend, wie Fromm ... diese 'Lücke' (in der Psychoanalyse) zu füllen versucht. Zunächst setzt er die Bedeutung der sexuellen Basis herab. Er beschreibt nicht, was gesunde Sexualität sei, ausser dass er sagt, sie habe 'ihren Ursprung im Überfluss und in der Freiheit und sei ein Ausdruck sensueller und emotionaler Produktivität' (S. 204), was einen kaum weiterbringt... Er sagt, dass sein gesunder 'produktiver Charakter' keine wirkliche, sondern nur eine 'symbolische' Verbindung mit dem

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genitalen Charakter habe, denn: "die geschlechtliche Reife befähigt den Menschen zur natürlichen Zeugung; durch die Vereinigung von Ei und Sperma wird neues Leben geschaffen." (S. 99)

Das ist nun wirklich nicht riskant zu sagen; was den produktiven Charakter auszeichnet, ist nicht orgastische Potenz, sondern -- symbolisch -- Reproduktion und -- mehr im eigentlichen Sinn -- Produktion. Je mehr sich Fromm von der sexuellen Grundlage des gesunden Charakters entfernt, desto mehr muss er dessen Eigenschaften -- produktive Arbeit und Liebe, Spontaneität, 'Entfaltung von Potentialitäten' usw. -- in Begriffen ethischer Ideale beschreiben; und desto weniger kann er sie als organische Merkmale einer Person ansehen, die mit ihrer Bioenergie in vollem Kontakt ist. Anstelle einer konkreten Beschreibung von gesundem sexuellen und sonstigen Funktionieren, wie man sie bei Reich findet, erhält man von Fromm eine genaue Beschreibung von 'Produktivität'. Wie seine früheren Beschreibungen von 'Autorität' und 'Furcht vor der Freiheit', so ist auch diese phänomenologisch oft hervorragend, aber so vage, dass wohl nur wenige anderer Ansicht sein könnten; zB:

'Die produktive Orientierung bezieht sich auf eine fundamentale Verhaltensweise, nämlich darauf, wie der Mensch sich in allen Bereichen menschlicher Erfahrung in Beziehung setzt... Produktivität ist die Geschicklichkeit des Menschen, seine Fähigkeiten zu gebrauchen und die in ihm schlummernden Möglichkeiten zu verwirklichen. Wenn wir sagen, er muss seine Fähigkeiten gebrauchen, so heisst dies, dass er frei sein und von niemandem abhängen darf, der ihn und seine Fähigkeiten beherrscht. Es bedeutet ferner, dass er von Vernunft geleitet ist... Produktivität bedeutet, dass der Mensch sich selbst als Verkörperung seiner Fähigkeiten und als Handelnder erlebt; dass er eins mit seinen Fähigkeiten ist, und dass sie nicht vor ihm verborgen und ihm entfremdet sind.' (S. 99 f)

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Ein anderes Beispiel für Fromms Umgang mit der Orgonomie haben wir in seiner Diskussion von Freuds 'dualistischem Konzept' (S. 231), das den Eros dem Todestrieb gegenüberstellt. Bei seiner Zurückweisung der Todestriebtheorie unterscheidet Fromm zunächst zwischen 'irrationalem' oder 'charakterbedingtem' Hass und 'rationalem' Hass, der eine 'wichtige biologische Funktion' (S. 232) hat. Fromm erwähnt nicht, dass Reich diese beiden Arten von Hass bereits in 'Die Funktion des Orgasmus' (1942, dt. 1969) unterschieden hat, wo er auch zeigt, welchen gewaltigen Fehler die Psychoanalyse begangen hat, indem sie wahl- und kritiklos Aggression und Destruktion in einen Topf geworfen hat. Fromm fährt fort und fragt: 'Ist der irrationale Hass biologisch gegeben?' Nein, und schon gar nicht, wie Freud es sah. Denn: 'Allem Anschein nach verhält sich der Grad des Zerstörungstriebes proportional zu den Blockierungen der menschlichen Entfaltung... Wird dem eigentlichen Lebenszweck, nämlich zu wachsen und zu leben, entgegengearbeitet, dann macht die gehemmte Energie einen Umwandlungsprozess durch und bildet sich in lebenszerstörende Energie um. Der Destruktionstrieb ist die Folge eines ungelebten Lebens. Die individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen, die eine solche Blockierung der lebensfördernden Energie bewirken, bringen den Destruktionstrieb hervor, der seinerseits zur Quelle der verschiedenen Manifestationen des Bösen wird.' (S. 234 f)

Das ist schier unglaublich. Fromm hat fast vollständig die Widerlegung des Konzepts der primären biologischen Destruktivität von Reich übernommen, in dem dieser gezeigt hat, dass die irrationalen destruktiven Impulse Folge allgemeiner und speziell sexueller Frustration sind, dass der Grundkonflikt somit nicht zwischen Eros und Todestrieb besteht, sondern zwischen Bedürfnis und versagender Aussenwelt. Schon 1927 hatte Reich geschrieben: 'Die Stärke des destruktiven Impulses hängt vom Zustand der sexuellen

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Befriedigung und dem Ausmass der somatischen Libidostauung ab...' Fromm hat in seiner fast fotografisch genauen Kopie von Reichs Widerlegung aber typischerweise einen Punkt ausgespart: Die Bedeutung der sexuellen Frustration als Ursache sadistischer Destruktivität.

Doch damit nicht genug. Fromm fährt fort und spricht von zwei Arten von 'Potentialitäten': eine lebensbejahende 'primäre Potentialität, die sich verwirklicht, wenn die entsprechenden Bedingungen gegeben sind'; und eine destruktive 'sekundäre Potentialität, die sich verwirklicht, sofern die Bedingungen im Gegensatz zu den existenziellen Bedürfnissen stehen.' (S. 236) Wiederum erwähnt Fromm nicht, dass Reich bereits 1936 klar zwischen primären und sekundären Trieben unterschieden hat, so wie Fromm es jetzt tut -- nur lieferte Reich auch die biologische Fundierung dazu. Für Fromms Vorgehen ist es symptomatisch, dass er das Wort 'Trieb' in das vagere 'Potentialität' verwandelte. Zudem gehören für ihn, den Philosophen, primäre und sekundäre Potentialitäten von vornherein 'zum Wesen eines Organismus' (S. 236). Die Orgonomie andererseits zeigt insbesondere, wie lebensfeindliche soziale Bedingungen die Struktur des Individuums ändern, indem sie einen starren Charakter- und Muskelpanzer erzeugen, durch den die primären, sozialen Impulse, statt frei fliessen zu können, blockiert und in destruktive, asoziale gewandelt werden.

Im Zusammenhang mit diesem letzten Punkt ist es interessant, dass Fromm trotz seiner Betonung der Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Charaktertheorie ... Reichs Entdeckung des Charakter- und Muskelpanzers sowie der therapeutischen Techniken zu dessen Auflösung mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen entwickelt er seine eigene Charakterologie, die alles auf den Kopf stellt, indem sie den Charakter als bestimmend für die Sexualität bezeichnet statt

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umgekehrt. Seine Charaktertypen sind mit erstaunlicher Oberflächlichkeit konzipiert...

Aber es ist nicht seine Charakterologie, sondern seine Unterscheidung zwischen primären und sekundären Potentialitäten, die den Schwerpunkt seines Buches bildet. Denn 'das Ziel der humanistischen Ethik ist nicht die Verdrängung des Bösen im Menschen (das von der schädigenden Wirkung der autoritären Gesinnung begünstigt wird), sondern der produktive Gebrauch der dem Menschen angeborenen primären Möglichkeiten. Tugend entspricht dem Grad der Produktivität, den ein Mensch erreicht hat. Wenn einer Gesellschaft daran gelegen ist, die Menschen tugendhaft zu machen, dann muss ihr daran gelegen sein, die Menschen produktiv zu machen, und infolgedessen auch daran, die Voraussetzungen für die Entfaltung der Produktivität zu schaffen. Die erste und wichtigste dieser Voraussetzungen besteht darin, dass jede soziale und politische Aktivität die Entfaltung des einzelnen Menschen zum Ziel haben muss..." (S. 247 f)

Wie richtig! Und wie vorsichtig formuliert! Denn weil Fromm meint, dass 'Freud die Bedeutung der sexuellen Befriedigung überschätzte' (S. 237), braucht er nicht konkret zu sagen, dass die Gesellschaft, wenn sie sich vom sekundären Verhalten befreien und den Boden für zukünftige 'Produktivität' bereiten will, unzweideutig und praktisch das Sexualleben ihrer Kinder und Jugendlichen bejahen muss. Eine solche Formulierung würde Fromm allerdings viel von seiner Popularität kosten. Denn während durch die Befürwortung 'der Entfaltung und des Wachstums jedes Menschen' sich niemand angegriffen fühlt, werden sehr viele sehr wütend, wenn dasselbe wirksam als praktische Forderung nach eindeutiger Sexualbejahung formuliert wird. Fromm spricht das starke Verlangen der Menschen nach einem optimistischen, naturalistischen Weltbild an, ohne sie aber mit dessen angsteinflössendem Hauptbestandteil zu konfron-

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tieren, ohne den allerdings eine solche Sicht dann sinnlos wird. Er bleibt der weise, harmonische und allseits beliebte Philosoph, der sich auf die brennendsten Problemen der menschlichen Gattung lieber nicht zu sehr einlässt.

Als unvermeidlichen Preis für die Behaglichkeit seiner Position hat er jedoch die Dürftigkeit seiner wissenschaftlichen Leistung in Kauf zu nehmen. Weil er das Konzept der orgastischen Potenz unterschlägt, erreicht er weder die von ihm beabsichtigte, wirkliche Beschreibung der reifen genitalen Person noch ein nicht-relativistisches, nicht-metaphysisches Gesundheitskriterium. Weil er die Sexualität als Hauptdeterminante des Charakters unterschlägt, kann er nicht bis zur Entdeckung des Charakter- und Muskelpanzers vordringen. Weil er die Rolle der Sexualunterdrückung unterschlägt, kann er weder eine kompromisslose Sozialkritik noch eine eindeutige Erziehungstheorie entwickeln. Weil er sein Konzept von einer 'Lebensenergie' vage und asexuell hält, kann er der Logik nicht folgen, die zur Entdeckung der Orgonenergie geführt hat. Die Hauptprobleme, die Fromm berührt -- also gesunde Persönlichkeit, wissenschaftliche Charaktertheorie, naturalistische Ethik und 'Lebensenergie' -- sind in Wirklichkeit nicht von ihm, sondern durch die Orgonomie gelöst worden. Man muss sich fragen, warum Fromm diese kompromisslose wissenschaftliche Forschung einerseits nicht erwähnt, sie aber andererseits selbst benutzt -- nachdem er ihre biologischen, konkreten und revolutionären Elemente herausgefiltert hat."

(Übers.: BAL)

Weitere Bücher, die Fromm später geschrieben hat, zu analysieren, wäre nicht mehr sehr ergiebig. Parallel zu seinem wachsenden Ruhm wäre allenfalls ein Nachlassen seiner intellektuellen Kraft zu konstatieren. Die Richtung, in der die Antwort auf die Frage in Sharafs letztem Satz wahrscheinlich zu suchen ist,

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hat Reich in seiner vorn zitierten Bemerkung über den 'ehrlichen' Fromm wohl zutreffend bezeichnet. Abschliessend sei nur noch eine der wenigen Stellen zitiert, in denen der späte Fromm sich über Reich äussert. Sie demonstriert sowohl seine Inkompetenz in Fragen der Sexualität als auch seine Unfähigkeit, Reichs Position zu verstehen:

"Die meisten Psychoanalytiker kamen aus der gleichen, städtischen, intellektuellen Mittelschicht, der auch die meisten ihrer Patienten entstammten. Kaum mehr als eine Handvoll von Psychoanalytikern hatte radikale politische Ansichten. Der bekannteste von ihnen war Wilhelm Reich, der glaubte, dass die Hemmung der Sexualität einen anti-revolutionären Charakter erzeuge und dass andererseits sexuelle Freiheit revolutionäre Charaktere hervorbringen würde. Natürlich hatte Reich damit völlig unrecht, wie die spätere Entwicklung zeigte. Diese sexuelle Befreiung gehörte weitgehend zur immer stärkeren Ausdehnung der Konsumhaltung. Wenn man den Menschen beibrachte, mehr und mehr Geld auszugeben, anstatt, wie im neunzehnten Jahrhundert, zu sparen -- wenn man sie also in Konsumenten verwandelte, dann musste man auch den sexuellen Konsum nicht nur zulassen, sondern geradezu fördern. Er ist schliesslich die einfachste und billigste Form [Logik!? BAL] des Konsums. Reich wurde dadurch irregeführt, dass zu seiner Zeit die Konservativen eine strenge sexuelle Moral vertraten, und er schloss daraus, dass sexuelle Freiheit zu einer anti-konservativen, revolutionären Einstellung führen würde. Die historische Entwicklung hat aber gezeigt, dass die sexuelle Befreiung der Entwicklung der menschlichen Konsumhaltung diente und -- wenn überhaupt -- den politischen Radikalismus schwächte. Leider verstand und kannte Reich wenig von Marx. Man könnte ihn einen 'sexuellen Anarchisten' nennen." (8)

Beispiele für die schon begriffliche Konfusion Fromms liessen sich leicht in grosser Zahl aneinanderreihen.

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Als er sich 1970 über den Verfall der psychoanalytischen Bewegung Gedanken machte, forderte er zu ihrer Sanierung z.B.: "Sie wird die psychischen Phänomene studieren, die die Pathologie der gegenwärtigen Gesellschaft ausmachen: Entfremdung, Angst, Vereinsamung, die Furcht vor tiefen Empfindungen, den Mangel an Aktivität, den Mangel an Freude. Diese Symptome haben die zentrale Rolle übernommen, die die sexuelle Unterdrückung zu Freuds Zeiten innehatte." (9) Als ihn 1968 Martin Jay über seine Abwendung von den Auffassungen Reichs in den dreissiger Jahren befragte, gab er eine Antwort, die uns kaum noch überraschen wird: "...die Nazis demonstrierten [nach seiner Überzeugung] überdeutlich, dass sexuelle Freiheit nicht notwendig politische Freiheit nach sich zieht." (10)


Literatur:

(1) Wilhelm Reich (1953): People in Trouble. New York: Farrar, Straus & Giroux 1976. S.136, zitiert nach dem deutschen Manuskript S. 426
[Erg. 1998: vgl. Wilhelm Reich: Menschen im Staat. Frankfurt/M: Stroemfeld 1995, S. 150; (Rezension)]

(2) Wilhelm Reich (1945): Massenpsychologie des Faschismus. 3., stark revid. Ausg., Köln 1971, S. 221

(3) Karl Teschitz: Rez. Fromm, Autorität und Familie. In: Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, Band III, Heft 3/4, 1936, S. 176 f

(4) Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit (1941, dt. 1945);
(4) Psychoanalyse und Ethik (1947, dt. 1954)

(5) in: International Journal of Sex-Economy and Orgone Research, Vol.II, 1943, p. 173 ff

(6) in: Orgone Energy Bulletin, Vol. I, 1949, p.193 ff

(7) Myron Sharaf: Further Remarks of Reich (1949-52). In: Journal of Orgonomy, Vol.VIII, 1974, p. 228 f

(8) Erich Fromm: Sigmund Freuds Psychoanalyse -- Grösse und Grenzen. Stuttgart: DVA 1979, S. 163 f

(9) Erich Fromm: Die Krise der Psychoanalyse, zit. n. Erich Fromm: Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie. Frankfurt/M: Suhrkamp, 5. Aufl. 1978, S. 227

(10) Martin Jay: Dialektische Phantasie. Frankfurt/M: S. Fischer 1976, S. 121


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