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Zur Vorgeschichte des LSR-Projekts
Wilhelm-Reich-Blätter


Die Stellung moderner Sexualwissenschaftler zu Reich

von Bernd A. Laska

Inhalt:
Die heutige Sexualwissenschaft über Wilhelm Reich
Nachschrift: "An ihren Utopien sollt ihr sie erkennen!"
  (vgl. dazu meine neuere Arbeit
  Wilhelm Reich als Sexuologe)
Über Ernest Borneman
Die Utopiediskussion zwischen Wilhelm Reich & Jef Last

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Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 2/79, S. 35-52

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Die heutige Sexualwissenschaft über Reich

von Bernd A Laska

I.

Wie wir wissen, hielt Reich nicht viel von der Sexualwissenschaft (nachfolgend abgekürzt: SW) seiner Zeit. Seiner Ansicht nach beschäftigte sich diese zu viel mit indischen Liebestechniken und ausgefallenen Perversionen, statt mit den Problemen der sexuellen Gesundheit.

Was Reich von der heutigen SW halten würde, ist unschwer zu erraten, wenn man an die einschlägigen Publikationen denkt, obwohl sich da schon einiges geändert hat: von indischen Liebestechniken ist kaum mehr die Rede, von sexueller Gesundheit allerdings würde heute auch niemand mehr sprechen. An Reich wird in diesem Zusammenhang gelegentlich der Vorwurf gerichtet, er habe gegen die Regeln der Toleranz und des Pluralismus verstossen und anstelle alter Normen neue gesetzt.

Wir wollen uns hier aber nicht fragen, was Reich wohl von der heutigen SW halten würde, sondern uns umgekehrt mit den Äusserungen bundesdeutscher Sexualwissenschaftler über Reich bzw. dessen Theorien befassen. Nebenbei bemerkt habe ich den Eindruck, dass die Einschätzung Reichs durch die SW des Auslands, speziell der U.S.A., noch geringer ist als durch die hiesige.

Ich lege dieser Untersuchung die folgenden Publikationen zugrunde:

(1) Ergebnisse zur Sexualmedizin, hrsg. von Volkmar Sigusch, Köln 1972

(2) Ergebnisse zur Sexualforschung, hrsg. von Eberhard Schorsch und Gunter Schmidt, Köln 1975 (auch als Ullstein-TB Nr. 3301)

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(3) Sexualität und Medizin, hrsg. von Volkmar Sigusch, Köln 1979

Diese drei Bücher scheinen mir für diese Arbeit ausreichend zu sein, denn sie wurden herausgegeben, um der Öffentlichkeit einen Überblick zu geben über die Arbeit der seriösen (d.h. von beamteten Forschern betriebenen) bundesdeutschen SW. Gemäss unserer Themenstellung werden uns nur jene Beiträge darin interessieren, die sich mit Reich befassen; andere nur insofern, als sie die Position des Verfassers in Bezug auf Reich'sche Positionen verdeutlichen. Die Beschränkung auf diese drei Bücher wird sich bei der Behandlung unseres Themas kaum nachteilig auswirken, denn es gibt meines Wissens keine Arbeit von seiten der SW, die sich detaillierter mit Reich befasst.

Etwas sei jedoch noch vorausgeschickt: Der Sieg des Nationalsozialismus war das vorläufige Ende sowohl der damaligen SW als auch der Psychoanalyse (PsA) in Deutschland. Deren Positionen gegenüber der etablierten Medizin bzw. den sonst "zuständigen" Wissenschaften war schon vor 1933 keine starke. Doch schon damals stand Reich auf einsamem Oppositionsposten sowohl zur PsA als auch zur SW, von den etablierten Wissenschaften ganz zu schweigen. Eine argumentative Auseinandersetzung mit Reich wurde jedoch schon damals nicht für nötig befunden: Mehrheitsbeschlüsse und Ausschlüsse reichten. Einer der Gründe, warum man das "enfant terrible" Reich loswerden wollte, war, dass er sehr hinderlich war und die Anbiederungsversuche beim Establishment störte -- die aber trotzdem erfolglos blieben.

Nach dem Krieg war es schwer für PsA und SW, in Deutschland wieder Fuss zu fassen, und es dauerte lange, bis man sich wieder einigermassen konsolidiert hatte. An die Auseinandersetzungen mit Reich dachte niemand mehr, und die wenigen, die sich erinnerten,

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waren froh, dass dieser lästige Kritiker ihnen nun nicht mehr zu schaffen machte. Die Sache schien erledigt. -- Doch dann kam die Studentenbewegung. Durch sie erwachte das Interesse für die Auseinandersetzungen der Zeit vor 1933 bei vielen Studenten, und viele Schriften aus Reichs Sexpol-Zeit wurden nachgedruckt. Als dann auch etablierte Verlage planten, Reich-Titel neu aufzulegen, versuchte man dies von seiten der deutschen PsA zu verhindern: dies schwäche die Position der sich ohnehin nur mühsam durchsetzenden PsA. Zum Glück war diese Intervention vergeblich. Obwohl in der Folge alle wesentlichen Werke Reichs erschienen sind und als Taschenbücher z.T. sogar recht hohe Auflagen erzielten, hatten die Reich'schen Gedanken nur wenig Widerhall. Vor allem die Fachwelt neigte kaum dazu, sie zu rezipieren, was bei dem historischen Hintergrund, der oben kurz angerissen ist, auch kaum verwundern wird.

Angesichts dieser Situation ist es sicher interessant zu untersuchen, wie sich die Wissenschaft, die sich speziell mit der Sexualität, dem Kern der Reich'schen Arbeiten also, befasst, heute zu den Reich'schen Ergebnissen äussert, sofern sie dies überhaupt für nötig hält (um nicht in den Verdacht des Totschweigens zu geraten). Die grundsätzliche Ablehnung ist einhellig, wenn man es auch nicht mehr nötig hat, zu operieren wie seinerzeit vor fünfzig Jahren. Der Ton ist freundlich oder wissenschaftlich-sachlich, ja, man findet sogar regelrecht solidarische Formulierungen, wenn es um die Oppositionsrolle zur Schulmedizin geht (z.B. in 1:25). Auch wenn man, wie wir sehen werden, stellenweise sogar wohlwollende Formulierungen findet, so ist doch die Ablehnung, ausser in nebensächlichen Aspekten, letztlich immer eindeutig. Die Distanzierung hat heute sicher nur noch sekundär die Funktion, die sie damals hatte, denn Reich stört heute die Anbiederungsbestrebungen ja nicht mehr direkt. Über die heutigen Gründe, die sicher auch schon in den dreissiger Jahren mitgespielt haben, will ich jedoch

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hier nicht spekulieren. Der Versuch, sich Anerkennung zu verdienen, geht meinem Eindruck nach heute hauptsächlich so vor sich, dass man die SW so "wissenschaftlich" wie möglich darstellt, und das scheint heute zu sein: substanzarm, "brisante" Themen meidend, massenhaft Latinismen und endlose Literaturlisten mit nach ähnlichem Prinzip gefertigten Arbeiten, vorzugsweise anglo-amerikanischen Ursprungs, verwendend. Für den einzelnen Sexualwissenschaftler springt dabei zumindest heraus, dass er auf seiner Planstelle sitzen bleibt oder befördert wird; für die SW als Ganzes... na ja, vielleicht gelingt ihr die Anpassung doch noch vollends. -- Betrachten wir nun aber die Äusserungen über Reich.

II.

In der 1972 erschienenen Aufsatzsammlung (1) geht Sigusch in zwei verschiedenen Arbeiten auf Reich ein. In einem "Thesenpaper" mit dem allgemeinen Titel "Medizin und Sexualität" stellt er (1:36) fest, dass "abgesehen von einigen Aussenseitern, insbesondere Wilhelm Reich, nicht einmal gründlich über die Bedeutung des Orgasmus für intrapsychische, psychohygienische und psychosoziale Vorgänge nachgedacht worden" ist. Weiter (1:44) spricht er davon, dass die Sexualökonomie von Reich "abgewürgt worden" ist und es eigentlich bis dato keine eigenständige Disziplin Sexualmedizin gäbe, lediglich eine Sexualpathologie.

In einem weiteren Aufsatz "Physiologie des Orgasmus bei der Frau" gibt Sigusch zunächst einen Überblick über die Literatur zu diesem Thema und fährt dann fort (1:69): "Zum Schluss muss zur Einordnung aller weiter oben referierten sexualphysiologischen Befunde gesagt werden: Es ist heute noch keineswegs möglich, ein physiologisch orientiertes Konzept vorzulegen, das die ausgesprochen komplexen Phänomene sexuelle Exzitation, sexuelle Reaktion und speziell Orgasmus befriedigend erfasst und erklärt.

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Das konnte auch Wilhelm REICH [...] nicht gelingen, der, wie er meint, in logischer Fortführung der psychoanalytischen Libidotheorie zu einer Orgasmustheorie kommt. Da diese Hypothese jedoch als experimentell bewiesen deklariert wird und physiologische, psychologische und soziologische Phänomene und Fragestellungen gleichermassen berücksichtigen und erklären will, scheinen uns einige Hinweise erforderlich zu sein."

Es folgt ein ganz knapper Abriss der Reich'schen Orgasmustheorie, ehe fortgefahren wird (1:70):

"Ganz ohne Frage wird REICH sehr unrecht getan, wenn man, wie wir es tun müssen, seine biologischen und physiologischen Vorstellungen isoliert erwähnt. Es drängt sich dann nämlich allzu leicht der Eindruck auf, einen puren Phantasten vor sich zu haben, jemanden, der, von einer besonderen Art von Logik, von einer geradezu fixen Idee, die alles konsumiert, besessen, einen ganz neuartigen, ubiquitären, aber durchaus nicht okkult regierenden 'élan vital' sucht und findet und dabei von der Bedeutung der Sexualität über die Biogenese bis zum Leib-Seele-Problem, quasi zwangsläufig, alles geklärt haben will. REICHS Bedeutung liegt aber ganz gewiss nicht auf sexualphysiologischem, sondern auf sexualsoziologischem und -politischem Gebiet [...]. Dort war er seiner Zeit in vielem um Jahrzehnte voraus; dort feiert er heute Naissance und Renaissance. Etliches von dem jedoch, was er über sexualphysiologische Bereiche, beispielsweise über den Exzitationsablauf und über sexuelle Reaktionen, gesagt hat, ist mittlerweile, wie nicht anders zu erwarten, experimentell zumindest in Frage gestellt worden. Es muss auch notiert werden, dass er manches von dem, was er vermeiden wollte und stark bekämpft hat, gerade im Sexualphysiologischen wieder, nur anders dekoriert, auf den Plan ruft: Seine 'orgastische Potenz' zum Beispiel ist, abgesehen von der Fragwürdigkeit der Kriterien, ebenso zur Verabsolutierung und Idealisie-

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rung, damit aber zumindest zum Verunsichern und Simplifizieren geeignet wie andere Einteilungen des Orgasmus oder Definitionen des 'echten' Höhepunktes und seiner Bedingungen [...]. Ähnliche Bedenken müssen auch vorgebracht werden, wenn REICH nur die Genitalität, die 'natürliche genitale Vereinigung' lizensiert. Hier wird leider notwendigerweise tabuisiert und ganz bestimmt auch ignoriert. Nach diesem Exkurs über die geschlossenste Orgasmustheorie, die bisher vorgelegt wurde und die zudem explizite physiologisch ist, aber eher durch ihre wissenschaftliche Devianz als durch ihre wissenschaftliche Bündigkeit imponiert, bleibt uns das bescheidene
Resümee:
Lediglich einige Aspekte des 'sexuellen Syndroms' [...] liegen heute nicht mehr im Nebulösen. Die Physiologie der sexuellen Reaktion, speziell des Orgasmus, ist jedoch bisher kaum über die Deskription hinausgekommen; sie bedient sich gerade erst, wenn auch immer ermutigender, des experimentellen Instrumentariums." [im Zitat wurden Literaturangaben =[...] ausgespart]

Am Schluss dieses Aufsatzes, der Reich nur in einem Exkurs behandelt, folgt im Literaturverzeichnis merkwürdigerweise der Eintrag von 14 (!) Reich-Titeln, etliche davon unzugänglich und/oder unbedeutend in Bezug auf das Thema. Ich habe das Zitat oben ungekürzt gebracht, damit sich der Leser selbst ein Bild machen kann von der daraus sprechenden, meinen Eindruck nach merkwürdig ambivalenten Haltung Siguschs zu Reich. Oder verfolgt Sigusch nur eine Argumentationstaktik, die aus dem Grund vielleicht erfolgreich ist, weil er eine gehörige Portion von ihm in die Hände spielenden Vorurteilen beim normalen Leser mit einkalkulieren kann? Vielleicht wird Siguschs Haltung klarer, wenn wir das 7 Jahre später von ihm herausgegebene Buch (3) unter dem Eindruck der obigen Zitate durchsehen. Der Kontinuität halber möchte ich damit gleich anschliessend fortfahren und das zeitlich nächstfolgende Buch (2) zunächst zurückstellen.

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III.

Auf der Aussenseite des Umschlags von (3) stehen zur schnellen Information die Themenbereiche, die das Buch behandelt: Medizin und Sexualität, Kontrazeption, Schwangerschaftsabbruch, Physiologie des Orgasmus usw. Liest man die Aufzählung zu Ende, so findet man an letzter Stelle ein Thema, das so formuliert ein Fremdkörper in einer solchen Reihe ist, der Eigenname eines Menschen: Wilhelm Reich. Nicht Sexualökonomie, Orgonomie oder Reichs Orgasmustheorie ist Thema, sondern Wilhelm Reich selbst, so dass man eigentlich eine für die SW bedeutsame Persönlichkeitsstudie oder ähnliches erwartet. Wie schon in den weiter oben zitierten Passagen aus Siguschs Feder ist auch hier die rein formelle Analyse der Sprache (ich habe sie oben dem Leser überlassen) sehr aufschlussreich. Die Wahl dieser Kapitelüberschrift erweist sich als ein ausgezeichnetes Beispiel für eine Freud'sche Fehlleistung des sonst sehr sprachgewandten Herausgebers Sigusch, wenn wir den Inhalt des entsprechenden Kapitels betrachten.

Denn jetzt erlebt man erst die eigentliche Überraschung: während in anderen Kapiteln z.T. mehrere Aufsätze zusammengefasst sind, ist es hier nur einer, und er ist betitelt mit "Was ist von der 'Orgon'-Hypothese Wilhelm Reichs zu halten?" Dieses ans Ende des Buches gerückte und merkwürdig titulierte Kapitel fällt durch eine weitere Besonderheit auf: mit einem Umfang von 6 Seiten umfasst es nur ca. 10-20% des Umfangs der sonstigen Kapitel. Schon an dieser Stelle ist unschwer zu erraten, was nach Meinung des Herausgebers von der Orgonhypothese Reichs und natürlich auch von Reich "zu halten ist" (von jedem vernünftigen Menschen wohl).

Aber diese Meinung wird natürlich "wissenschaftlich" kaschiert und von einem Anderen vorgetragen. Während die meisten sonstigen Beiträge für das Buch bereits in verschiedenen Fachzeitschriften erschienen waren, liess Sigusch diesen Beitrag von Hans-Ullrich Demisch

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extra für diesen Band schreiben.

Worin wohl sah Sigusch die Dringlichkeit, den Band um diesen disproportionalen Abschnitt von 6 Seiten zu verlängern? Beantwortet Demischs Beitrag eine Frage, die viele Sexualwissenschaftler und Laien schon seit langem beunruhigt?

"Eine kritische Überprüfung der Reich'schen Messresultate und ihrer Interpretation scheint uns notwendig zu sein, weil durch die Weiterverbreitung und Überbewertung der Orgon-Hypothese der wichtige psychosoziale Beitrag Wilhelm Reichs zur Entstehung von Krebs bei seelisch Kranken ganz in den Hintergrund gedrängt wird." (3:343)

Auch dieser Satz ist wieder so verräterisch, dass man fast anzunehmen geneigt ist, hier habe Sigusch selbst, unter Pseudonym, geschrieben. Das Ergebnis der kritischen Überprüfung steht schon im Programm, das ganze Unternehmen dient aber dennoch natürlich einem vorgeblich guten Zweck, der Rehabilitation Reichs da, wo er richtig lag. Man wird erinnert an das Zitat aus (1), wo Sigusch alle originären Beiträge Reichs zur SW als falsch, überholt usw. abserviert, ihm dann aber eine (ohne diese Beiträge freilich gegenstandslose) grosse Bedeutung auf sexualpolitischem Gebiet zuspricht. So wenig er aber je inhaltlich zu dieser sexualpolitischen Bedeutung Reichs steht oder je auf sie zu sprechen kommt, so bleibt es auch jetzt bei diesem einen Hinweis auf die Reich'sche Krebstheorie, für die einzutreten er sich hüten wird. (Demischs Worte mit der Meinung Siguschs gleichzusetzen scheint mir hier erlaubt)

Es folgt eine Diskussion der von Reich berichteten Experimente, bei der einem immer wieder geklagt wird, welch eine Zumutung schon das Lesen der Reich'schen Texte für jemanden bedeutet, der auch nur über Grundkenntnisse der Physik verfügt. Demisch nimmt dies jedoch auf sich, wohl des

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oben genannten guten Zwecks zuliebe. Zwischenresultat: "Besetzt von der Idee der Existenz einer neuartigen Energieform, gelangt Reich mit Hilfe falsch interpretierter Messresultate zu Ergebnissen, die als phantastisch bezeichnet werden müssen." (3:345f) Demisch beschreibt dann die Funktionsweise des Orgonakkumulators und beendet diesen Abschnitt: "Spätestens nach diesen Sätzen Reichs würde fast jeder Physiker das Buch beiseite legen." (3:347) Fast jeder! Denn Demisch tut's nicht, sicher wieder wegen seiner wohltätigen Mission. An sich jedoch ist sein Tun, das er im folgenden beschreibt (er macht Kontrollexperimente mit dem Orgonakkumulator) von vornherein recht sinnlos, denn sicherheitshalber hatte er schon zuvor den von Reich beobachteten Effekt einmal hypothetisch als zutreffend angenommen und ihm eine andere Interpretation als Reich gegeben. Wie immer der Versuch auch ausfallen wird: das ohnehin schon vorher formulierte Ziel wird immer erreicht werden. Sein Versuch, der mit aufwendigen Apparaturen durchgeführt wurde, erbrachte eine Temperaturdifferenz (vgl. Artikel über Akku in WRB 4/76 und über Reich/Einstein in WRB 1975 bzw. 2/76N), die zwischen +0,15°C und -0,2°C variierte. Fazit: "Nach Durchsicht dieser Ergebnisse kann sicher festgestellt werden, dass die von Wilhelm Reich gefundenen Temperaturdifferenzen von 0,3°C bis 1,0°C nicht verifiziert werden können... Abschliessend muss festgestellt werden, dass es absurd ist, aufgrund der Reich'schen Messungen eine neue Energieform anzunehmen." (3:349) -- Ende des Beitrags.

Nun endlich weiss man, was von der "Orgon"-Hypothese zu halten ist, es sei denn, man wäre jemand, der etwas Absurdes annimmt; und wer will das schon sein? Auch der "wichtige psychosoziale Beitrag Wilhelm Reichs zur Entstehung von Krebs" ist nun davor bewahrt, in Misskredit zu fallen.

Wie schon erwähnt, ist Reichs Krebstheorie allerdings nicht mehr thematisiert. Stattdessen zog es der Her-

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ausgeber vor, lange Beiträge zu bringen, in denen nun zum zig-sten Mal "wissenschaftlich" dargestellt wird, wie das bei sexuellen Aktivitäten so zugeht: was wann um welchen Prozentsatz anschwillt und wo welche Drüsen welche biochemisch völlig analysierte Substanz wann und wohin abgeben. Natürlich fehlt auch nicht die Beschreibung eines Meisterstücks sexualärztlicher Hilfeleistung bei Erektionsstörungen: die operative Implantation einer Penisprothese. Ja, und die beliebten, ausführlichen "empirischen Studien" mit ihren "explorativen Fragenkatalogen" und dem statistischen Firlefanz dazu dürfen natürlich auch nicht fehlen. Der Steuerzahler soll schliesslich staunen, was sie alles leisten, seine lebenslang verbeamteten Sexualforscher.

Trotz der vorgeblichen Motivation, Reich vor sich selbst in Schutz nehmen zu wollen, findet jedoch der "gute" Reich, der Sexualpolitiker und Krebsforscher, keine weitere Erwähnung in dem Sammelband. In einem kleinen Abschnitt, der Literaturempfehlungen gibt, findet man Engels, Freud, Adorno, Marcuse, einige weniger bekannte Autoren und sogar ... Schelsky, dem eine geistreiche Gegenposition bescheinigt wird -- Reich fehlt. Ein Abschnitt "Menschenbild und Sexualwissenschaft" diskutiert alle möglichen Autoren zu diesem Thema, "reaktionare" und "progressive" -- Reich fehlt.

Nachdem Siguschs unbewusste Haltung zu Reich durch seine wirklich vorzügliche Fehlleistung offenbar wurde, zeigt sich seine nach aussen gekehrte Ambivalenz (oder will er wissenschaftliche Objektivität oder gar Wohlwollen vortäuschen?) wieder, wenn er an anderer Stelle schreibt, dass die Reich'sche Orgasmustheorie "nach wie vor die geschlossenste und zugleich anspruchsvollste Theorie ist, die bisher über den Orgasmus vorgelegt worden ist". (3:143f) Schreibt 's und fährt fort, indem er zum zig+1-ten Mal die Ergebnisse von Masters/Johnson referiert!

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IV.

Obwohl Sigusch festgestellt hat, dass "Reichs Bedeutung aber ganz gewiss nicht auf sexualphysiologischem, sondern auf sexualsoziologischem und -politischem Gebiet liegt" (1:70), ist er darauf nicht weiter eingegangen. Das tun jedoch in gewissem Ausmass Eberhard Schorsch und Gunter Schmidt in ihrem Aufsatz "Sexuelle Liberalisierung und Emanzipation", enthalten in (2); sie erwähnen Reich übrigens nur in diesem Zusammenhang. Während bei Sigusch eine merkwürdige Ambivalenz gegenüber Reich vorzufinden war, ist die ablehnende Haltung von Schorsch/Schmidt (Sch/Sch) klar und deutlich, obwohl auch sie Reich an einer Stelle (2:32) einen "sexualpolitisch fortschrittlichen Analytiker" nennen, was im Kontext gelesen ein positives Urteil ist. Ihre Kritik an Reich haben sie wie folgt formuliert:

"In seiner Zielvorstellung einer befreiten Sexualität basiert Reich auf dem psychoanalytischen Modell einer 'reifen', d.h. einer genitalen Heterosexualität. In dem Wort 'reif' liegt schon die ganze Konformität des Modells. Ziel ist der heterosexuell herbeigeführte, maximal intensive Orgasmus. Die Fähigkeit, solche maximal 'sexualökonomische Triebabfuhr' zu erreichen, ist die orgastische Potenz. Diese orgastische Potenz ergibt sich nach Reich sozusagen von selbst als die natürliche Vollendung, vorausgesetzt, dass die sexuelle Entwicklung nicht durch gesellschaftliche Beschränkungen und Unterdrückungen beeinträchtigt wird. Homosexualität, Partialtriebe, sexuelle Abweichungen, Masturbation, sogar sexuelle Phantasien erledigen sich dann sozusagen von selbst. Die Reduktion der Sexualität auf den koitalen Orgasmus bei Reich spiegelt die Prüderie einer antisexuellen Moral wider, und wesentliche Teile ihrer Tabus werden zur Natur verklärt. Diese Prüderie wird dadurch noch potenziert, dass Sexualität psychohygienisch und soziohygienisch legitimiert wird und es primär gar nicht um eine Ausweitung von Lust geht. Obwohl Reich die sozialen Bedingungen sexueller Unterdrückung konsequent analy-

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siert, ist sein Modell sexueller Freiheit, die orgastische Potenz, letztlich ein physiologisches Ideal, das der idealistisch-antizivilisatorischen Philosophie des Vitalismus verpflichtet ist." (2:26)

Sch/Sch kommen dann zu einer kurzen Betrachtung der Utopie Herbert Marcuses: "Orgasmus ist hier eine untergeordnete Detailfrage." Dann geraten sie etwas ins Schwärmen über Begriffsbildungen wie "Versinnlichung der Vernunft [und]... der Arbeit" und die "Umgestaltung der gesamten menschlichen Kommunikation und Interaktion", um die es bei Marcuse gehe: "Darin ist Marcuses Utopie der rigiden Einschränkung der Sexualität auf den Orgasmus bei Reich weit überlegen." Sie geben dann jedoch zu, dass Marcuses Theorie schemenhaft und abstrakt ist, und verwerfen sie, obwohl sie sie eigentlich sehr sympathisch finden, vor allem wegen der "Ausweitung des polymorph-perversen Spielcharakters der Sexualität", die darin eine zentrale Rolle spielt. Fazit von Sch/Sch: "Sexuelle Freiheit lässt sich heute nicht (demnächst etwa doch?, B.A.L.) positiv bestimmen, ...weil jede affirmative Definition sexueller Freiheit die Gefahr ihrer Normierung in sich birgt..." In Abwandlung eines Satzes von Adorno resümieren sie: "Sexuelle Freiheit wird nur negativ sichtbar in den konkreten Gestalten bestehender sexueller Unfreiheit und im Widerstand gegen diese." (2:27) Jeder, der Reich in dieser Sache verstanden hat, erkennt sofort, dass es sich bei dieser theoretischen Finesse nur scheinbar um eine solche handelt; in Wirklichkeit ist sie entweder ein fauler Trick oder eine theoretische Bankrotterklärung. Sie führt direkt zu Horkheimers verwaschener "Sehnsucht nach dem ganz Anderen" und ist meiner Ansicht nach die entscheidende Aporie der Frankfurter "Kritischen Theorie".

Explizite Reich-Kritik oder überhaupt -Diskussion erfolgt an keiner weiteren Stelle des Bandes. Es lohnt sich aber, so meine ich, noch ein paar typische Stellen des Textes zu betrachten, insbesondere die Utopie-

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vorstellungen von Sch/Sch selbst, um den gewaltigen Abgrund deutlicher werden zu lassen, der zwischen solcher SW und der Reich'schen klafft.

Mit dem eben zitierten, abgewandelten Adorno-Satz meinen Sch/Sch anscheinend, einen als elegant imponierenden Abgang bei ihrer Diskussion der Utopien Reichs und Marcuses gefunden zu haben. Sonst allerdings haben sie mit der "Kritischen Theorie" nicht viel im Sinn, denn diese ist ja immerhin zu einem grossen Teil noch Freud verpflichtet, von dem Sch/Sch jedoch nicht die beste Meinung haben. Dessen Psychoanalyse habe das "psychohydraulische Modell der Sexualität", auch Dampfkesseltheorie genannt, nur am differenziertesten formuliert. Dieses Modell jedoch, nach dem sich im Organismus ständig sexuelle Spannungen aufbauen, die zur Abfuhr drängen, sei schon deshalb verdächtig, weil es "in unserer Gesellschaft" so weit verbreitet ist, bei Analytikern und Theologen, bei Wissenschaftlern und bei Laien. "Das psychohydraulische Modell der Sexualität ist wissenschaftlich heute jedoch nicht mehr haltbar." (2:32) Nach dem neuesten Stand der Wissenschaft lägen die Dinge so:

"Sexuelles Verhalten ist motiviert durch den Wunsch, sexuelle Erregung und Lust zu erfahren und nicht durch unangenehme [!,BAL] Innenreize, die durch sexuelle Aktivität beruhigt werden müssen. Nicht weil wir sexuell erregt sind, haben wir Sexualität [?!,BAL], sondern wir produzieren sexuelle Erregung, um Sexualität zu haben." (2:32) Woher kommt aber dieser ominöse Wunsch? Sicher vom "freien Willen"! Darüber schweigt die "Wissenschaft", schliesslich ist für sowas die Theologie zuständig. Aber ein Sachverhalt wird noch für uns aufgeklärt: "Den Unterschied [von Sexualität, BAL] zu Hunger und Durst zeigt auch das Phänomen der Sättigung. Hunger und Durst sind nach der Aufnahme einer bestimmten Menge an Nahrung bzw. Flüssigkeit gestillt. Sexuelle Aktivität hört häufig erst auf, wenn die Energievorräte des Körpers er-

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schöpft sind." (2:33) Hier, und vielleicht noch anderswo, findet der selbstherrlich lustwünschende und somit den Befehl zur Erzeugung sexueller Erregung gebende freie Wille also doch noch eine Grenze.

Damit ist die "Wissenschaft" von Sch/Sch an sich schon in ihrem wesentlichen Gehalt charakterisiert. Sie schreiben das natürlich nicht nur so hin, das meiste ist ordentlich belegt, unter Hinweis auf neueste Veröffentlichungen von anglo-amerikanischen Forschern - wie gehabt. Sch/Sch sind up to date.

V.

Was bei Sch/Sch, aber auch in den Sigusch-Arbeiten (alle drei kommen übrigens aus dem gleichen "Stall": dem des Hamburger Sexualforschers Hans Giese), auffällt und im Zusammenhang mit ihrer Stellung zu Reich noch Erwähnung finden sollte, ist ihr engagiertes Eintreten für die Anerkennung der Perversionen als "gleichberechtigt". Dabei genügt ihnen als Forderung nicht, dass Perverse nicht mehr diskriminiert oder gar kriminalisiert werden dürfen -- da wären sie mit Reich einig. Perversionen werden erst einmal zu Deviationen, also Abweichungen von einer "Normalität" erklärt, die ihnen zu Recht (und auch da wären sie mit Reich einig) als fragwürdiger Massstab gilt, zumal sie ja meist mit "Gesundheit" gleichgesetzt wird. Sie folgern dann aber nicht im Sinne Reichs oder Freuds ("Ich hab' die Menschheit zum Patienten"), sondern fordern: "Der Begriff der Krankheit... in diesem Kontext... sollte folglich fallen gelassen werden... Die Bezeichnung sexuelle Deviation ist eine Feststellung auf der Verhaltensebene und sonst nichts. Wenn wir also von einem Menschen sagen, er sei ein sexuell Devianter, dann meinen wir lediglich, dass es ein Mensch ist, der sich gewohnheitsmässig in nur einem Sektor (Hervorh. BAL) seines Sozialverhaltens, der Sexualität, anders verhält als die meisten anderen Menschen." (2:49)

Wenn das so einfach wäre... Jedenfalls entspricht

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diese Definition genau dem lerntheoretischen Modell einer vom Soma getrennten Psyche, das Sch/Sch auch ihren sonstigen Betrachtungen zugrunde legen, und das es ihnen auch erlaubt, auf dem Papier den Zusammenhang zwischen sexueller Unterdrückung und der sonstigen Beschaffenheit von Individuum und Gesellschaft zu leugnen. Sie halten z.B. folgende Utopie für möglich:

"Mit den richtigen Sozialisationsstrategien und einer perfekten Lerntechnologie, die bei dem heutigen Stand der Lerntheorie durchaus in den Bereich der Möglichkeiten rückt, wäre eine Gesellschaft denkbar: ohne Kinder- und Jugendsexualität, mit geringer sexueller Aktivität der Erwachsenen [warum denn überhaupt noch eine geringe? BAL] und ohne sexuelle Frustrationen." (2:43) Das Programm könnte gekoppelt werden mit der "Propagierung einer Pflichtethik und einer Moral der Aufschiebung von Bedürfnissen." Welche Bedürfnisse eigentlich? fragt man sich hier. Ausser Treibstoff, d.h. Essen und Trinken oder besser noch chemische Energieträger, bräuchte es in einer solchen Gesellschaft von Maschinenmenschen eigentlich keine Bedürfnisse geben, d.h. diese bräuchten gar nicht erst "gelehrt" werden.

Angesichts solch technokratischer Horror-Ideologien kann man nur froh sein, dass diese Art von SW noch einen so geringen Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse hat. Solange diese "Wissenschaftler" nur Pseudoaktivität zur Rechtfertigung ihrer Besoldung entfalten und allenfalls ein paar Leuten "Sexualität beibringen" oder Penisprothesen einbauen, ist es noch nicht so schlimm. Wie würde es jedoch aussehen, wenn sie in einem autoritären Regime Gelegenheit bekämen, ihren Technokratenwahn gesellschaftlich auszuleben? Sicher würden sie viel Schaden anrichten, bis sie vielleicht merken würden, auf welcher Basis ihre "Wissenschaft" ruht. Eins braucht man aber wohl kaum zu fürchten: dass die "perfekten Lerntechnologien" halten, was sich Sch/Sch von ihnen versprechen.

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Nach diesem Exkurs in die Science-Fiction-Sphäre und zu den Omnipotenzphantasien der beiden Sexualwissenschaftler Schorsch und Schmidt wollen wir zurückkehren zu den "Deviationen".

Wir sahen, dass hier ein Konzept der Trennung von Psyche und Soma zugrundeliegt. Während nun im somatischen Bereich der Krankheitsbegriff nicht aufgegeben wird, hält man ihn im psychischen Bereich für diskriminierend. Die Abhängigkeit von der herrschenden Ideologie ist offenbar, man ist nur "anti". Man ist erinnert an den heutigen Philosemitismus oder den Mann, der sich nicht einmal traut zu sagen, dass Neger eine andere Hautfarbe haben als Weisse.

Die Schwierigkeiten, einen positiven Begriff von Gesundheit zu entwickeln, sollen hier nicht bestritten werden; und dies wird sicher nicht zu trennen sein von einem positiven Begriff von sexueller Freiheit und gesellschaftlicher Freiheit überhaupt. Es ist jedoch nicht einmal theoretisch ein Ausweg (das merkt man an den unvermeidbaren internen Widersprüchen solcher Theorien), sich derart in einen Relativismus zu flüchten, wie Sch/Sch es tun. Ein solches positives Gesundheitskonzept besteht noch nicht, doch bin ich der Meinung, dass Reich ihm mit seinem Sozio-, Psycho- und Biologie integrierenden Ansatz am nächsten gekommen ist.

Noch etwas fällt auf bei Sch/Sch. Nachdem sie sich so für die Deviationen ins Zeug gelegt haben, auch festgestellt haben, dass es sich dabei um eine vereinzelte, isoliert zu betrachtende Verhaltensweise eines Individuums handelt, die es nicht nur zu tolerieren gilt, sondern die ganz einfach keines weiteren Kommentars bedarf, quasi "normal" ist; nach all dem verwundert einen dann folgende Stelle: "Verzichtet haben wir ... auf die Darstellung ... der Homosexualität, da wir vermeiden wollten, diese mit den hier dargestellten Deviationen in eine Reihe zu stel-

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len." (2:94) Motto: Sog. Normale und sog. Deviante sollen gleich sein, nur eine Gruppe von Devianten ist gleicher.

VI.

Abschliessend möchte ich nochmals betonen, dass ich mich aufgrund der gebotenen Kürze (siehe auch die Überschrift dieses Artikels) auf jene Aspekte der heutigen SW beschränken musste, die ich ausser ihrer Kritik an Reich in diesem Zusammenhang für die wichtigsten halte. Zudem war eine sehr knappe Darstellung im Rahmen dieser Zeitschrift unumgänglich. Trotzdem glaube ich in dieser rohen Skizze der SW das meiner Meinung nach Wesentliche an ihr verdeutlicht zu haben. Ihr Gesamtbild erscheint mir noch weitaus desolater, als man hieraus schliessen mag; wen es interessiert, der möge sich aus erster Hand informieren.

Reichs anfangs erwähntes Urteil über die SW seiner Zeit dürfte, bezogen auf die heutige, heute kaum anders ausfallen; nur hat man heute statt der Beschäftigung mit indischen Liebestechniken andere, zeitgemässere Wege gefunden, um jenem Lebensmotto zu folgen, das Reich im "Christusmord" aufgedeckt hat: MEIDE DAS WESENTLICHE !


Nachschrift:
"An ihren Utopien sollt ihr sie erkennen"

Im Fall der Sexualforscher Schorsch und Schmidt war die Betrachtung ihrer Vorstellungen einer sexuellen Utopie (die sie für machbar halten; dass sie sie für wünschenswert halten, schreiben sie nicht ausdrücklich) ein m.E. sehr taugliches Mittel, um sich ein Bild ihrer Theorien zu machen. Sie würden natürlich argumentieren, sie hätten erst geforscht und dann Möglichkeiten für die Zukunft extrapoliert. Dass ihre persönliche Maschinensexualität nicht schon vorher da war, davon wäre ich aber nur schwer zu überzeugen.

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Eine Korrespondenz zu diesem Thema -- reale sexuelle Utopie -- ist einst in Reichs "Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie" abgedruckt worden (Band 3, Heft 3/4, 1936). [siehe unten] Der holländische Sozialist Jef Last meint da in einer Zuschrift, Huxleys Roman "Schöne Neue Welt" führe Reichs Theorien ad absurdum. Denn in ihm würde eine sexuell befreite Gesellschaft geschildert: Trennung von Fortpflanzung und Sexualität; "der Staat tut alles, damit der sexuelle Trieb fortwährend hemmungslos [!,BAL] und restlos befriedigt werden kann; ...man fordert bereits die dreijährigen Kinder auf, mit dem 'Lulu' zu spielen; ...bestraft werden nur diejenigen, die an sexuellen Spielen kein Vergnügen haben"; keine Unzufriedenheit und keine sexuelle Entartung; aber: "In dieser vollkommen glücklichen Welt ist auch jede Spannung, jedes künstlerische Schaffen, jede geistige Hingabe und jede wirkliche Wissenschaft verschwunden." Jef Last bringt dann noch einige Erwägungen, wie weit die Bejahung des Sexuallebens, die irgendwie auch sein Anliegen ist, gehen dürfe. Er fürchtet um Sehnsucht, Werbung und Spannung bei "fortwährender, sofortiger Befriedigung": "Ich bin ein Feind jeder Überspannung, aber Spannungen möchte ich, auch im Sexuellen, nicht entbehren. Solche Spannungen entstehen aber nur aus dem Willen [!, BAL], mit dem der Mensch seine an und für sich blinden (natürlichen) Triebe einer gewissen Ordnung unterwirft. Also doch wieder eine gewisse Moral? Ja! Und zwar statt der bürgerlich-reaktionären eine proletarisch-revolutionäre!" -- Diese Korrespondenz, vor allem auch die Antwort der Redaktion, verdiente es eigentlich, in ganzer Länge abgedruckt zu werden, [geschah in WRB 3,4/79] denn in den inzwischen vergangenen 43 Jahren sind die stereotypen "Missverständnisse" darüber, was bei Reich mit freier Sexualität gemeint ist, beileibe nicht verschwunden (... und [Anm. 1998] nach weiteren 20 Jahren "sexueller Befreiung" noch schwieriger aufklärbar geworden -- vgl. "Wilhelm Reich als Sexuologe").

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Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 3,4/79, S. 74-86

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Über Ernest Borneman
[Ernst Bornemann]

von Bernd A. Laska

Ernst Bornemann wurde 1915 in Berlin geboren. 1933 emigrierte er nach England ("Ernest Borneman"), später ging er nach Canada und in die USA. Dort hat er studiert, gearbeitet, war interniert, hat einige Jahre ethnologische Feldforschungen betrieben, Filme gedreht u.v.a.m. Dem nicht genug, war er auch als Autor sehr fleissig: Acht Bücher und mehr als 1000 (i.W.: eintausend) Beiträge für wissenschaftliche Zeitschriften hat er in den insgesamt 27 Jahren im englischsprachigen Ausland geschrieben (l: Bd.1, Vorbem.). Nebenbei teilt er uns noch mit, dass er es gewesen sei, der seinerzeit als Journalist in England den Begriff "beat music" geprägt habe, nach dem sich dann die Beatles ihren Namen gegeben haben.

1960 kam Borneman zurück nach Deutschland (er schreibt, man, ein Professor, habe ihn geholt) und hat auch hier seitdem schon viel zu Papier gebracht. Die Frucht 10-jähriger Fleissarbeit ist sein Werk über den "obszönen Wortschatz der Deutschen" in zwei Bänden (1). Weitere Werke sind ein mehrbändiges "Lexikon der Liebe", mehrere Bände "Studien zur Befreiung des Kindes" und "Studien zur Befreiung der Frau" sowie verschiedene andere Bücher, meist zum Thema Sexualität oder eng damit zusammenhängend. Sein Hauptwerk, die Frucht der "gesamten Freizeit von 40 Jahren" jedoch ist "Das Patriarchat" (2). Es trägt folgende Widmung: "Das Patriarchat ist den Frauen gewidmet. Es soll der Frauenbewegung dienen, wie Das Kapital der Arbeiterbewegung gedient hat: als Analyse der Vergangenheit, als Schlüssel zur Zukunft, als Waffe im täglichen Kampf der Gegenwart." Die Mühen Bornemans wurden vor ein paar Jahren mit der Verleihung des Professorentitels belohnt. Seither hat er den Lehrstuhl für Ethnopsychoanalyse (wenn ich nicht irre) an der Universität Salzburg. Eine Berufung an eine andere Universität käme, so las ich neulich in einer Zeitung, nicht mehr in Frage: er hat eine umzugsresistente Privatbibliothek von mehr als 20'000 Bänden.

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Ein Mann der Superlative also! In seinen Arbeiten ist Borneman um eine ganzheitliche Sicht der Sexualität bemüht und betont vor allem auch die Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Gesellschaft, verfolgt also formal betrachtet einen Ansatz, der dem Reich'schen nicht unähnlich ist. Und in der Tat bezeichnet er in seinem autobiographischen Buch "Die Urszene" Wilhelm Reich als den wichtigsten Einfluss seiner jungen Jahre (3:22). Borneman lernte Reich 1931, also im Alter von 16 Jahren, in Berlin kennen und arbeitete dort bis 1933 mit ihm in der Sexpol zusammen. Wie wir jedoch noch sehen werden, ist dieser "wichtigste Einfluss" heute nur noch in einer sehr verzerrten Form, wenn überhaupt, zu erkennen. Seine jetzige Haltung zu Reich erinnert mich eher an die von Sigusch (s. WRB 2/79), der zwar auch hier und da, zum Teil sogar überschwenglich, Lob und Anerkennung formal spendet, inhaltlich aber letztlich kaum noch etwas gelten lässt von dem, was originär Reich'sches Gedankengut -- ganz gleich, ob vor, während oder nach seiner marxistisch-psychoanalytischen Zeit -- ist.

Borneman schreibt in "Die Urszene" (3:24) generös: "Bei dieser Gelegenheit will ich noch einmal den Dank aussprechen, den eine ganze Generation von Arbeiterkindern dem alten Wilhelm Reich schuldet. Einerlei wie dumm, wie rückschrittlich, wie närrisch er sich in seinen späten Jahren des amerikanischen Exils benommen hat, so soll doch nie und nirgends verschwiegen werden, wie hilfreich, wie nützlich, wie unerlässlich seine Arbeit in den Jahren 1931 bis 1933 in Berlin gewesen ist."

Vielleicht, so mag man hieraus schliessen, ist Borneman nur mit dem Reich einverstanden, der Marxismus und Psychoanalyse zu kombinieren suchte, und vermochte ihm dann später nicht mehr zu folgen, sieht ihn vielleicht als "Renegaten". Tatsächlich schreibt er auch an anderer Stelle, "dass Reichs Arbeiten während dieses Jahrzehnts (1927-1937, BAL) die einzigen Werke

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irgendeines Analytikers sind, die sich in ihrer Originalität, Klarheit und Tiefe mit Freuds eigenen Schriften vergleichen lassen." (4:81) (Dagegen hätte sich Reich zwar verwahrt; gemeint ist es jedoch eindeutig als ganz grosses Lob). Ein kleines Stück weiter im Text sind Reichs Arbeiten dieser Dekade sogar "eine Denkleistung, die in der Geschichte der Psychoanalyse einmalig ist." (4:81) Doch im gleichen Buch, allerdings ein ganzes Stück weiter hinten, heisst es dann: "Was Wilhelm Reich mit zum Teil falschen Mitteln aufgrund teilweise falscher Analysen in den dreissiger Jahren unseres Jahrhunderts versucht hat, muss mit besseren Mitteln und klarerer Analyse noch einmal versucht werden." (4:455) Nun, wenn die Glanzleistungen der dreissiger Jahre teilweise falsche Analysen waren, dürfen wir gespannt sein, wer sie später korrigiert hat, vor allem wie. Doch darüber erfahren wir nichts mehr, wohl aber über Bornemans Meinung über Reich.

Das "teilweise" und "zum Teil" im letzten Zitat dürfen wir wohl getrost streichen. Es sind nur rhetorische Absicherungen, wenn man sich mal überlegt, was von der angeblich einmaligen Denkleistung Reichs Borneman denn überhaupt noch gelten lässt. Denn über Reichs psychosomatische Arbeiten schreibt er, dass dieser "in seiner geradezu fanatischen Insistenz, die Wurzel aller psychischen Leiden im Somatischen zu suchen, noch weit über Freud [dessen Biologismus, BAL] selbst hinausging." (4:435). Vielleicht schätzt Borneman, als dem Marxismus und der Psychoanalyse verpflichteter Wissenschaftler, also mehr Reichs sozialpsychologischen Standpunkt dieser Jahre? Auch Fehlanzeige! Eine Passage, die hierüber Auskunft gibt (4:66f), ist in voller Länge zitierenswert, denn sie zeigt, zu welchen logischen Purzelbäumen Borneman durch seine ambivalente Haltung zu Reich verführt wird. Es geht dort um die Kontroverse zwischen Róheim und Reich über die Reich'sche These von 1932 über den "Einbruch der Sexualmoral" aus letztlich sozioökonomischen Gründen. Borneman: "Hier also stehe ich eindeutig und unmissverständ-

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lich auf Reichs Seite. Und trotz der bitteren Konflikte, die Freud am Ende von Reich trennten, kann ich mir nicht vorstellen, dass der Vater der Psychoanalyse hier anders als Reich gedacht hätte." (4:66f) Also steht er auch auf Freuds Seite. Nur unterschlägt er hier das simple Faktum, dass Freud zu dieser Zeit gelebt und sehr wohl anders als Reich gedacht hat. Schliesslich war ein wesentlicher Grund für den auch und gerade von Freud mitzuverantwortenden Ausschluss Reichs aus der psychoanalytischen Vereinigung ja der kaum voneinander zu trennende Theorienkomplex um den Todestrieb, den primären Masochismus, auf der einen Seite und dem Reich'schen "Urkonflikt Bedürfnis-Aussenwelt" auf der anderen Seite. "Blauäugig" fährt Borneman nun fort: "Denn Freud hat die Neurose stets als das Resultat gesellschaftlicher Einwirkungen auf das Individuum erkannt... Wenn irgendein Aspekt der Psychoanalyse heute als gesichert zu gelten vermag, dann ist es die Tatsache, dass die Triebstruktur nicht allein, sondern erst in Wechselwirkung mit der Umwelt zu Neurosen führt." (4:67) Das ist ein nicht ganz klarer Satz, dessen Interpretationsmöglichkeiten ich hier nicht ausbreiten will. Eines aber scheint mir doch aus dem bisher Gesagten deutlich geworden zu sein: dass trotz formaler, z.T. überschwenglicher Belobigung Reichs, inhaltlich fast alles, wofür Reich steht, abgelehnt oder gar im Vertrauen auf die Unkenntnis des Lesers dem damaligen Gegner Reichs zugesprochen wird.

Das einzig gute Haar, das Borneman an Reich lässt, ist die Hilfe, die dieser bzw. die Sexpol ihm als Jugendlichem geboten hat. Doch sogar diesen Dank an den "alten Wilhelm Reich", der sich später so dumm und rückschrittlich aufgeführt hat, spricht er nicht primär für sich, sondern für "eine ganze Generation von Arbeiterkindern" aus, denn, man höre: "Es mag im heutigen Zeitalter jugendlicher Potenzstörungen naiv und beneidenswert klingen, wenn ich sage, dass ich nie im Leben ein einziges Sexualproblem gehabt habe, mit Ausnahme simplen Geschlechtshungers, und selbst das nur, wenn einfach keine Frauen da waren." (3:24f)

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Soviel über Bornemans Stellung zu Reich können wir seinen Schriften direkt entnehmen. Dahinter steckt aber etwas, was er nicht beim Namen nennt: seine Auffassung von Sexualität, die wir weiter unten kennenlernen werden. Und dazu bietet uns der Vielschreiber natürlich eine Menge Material. Da hält er mit seiner Meinung auch nicht hinterm Berge, denn da kann er mit schmunzelnder Unterstützung seiner "progressiven" Leser und Fachkollegen rechnen. Seine wissenschaftlichen Werke sind allerdings hier weniger deutlich als seine populär gehaltenen Essays. Auf ein solches bin ich neulich durch Zufall gestossen (5); es scheint mir gut geeignet, sein Konzept von Sexualität darzulegen.

Warum aber überhaupt dieser Artikel? wird sich mancher Leser fragen. Was ist so interessant an Borneman? Leute, die Reich ablehnen oder ambivalent zu ihm stehen, gibt es viele. Was soll's also? Borneman wird den Artikel nicht lesen; und läse er ihn, wäre er wohl kaum beeindruckt. Also wieder so eine dieser Predigten, die sich an Leute wendet, die es ohnehin schon wissen? Ich meine: nein, und möchte das wie folgt begründen:

1) Borneman ist ein einflussreicher Sexualexperte, der viel publiziert und im Vorstand einiger deutscher und österreichischer Vereinigungen sitzt, die die Verbreitung "moderner" Auffassungen der Sexualität zum Ziel haben. Er bestimmt also massgeblich das mit, was heute als Gegenposition zur traditionellen Sexualideologie propagiert wird, ist also ein "wichtiger" Mann.

2) Borneman ist auch eine "Autorität". Er ist Hochschullehrer und kann ein Werk vorweisen, das allein wegen seines Umfangs vielen Menschen imponiert und sie einschüchtert.

3) Borneman ist progressiv, oder: er gibt sich progressiv, je nach dem, was man dem Begriff für einen Bedeutungsinhalt zuordnet. Er propagiert eine bessere Gesellschaftsordnung, die als wichtiges Kennzeichen auch "freie Sexualität" haben soll.

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4) Was jedoch "freie Sexualität" ist, darüber existiert nach meinen Erfahrungen auch unter Leuten, die Reich schätzen, viel Verwirrung und Unsicherheit. Vor allem traut man sich oft nicht, die Art von progressivem Sexualitätskonzept, wie es Borneman -- aber auch Sigusch, Schorsch, Schmidt und andere -- vertritt, eindeutig abzulehnen: man fürchtet sich, dann als intolerant, dogmatisch, auf Reich fixiert oder/und unwissenschaftlich dazustehen, vor anderen und vor sich selbst. Und man weiss oft kein Argument gegen den an sich unsinnigen Vorwurf, Reich würde an Stelle der alten nur wieder neue Normen setzen.

5) Es ist gerade bei diesem Thema nicht leicht, in Worten das auszudrücken, was der Leser eigentlich schon vorher wissen müsste, um den Text zu verstehen. Die Überzeugungskraft von Argumenten scheint hier sehr gering zu sein. Aber als ganz sinnlos sollte man das Schreiben über "freie Sexualität" doch nicht ansehen. Ich will hier den umgekehrten Weg versuchen: Anhand der Betrachtung des Borneman-Essays möchte ich verdeutlichen, was freie Sexualität nicht ist. Man wird auch leicht merken, warum Borneman wirklich nichts Gutes an Reich finden kann, ausser dessen kostenlose Verteilung von Verhütungsmitteln in der Sexpol-Zeit. Ich meine nur, er sollte seine Gegnerschaft nicht hinter Lobhudeleien verstecken.

Schon bei Schorsch und Schmidt (s. WRB 2/79) war eine Betrachtung ihrer Utopievorstellungen enthüllend. Sigusch, der mehr zu marxistischer Argumentation neigt, vermeidet Utopiebeschreibungen natürlich tunlichst (aber die "Tyrannei der Heterosexualität" soll es bei ihm auf keinen Fall mehr geben). Borneman nun, sich als Marxist fühlend, kann der Verlockung aber nicht widerstehen, dem Playboy-Leser über den "Sex nach dem Jahre 2000" detaillierte Angaben zu machen. Die noch im Titel angesprochene Fragestellung "Qual oder reine Lust?", die eine kritische Erörterung erwarten lässt, wird später nicht mehr erwogen (möglicherweise stammt sie von der Redaktion).

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Bornemans Ausmalungen der sexuellen Zukunft der Menschheit werden gespeist von der zeltgenössischen Ideologie von Ost und West, wonach die Wissenschaft (wohlgemerkt: so wie sie jetzt ist) allein das Heil der Menschheit bringen kann. Diese Ideologie von den phantastischen Möglichkeiten der Wissenschaft nimmt er nicht nur kritiklos hin, er übersteigert sie euphorisch bis in geradezu groteske Dimensionen, aber beileibe nicht als Kritik oder Satire. In seinem Pseudooptimismus scheint er völlig zu vergessen, dass die Menschheit trotz oder gerade wegen des "Triumphs des menschlichen Geists" doch offensichtlich ziemlich hilflos vor dem Problem steht, durch welche Wurschteleien ihr Untergang jeweils um ein paar Jahre hinauszuzögern ist. Dass Borneman dieses Problem anders sieht, hat aber sicher etwas mit seinem haarsträubenden Marxismus zu tun, den ich hier nicht untersuchen will. Hier soll es ausschliesslich um seine Sexualideologie gehen, und zwar deshalb, damit deutlich wird, warum eine Sexualwissenschaft, in die Borneman gut passt und die er mit repräsentiert, Reich gegenüber stets feindselig eingestellt sein muss.

Nachdem Borneman schon im Untertitel vom Sexualtrieb als dem Fortpflanzungstrieb spricht, beginnnt er seinen Essay wie folgt:

(5:253): "Der Traum von der besseren Zukunft ist für viele Menschen stets der Traum vom besseren Geschlechtsleben gewesen. Und das bedeutet: von verlängerter Jugend und von immerwährender Schönheit... Da die Potenz des Mannes und die Gebärfähigkeit der Frau mit den Jahren schwinden, gehört die Verlängerung der Jugend zu den ältesten und tiefsten Sexualwünschen der Menschheit. Nun hat die Altersforschung und die neue Wissenschaft von den Gründen des Sterbens gerade während der letzten Jahrzehnte solche Fortschritte gemacht, dass wir in nächster Zukunft tatsächlich mit einer Erfüllung dieser archaischen Wünsche rechnen können."

Auch die folgenden Zitate werden für sich selbst sprechen:

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(5:254): "Unter dem kombinierten Einfluss einiger Kirchenväter ... hat sich bei vielen Westeuropäern die Überzeugung herausgebildet, dass Keuschheit beim Menschen die Norm sei... Endokrinologische Untersuchungen der letzten Jahre haben jedoch zu der Vermutung geführt, dass ein Zustand permanenter Geilheit bei allen Säugetieren die Norm ist und dass nur die Wirkung bestimmter hormonähnlicher Substanzen ... zur Illusion eines keuschen Normalzustandes beim Menschen ... führt."

(5:255): "Die Pantoffelschnecke beginnt ihr Leben als geschlechtsloses Wesen, entwickelt sich dann in ein Männchen, hierauf in ein bisexuelles Wesen mit weiblichen und männlichen Genitalien und schliesslich in ein Weibchen. ... Wenn wir das nachmachen könnten, würden wir erstens unsere sexuellen Erfahrungen beachtlich erweitern, zweitens grössere Toleranz für das andere Geschlecht entwickeln, und wir könnten uns schliesslich fortpflanzen, ohne einen Partner zu benötigen. Wenn wir im nächsten Krieg zu viele Männer an der Front oder zu viele Frauen durch Bombardierung der Städte verlieren, könnte das überlebende Geschlecht sich selbständig fortpflanzen."

(5:255): "Offenbar ist die Verbindung zwischen Heterosexualität und Zeugung doch weit lockerer, als man bisher angenommen hatte. Fällt bei der Zeugung die Notwendigkeit fort, dass die Eltern verschiedenen Geschlechts sein müssen, so fallen auch die Tabus gegen Homosexualität."

(5:257): hier gerät Borneman ins Schwärmen über die Möglichkeit des sog. Klonens: "Für spezialisierte Zwecke liessen sich von besonders begabten Individuen spezialisierte Kopien ziehen: Einsteins zum Rechnen, Rembrandts zum Malen, Muhammad Alis zum Boxen und natürlich Marilyn Monroes und Casanovas zum Koitieren."

(5:258): nachdem er sich begeistert über die Methoden nichtsexueller Fortpflanzung (Motto des "Frauenbefrei-

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ers" dazu: Mit jedem Fortschritt der menschlichen Entwicklung wird die Frau wichtiger und der Mann unwichtiger) geäussert hat, beschreibt er die vierte Methode, die "Züchtung intelligenter Wesen durch Verpflanzung menschlicher Gehirne in andere Primaten. ... Ein solches Wesen wäre seinen Artgenossen gegenüber zweifellos im Vorteil... (es könnte)...im Krieg oder in radioaktiv verseuchten Kernkraftwerken eingesetzt werden."

(5:258): "Denn man kann mit relativer Wahrscheinlichkeit voraussagen, dass sich die Zielrichtung der Sexualmedizin in Zukunft von der Analyse sexueller Phänomene zu deren Synthese verlagern wird: zu der Herstellung 'idealer' Sexualpartner. ... Körpermasse und Hauttextur, Augen- und Haarfarbe könnten nach Spezifikation geliefert werden. Aber auch Stimme, Wortwahl, sexuelle Leistung (zum Beispiel die Erfüllung präziser 'abartiger' Wünsche)."

Man achte auf die ' ' bei abartig -- das ist typisch. Er schreibt auch von "angeblichen 'Lustmorden'" und favorisiert durchwegs die Perversionen gegenüber der "Diktatur der Genitalien". Perverse kann es eigentlich gar nicht geben; und es gibt sie nur, weil die Gesellschaft deren spezifische Art, Lust zu erleben, brandmarkt. Sie leiden also nicht direkt an dem, was man heute noch als Krankheit diskriminiert, sondern ausschliesslich unter der gesellschaftlichen Ächtung ihrer Eigenart.

(5:259): Mit der Entwicklung der Gen-Chirurgie schliesslich, die dem Menschen beliebige Eigenschaften verleihen können werde, "emanzipiert sich unser Geschlechtsleben von der Kategorie des Zufalls und beginnt sich in die der Planung einzuordnen." Und die berühmten Kyborgs, sie "lassen sich aber auch für ganz andere Zwecke bauen, zum Beispiel als leistungsfähigere Partner beim Geschlechtsverkehr. Ein Mann mit vibratorgetriebenem Penis wäre zweifellos ein Geschenk Gottes für zahllose Frauen."

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(5:259f): Rattray Taylor, der laut Borneman "als erster die kluge Frage nach der Identität des Kyborgs gestellt" hat, "hat aber niemals die Möglichkeit des Geschlechtsverkehrs der beiden (Kyborgs) erwogen, und gerade hier beginnen erst die Probleme... Denn bereits heute beginnen die Computer nicht nur zu denken, sondern auch schon zu fühlen.[...] Und da wir nun einmal sexuelle Wesen sind, werden wir auch -- bewusst oder unbewusst -- sexuelle Maschinen bauen. Das Resultat ... wird eine Maschine sein, die lieben kann und geliebt werden will ... Das ist sicher nicht so absurd, wie es klingt, denn..."

(5:260): Borneman kommt jetzt zu Gehirnsonden und elektronischer Steuerung der Liebe: "Die Implikationen ... liegen auf der Hand: Nicht nur kann sich jeder Mensch einen 'idealen' Sexualpartner verschaffen, indem er dessen Sexualverhalten elektronisch steuert, sondern er kann sich auch selbst mit Hilfe eingepflanzter Elektroden in jeden Zustand der Koitierfreudigkeit oder der sexuellen Ablehnung, der erotischen Ekstase oder der totalen sexuellen Apathie versetzen."

Doch an dieser Stelle (erst!) meldet sich sein Scharfsinn: "Natürlich drängt sich die Frage auf, wieso wir denn überhaupt den Umweg über elektronische Steuerung des Sexualverhaltens machen und nicht ... durch Elektrosonden in unserem eigenen Gehirn Lustgefühle hervorrufen, die ganz erheblich über das Mass der denkbar grössten Sexualekstase hinausgehen würden." Hier macht uns Borneman mit einem Gedanken seines kongenialen Kollegen Herman Kahn (der mit dem IQ=500 o.ä.) bekannt, nach dem unser Geschlechtsverkehr eines Tages nicht mehr mit Hilfe unserer Genitalien, sondern mit elektronischen Einrichtungen erfolgt, die ... "unser privat auserwählter Partner bedient."

(5:262): "...wird uns auch die weitaus kühnere Vorstellung nicht mehr überraschen, dass wir uns die Rückerinnerungen anderer Menschen ... biochemisch injizieren

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könnten. Durch orale oder intravenöse Einnahme gewisser Proteinmoleküle, in denen der Körper sexuelle Erfahrungen und Erinnerungen speichert, könnten wir uns dann das mühselige Koitieren sparen... So könnten wir z.B. die gesamten Liebesabenteuer Casanovas nachvollziehen, wenn wir ihm damals ein wenig Protein abgezapft und ... aufbewahrt hätten."

(5:262): "Durchaus im Rahmen des Möglichen wäre ein Bordell der Zukunft, in dem man mit den grossen Mätressen der Weltgeschichte oder ihren Nachfolgern psychisch verkehrt... Allerdings wäre das eine teure Absteige -- für eine winzige Oberschicht unfassbar reicher Männer. Und darin liegt des Pudels Kern." (Nur darin? Hier und an ähnlichen Stellen meldet sich Bornemans "Marxismus").

Wer meint, das alles könne doch nicht Bornemans Ernst sein, dem versichert er:

"Fast jede Aufgabe ist leichter als wissenschaftliche denn als gesellschaftliche zu lösen... [Die Zukunftsforscher] haben prognostiziert, als ob die biotechnischen Möglichkeiten bereits einer gesellschaftlichen Nutzung gleichkämen, als ob die Lösung des Problems allein schon bedeutet, dass sie der Menschheit prompt zugute kommt! In einer Gesellschaftsordnung wie unserer [andernorts bezeichnet er sie als westliche oder bürgerliche, BAL] ... stellt aber gerade die Lösung der sozialen Probleme die wirkliche Schwierigkeit dar. Es ist diese Schwierigkeit, die auch den Fortschritt der Zukunftsforschung blockiert."

(5:272): "Glück kann nur aus dem Gegensatz zum Unglück definiert werden." [sic!]

(5:274): "Die Befreiung der Frau kann nur durch die Befreiung von der Gebärpflicht erfolgen."

(5:274): "Wenn unsere Deutung der Zukunft als einer enthierarchisierten, weitgehend dezentralisierten Gesellschaftsordnung korrekt ist, dann müssen wir...

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die Diktatur der Genitalien durch eine freiheitliche, demokratische Ordnung der Körperregionen und der psychischen Zonen ersetzen."

(5:276): "Wer das Geschlechtsleben der Zukunft verstehen will, muss sich erst einmal damit abfinden, dass es in der heutigen Sexualwissenschaft bereits kein eindeutiges Geschlecht mehr gibt."

(5:278): "Die Moralprediger der Zukunft werden deshalb sicherlich argumentieren, es sei abartig, sich zum Geschlechtsverkehr zurückzuziehen oder die Sache nur zu zweit zu machen. ... Wie auch immer die Gesellschaftsordnung der Zukunft aussehen mag, das Bild des Geschlechtslebens als das einer einsamen Paarung zweier Menschen wird jedenfalls bald verschwinden."

(5:278): "In entfernter Zukunft ist es denkbar, dass sich auch die Genital- und Fortpflanzungsorgane angleichen oder sogar in doppelter Form bei jedem Menschen vorhanden sein werden. Das würde bedeuten: JEDER MENSCH KANN FÜR SICH SELBST ENTSCHEIDEN, OB ER ALS FRAU ODER MANN KOITIEREN WILL, OB ER ZEUGEN ODER GEBÄREN WILL. [...] Erst wenn die Frau ihre Kräfte nicht mehr als Gebärmaschine zu verschleissen braucht, kann ihre Mütterlichkeit sozialen Charakter annehmen. Erst dann kann die Gesellschaftsordnung nach dem Vorbild der Mutter aufgebaut werden, die ihr Kind nach seinen Bedürfnissen und nicht nach seinen Leistungen versorgt. Wer es als 'unnatürlich' empfindet, dass der Mensch nur so viel leisten sollte, wie ihm Spass macht, und doch so viel zu essen bekommen sollte, wie er braucht, der sollte logischerweise auch jede Mutter als 'widernatürlich' ablehnen, weil sie ihr Kind stillt, wenn es Hunger hat, statt von ihm erst einmal 'Leistungen' zu verlangen."

Hier zeigt sich schon ein bisschen, wie "menschlich" Borneman doch ist. Na klar! Als Marxist!

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Und so fährt er fort:

"Erst in einer solchen [mütterlichen, BAL] Gesellschaft können wir erwarten, dass die Geschlechtsbeziehungen zärtlich und befriedigend werden. Erst dann braucht der Mann nicht mehr aggressiv und die Frau nicht mehr passiv zu sein. Das wäre, verglichen mit den grossen Prognosen der sexualwissenschaftlichen Zukunftsforschung, zwar nur ein kleiner Schritt. Aber er würde genügen."

Ich glaube, jeglicher Kommentar erübrigt sich.


Literatur:

(1) Ernest Borneman: Sex im Volksmund. 2 Bände, Reinbek 1971, 1974

(2) Ernest Borneman: Das Patriarchat. Frankfurt/M 1975

(3) Ernest Borneman: Die Urszene. Frankfurt/M 1977

(4) Ernest Borneman: Psychoanalyse des Geldes. Frankfurt 1973; hier zitiert nach: edition Suhrkamp, Band 902, Frankfurt/M 1977

(5) Ernest Borneman: Sex nach dem Jahre 2000 -- Qual oder reine Lust? In: Die besten Storys aus PLAYBOY. Sonderausgabe Band 5, 1978

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Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 3,4/79, S. 87-93

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Die Utopie-Diskussion
zwischen Jef Last und Wilhelm Reich (1936)

Die folgende, unwesentlich gekürzte Diskussion zwischen dem holländischen Sozialisten Jef Last und Reich ist der Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, Band 3, Hett 3/4 (10/11), 1936, entnommen. Sie soll als Ergänzung zu den Artikeln über moderne Sexualforscher im letzten und in diesem Heft dienen.

[Jef Lasts Position]

Genosse Reich nimmt in seinem Artikel "Der Kampf um die neue Moral" in Heft 3(7) den Kampf auf mit der sogenannten "Reaktion", und zwar an erster Stelle mit der Reaktion auf sexuellem Gebiet im eigenen Lager. Ein unerhört wichtiger Kampf, der aber nur dann zum Erfolg führen kann, wenn die Argumente dieser reaktionären Richtung vollkommen richtig dargestellt werden.

Versteht aber Genosse Reich unter dieser "Reaktion" nicht nur gewisse "Fachleute" auf dem sexuellen Gebiet, sondern auch alle die, die ebenfalls in der Kulturfront stehen, dann bin ich der Meinung, dass Genosse Reich sich in seinem Artikel nur mit nebensächlichen Fragen auseinandersetzt, während er den eigentlichen Kernpunkt jener Reaktion gar nicht erkannt hat.

"Die Reaktion behauptet, wenn man das Sexualleben unbedingt bejahe, käme das Chaos." Das behauptet die Reaktion tatsächlich, aber Genosse Reich liebt Konkretisierungen, und also konkretisiert er auch, wie sich die Reaktion dieses Chaos vorstellt. Es ist die zügellose Herrschaft der unnatürlichen, asozialen und gemeingefährlichen Sexualentartungen, die als Folge einer Jahrhunderte existierenden patriarchalischen Moral und kapitalistischen Ordnung entstanden sind.

Ohne Zweifel sind diese Argumente von bestimmten Gegnern der Sexpol hier und da aufgestellt worden, aber

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es wäre vollkommen falsch, darin die eigentlichen Hauptargumente der Reaktion zu erblicken. Zur Erläuterung möchte ich auf das ausserordentlich interessante Werk des englischen Schriftstellers Aldous Huxley "Schöne neue Welt" hinweisen. Huxley führt in diesem Roman die Gedankengänge der Sexpol eigentlich ad absurdum. Er zeichnet eine phantastische Zukunftsgesellschaft, in der alle Bindungen zwischen Fortpflanzung und Sexualität gelöst sind. Die Kinder werden in Staatslaboratorien ausgebrütet, der Sexualakt als Lust dagegen ist nicht nur stärkstens bejaht, sondern der Staat tut alles, damit der sexuelle Trieb fortwährend hemmungslos und restlos befriedigt werden kann. Auch in Huxleys Roman fordert man bereits die dreijährigen Kinder auf, mit dem "Lulu" zu spielen; und bestraft werden nur diejenigen, die an sexuellen Spielen kein Vergnügen haben. Das Ergebnis ist eine scheinbar vollkommen glückliche Welt, aus der (bei genügender materieller Versorgung) jede Unzufriedenheit verschwunden ist und auch jede sexuelle Entartung. Aber jetzt kommt die Anklage Huxleys. In dieser vollkommen glücklichen Welt ist auch jede Spannung, jedes künstlerische Schaffen, jede geistige Hingabe und jede wirkliche Wissenschaft verschwunden.

Und das ist das eigentliche Argument des Gegners: Eine hemmungslose Bejahung des Trieblebens bedeute den Untergang aller Kultur, da diese nur auf einer bewussten Eindämmung und Beherrschung der Triebkräfte aufgebaut ist.

Dazu ist einiges zu sagen.

[...] ...heisst die Frage richtig stellen: Wie weit geht die Bejahung des Sexuallebens? Bedeutet sie fortwährende sofortige Befriedigung, oder schliesst sie nicht gewisse Beherrschung, eine gewisse Einschränkung ein, also doch wieder eine Moral? Jedoch wirkliche Fragestellung geht noch tiefer! Warum bejahen wir die sexuelle Lust? Weil sie natürlich

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ist? Ist das "Natürliche" schon an und für sich das Gute? Ganz gewiss ist die Natur amoralisch. Muss nun der Mensch sich der Natur, oder die Natur sich dem Menschen unterwerfen? Ist der Mensch nicht gerade Herrschaft über die Natur und ihre blinden Kräfte? Ist es nicht letzten Endes Zweck und Sinn des Marxismus, dass der Mensch über die Natur herrschen soll? Ein bekannter englischer Sexualforscher behauptete in dieser Zeitschrift, der Mensch sei sexualbiologisch polymorph-pervers. Öffnen wir nicht jeder Willkür die Tür, wenn wir jede sexuelle Eigenart, die uns nicht passt, einfach "unnatürlich" nennen? Kommen Sadismus und Masochismus nur unter dem Kapitalismus vor, oder auch bei Völkern, die noch nicht einmal die patriarchalische Gesellschaftsform kennen? Existiert nicht vielleicht in jedem "natürlichen" Menschen, neben dem heterosexuellen, auch ein homosexueller Trieb, wie er ja bei allen Völkern -- unter sehr verschiedenen ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnissen -- zu finden ist?

Wahrscheinlich antwortet Genosse Reich: Wir bejahen die sexuelle Lust, nicht weil sie natürlich ist, sondern weil sie Glück bringt. Es ist aber zwischen Wollust und Glück ein sehr grosser Unterschied. Ohne Zweifel bereitet das Spielen mit dem Lulu der dreijährigen Ruth Wollust. Bleibt sie aber auf dieser physischen Freude stehen und lernt niemals den Eros kennen, lernt niemals die psychischen Freuden der Jagd danach, der Sehnsucht danach, der Werbung kennen, wird sie dann nicht unglücklich werden?

Von der Mathematik sind nur wenige glücklich geworden, sagt Genosse Reich. Ist aber damit die Mathematik schon verurteilt? Es ist eine Tatsache, dass die tiefste Kunst aus einer offenen Wunde fliesst. Welcher Künstler aber wird seiner Kunst fluchen, weil sie ihn nicht glücklich gemacht hat? Da sind wir wieder bei der alten Frage der Reaktion:

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Kann die Kultur, kann alles, was höher als das Glück steht: Kunst, Recht, Wissenschaft, Wahrheit, bei bedingungsloser Bejahung der Sexualität gedeihen? Ich glaube, Genosse Reich, dass nur sehr wenige Holländer, die meine Schriften kennen, mich zur "Reaktion" auf sexuellem Gebiet rechnen werden. [...] Ich bin ein Feind jeder Überspannung, aber Spannungen möchte ich, auch im Sexuellen, nicht entbehren. Solche Spannungen entstehen aber nur aus dem Willen, mit dem der Mensch seine, an und für sich blinden (natürlichen) Triebe einer gewissen Ordnung unterwirft. Also doch wieder eine gewisse Moral? [...] Was denken Sie zu folgenden Grundsätzen: Erlaubt ist, was weder dem Partner, noch seiner Arbeit und seinem Kampf für die sozialistische Gesellschaft und ihrer Kultur schadet! [...] Keine Sexualität ohne Liebe!

Reichs Antwort:

Huxley schildert in seinem Roman "Schöne neue Welt" wirklich eine "phantastische Zukunftsgesellschaft". Die Sexpol aber ist keine auf Phantasterei aufgebaute Spekulation, sondern eine auf wissenschaftlicher Erkenntnis basierende Politik, welche sich nicht damit begnügen kann, Schilderungen und Dichtungen einer Zukunftsgesellschaft zu geben, sondern deren ganz konkretes Ziel es ist, die realen Schwierigkeiten der Gegenwart zu erkennen, um über ihre Zerstörung hin den ersten Schritt zur Umstrukturierung der Gesellschaft zu wagen. So kann die Sexpol sich nicht auf spekulative Gedankengänge einlassen, sondern muss -- auf wissenschaftlicher Basis fussend -- den Weg gehen, der langsam von Schwierigkeit zu Schwierigkeit, von Problem zu Problem vordringt. -- Uns ist es noch nicht möglich, ein Bild von einer "Zukunftsgesellschaft" zu entwerfen. Uns interessiert die Not unserer gegenwärtigen Gesellschaft und die Aufgabe, die diese Not uns stellt, ist so gross, dass wir keine Zeit haben, von Idealen zu träumen. Dass aber Huxleys Vorstellung

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von der "Zukunftsgesellschaft" unwissenschaftlich und illusorisch ist; dass eine Gesellschaft, in der Sexualität und Fortpflanzung von ihrer durch die patriarchalische Moral geschlossenen Bindung gelöst, ein völlig anderes Bild zeigen muss als das von Huxley geschilderte, den Beweis haben die Forschungsergebnisse der Charakteranalyse bereits gebracht.
[...]
Die Sexualität ist, wie die Forschung ergeben hat, ein natürlicher, biologischer Lusttrieb, der von Geburt an im Menschen ist. Der erste Akt des Neugeborenen, noch bevor es die Mutterbrust bekommt und Nahrung zu sich nimmt, ist der, an den Fingern zu lutschen, um sich Lust zu bereiten. -- Aber ein Jahrtausende dauernder Prozess hat die völlige Unterdrückung der selbständigen und nur auf Lustgewinnung gegründeten Sexualität gefordert und die -- was das Sexualleben betrifft entarteten und degenerierten -- Menschen gezwungen, eine Verkoppelung des Sexualtriebes mit dem Fortpflanzungstrieb vorzunehmen und da, wo dies nicht möglich ist -- in der Kindheit -- die Sexualität ganz zu leugnen.

Kein Trieb des Menschen aber ist, wenn er sich gesund reguliert, so an den rhythmischen Wechsel von Spannung und Entspannung gebunden wie gerade der gesunde Geschlechtstrieb. Und kein Trieb des Menschen wirkt so befruchtend und anregend auf seine Produktivität, sowohl in Bezug auf künstlerisches Schaffen als auf wissenschaftliche Arbeit, wie der Geschlechtstrieb, der eine Bejahung erlebt.

So würde die Sexpol, wenn sie die Zukunftsgesellschaft schildern wollte, gerade zu entgegengesetzten Schlüssen kommen wie Huxley: Die Menschen, welche frei von Schuldgefühlen zu ihrem Sexualleben stehen und unabhängig von wirtschaftlichen Miseren ihren gesunden, natürlichen Trieb lustvoll befriedigen könnten, würden nicht wie bei Huxley

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jede Spannung entbehren, sondern ihre Spannungen wie deren Lösungen bewusst erleben. Und aus der bewussten Bejahung ihrer Bedürfnisse und deren Befriedigung würde eine neue Kultur aufblühen. Kunst wäre nicht mehr Privileg einiger Auserwählter, sondern die Masse würde fähig werden, sie zu geniessen! Auch die Details wie die Geburten in Staatslaboratorien (oder) die Ermahnung der Kinder, mit ihrem "Lulu" zu spielen, würden unter dem Gesichtswinkel des biologischen Lusttriebes genau umgekehrt aussehen: Denn auch Gebären kann eine Lust sein, und onanieren ist in einem bestimmten Alter ein natürlicher Vorgang, zu dem man nicht "aufzufordern" braucht. Und eine "Strafe für diejenigen, welche sich nicht an sexuellen Spielen beteiligen wollen", scheint den Faktor des vorhandenen Triebes oder Bedürfnisses nach Lustgewinnung ganz übersehen zu haben.
[...]
Wir bejahen die sexuelle Lust nicht nur, weil sie "natürlich" ist, Jef Last, wir bejahen sie, weil sie Lust ist und lehnen es ab, uns mit irgendeiner Begründung, Lust zu bejahen, zu entschuldigen. Sie haben Angst, dass "Sehnsucht und Werbung" verloren gehen, wenn man "auf der physischen Freude stehen bleibt". Sie fürchten, dass man "den Eros niemals kennen lernt, wenn man nicht seine Triebe einer gewissen Ordnung unterwirft". Sehnsucht und Werbung entstehen nicht durch eine moralische Schranke, die der Mensch sich setzt, sondern aus dem Gegenspiel der Partner, deren Bedürfnisse ja nicht immer gleich zu sein brauchen. Eros ist nicht auf Verzicht und Versagung angewiesen, sondern bei einem gesunden Geschlechtsleben bringt jede sexuelle Lust auch eine Liebesbindung und jede Liebe den Wunsch nach sexueller Vereinigung mit sich.

Trotz dieser Tatsache lehnen wir es ab, einen "Grundsatz" wie den von Ihnen vorgeschlagenen "Keine Sexualität ohne Liebe" aufzustellen. Bei Jugendlichen ist es ein ganz natürlicher Prozess, der sich auch

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im späteren Leben bei Partnerwechsel zuweilen vollzieht, dass der Partner oft gewechselt und nicht immer mit Anspruch auf Dauer geliebt werden muss. Dies ist ein Übergang, der sich längere oder kürzere Zeit hinziehen kann.

Der einzige Grundsatz, den man im Sexualleben gelten lassen könnte -- wenn es unbedingt Grundsätze sein müssen -- wäre, dass man seine Bedürfnisse so befriedigt, dass für beide Partner die grösstmögliche Lust entsteht.

Wir öffnen mit unserer Einstellung zur Frage des Sexuallebens nicht "jeder Willkür die Tür", sondern die Ergebnisse der charakteranalytischen Praxis beweisen bereits heute, dass -- wo es gelingt, die durch bürgerliche Sexualmoral in Jahrtausenden aufgebauten Panzerungen zu durchbrechen -- sich im gesunden Menschen eine Fähigkeit zur "sexualökonomischen Selbststeuerung", zur Regulierung des Verhältnisses zwischen Befriedigungsbedürfnis und Befriedigungsfähigkeit herausbildet, und dass, wenn die gesunde Genitalität im Menschen freigelegt ist, sein sexueller Haushalt sich durch seine vegetativen Ansprüche selbst regelt, ohne die Moral in Anspruch zu nehmen.

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