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Wilhelm-Reich-Blätter

Inhalt:
Zu Dieter Duhm (Buchrezension und Briefwechsel)
[Otto Mühls] Aktions-Analytische Organisation
Ein letzter Brief von Dieter Duhm
Bhagwan - der "Guru des Sex"

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Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 2/76N, S. 51N-57N

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Zu Dieter Duhm

Dieter Duhm ist sicher vielen Lesern dieser Blätter als Buchautor ("Angst im Kapitalismus" u.a.) bekannt. Er gehört zu den "älteren" unter uns, also jenen der Jahrgänge 40-45, die noch die Zeiten aktiv miterlebt haben, als Wilhelm Reich innerhalb des SDS wiederentdeckt wurde, als dann durch die Empörung über das Dutschke-Attentat der SDS von Mitgliedern überflutet wurde, sich dann erst in eine autoritäre und eine antiautoritäre Fraktion spaltete, von denen nur die autoritäre -- wiederum in mehrere Fraktionen zerspalten -- bis heute überlebte. Eine nicht-autoritäre Fraktion oder eine Reich-Fraktion hat es nie gegeben, wohl aber später hier oder da einige Sexpol-Gruppen.

Mein Eindruck ist jedoch, dass man nie viel mehr tat, als zu althergebrachten ökonomistisch-linken Ideologien einige Theorien von Leuten hinzuzufügen, die sich selbst zeitweilig als marxistische, sozialistische, kommunistische oder kritische Soziologen, Psychologen, Pädagogen oder Philosophen betrachteten. So kam es, dass eine Zeit lang Marcuse und Reich, Rühle und Makarenko, Bernfeld und Horkheimer und etliche andere viel gedruckt und gelesen wurden. Theoretisch oder gar praktisch ging es trotzdem kaum vorwärts; die auch heute noch aktuellen Gründe dafür sollen jedoch hier nicht erörtert werden. Heute scheint es jedenfalls, als sei das meiste von dem, was einst kurz aufgeflammt ist, wieder verschüttet. Die politischen Begriffe links und rechts sind sinnleerer denn je, und Vorstellungen vom "Neuen Menschen", Absterben des Staates, Emanzipation usw., die einst den europäischen revolutionüren Bewegungen Hoffnung und Schwung gaben, sind nicht mehr modern. Wie könnten sie es nach all den Erfahrungen dieses Jahrhunderts auch noch sein...

Für all diejenigen, die aus diesen Erfahrungen nichts gelernt haben, die sich an ihr reduziertes Menschenbild klammern, und die noch immer mit einer unkritisch übernommenen Theorie aus dem vorigen Jahrhundert "die Revolution machen" wollen, für all diese ist das letzte Buch von Dieter Duhm geschrieben:

DER MENSCH IST ANDERS -- Besinnung auf verspottete, aber notwendige Inhalte einer ganzheitlichen Theorie der Befreiung. Kritik am Marxismus. Beiträge zur Korrektur. Verlag Kübler KG. 14 DM

Aber auch für Reichianer und Reichologen ist das Buch lesenswert, als Anregung und zur Übung des Kritikvermögens.

Der nachfolgend abgedruckte Briefwechsel ist insofern interessant, als er auch die Entwicklung von Dieter Duhm seit Abfassung des Buchtextes aufzeigt. Denn im Buch kommt Reich m.E. viel zu kurz. Wenn Duhm von der "erotischen Dimension des Faschismus" schreibt, zieht er Karin Struck zu Rate, und bei seinen Ausführungen über den Orgasmus zitiert er Bataille. Reich bleibt in beiden Fällen unerwähnt. Im Literaturverzeichnis ist von Reich nur "Was ist Klassenbewusstsein?" angegeben.

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Und: "Man sagt, Reich sei am Problem der Sexualität ausgeflippt und selbst psychotisch geworden... aber ich glaube, dass sie (die Orgontheorie, B.A.L.) aktueller ist als alles, was sonst von wissenschaftlicher Seite zum Thema Eros und Sexualität gesagt worden ist". Schade, dass Duhm mit dem Buch nicht noch ein halbes Jahr gewartet hat!

Auf die von Duhm in einem Brief angekündigte Kritik bzw. seinen Fragenkatalog zu Reich dürfen wir gespannt sein; denn trotz aller Begeisterung für die Orgontheorie, die hier und da aufflackert und genauso schnell wieder verschwinden kann (siehe im Artikel von E. Wengel in diesem Heft: "...aber was bleibt denn dann?"), sollten wir nicht vergessen, dass die grössere Bedeutung Reichs doch letztlich auf philosophischem und politischem Gebiet liegt. Um da aber zu einer fundierten Praxis zu kommen, bedarf es noch viel Arbeit. Und da die Zehntausende von Wissenschaftlern, Professoren und Doktoren, die in aller Welt mit grosser finanzieller Unterstützung jahrein jahraus ungeheuer wichtige Probleme erforschen und lösen, auf diesem Gebiet nicht tätig werden, müssen es ein paar arbeitende Leute in ihrer Freizeit versuchen. So ist die Lage, so war die Lage für Reich. Irre? Ja. Aber nicht wir, nicht Reich!

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18.01.76
Bernd A. Laska:

Lieber Herr Duhm,

ich habe Ihr neues Buch "Der Mensch ist anders" gelesen und begrüsse es sehr, dass Sie dieses [anthropologische] Thema aufgegriffen haben, zumal sie wohl eine gewisse Autorität in weniger dogmatischen linken Kreisen haben.

Allerdings kann ich Ihre Hoffnung nicht teilen, die grossen asiatischen Systeme könnten einen positiven Beitrag zu einer Theorie der Befreiung leisten. Auch bin ich nicht der Ansicht, dass deren Philosophien nichts mit den seit jeher entsetzlichen gesellschaftlichen Wirklichkeiten dieser Länder zu tun haben. Der Zusammenhang ist genauso gegeben wie bei uns im Abendland. Auch hier erscheint vielen die christliche Lehre "an sich" als "gut", die Praxis aber als "böse". Vordergründig erscheint dann der Schluss logisch, mit den Menschen hier stünde es noch viel schlimmer, wenn es das Christentum mit seinen moralischen Forderungen nicht gegeben hätte bzw. gäbe. Analoge Ansichten gibt es auch über die marxistische Lehre: "richtiger" Marxismus sei "gut", aber überall in der Praxis gäbe es keinen richtigen, wie einsichtigere Marxisten zugeben.

Der Zugang zur (erst einmal theoretischen) Lösung dieses fundamentalsten der Menschheitsprobleme aller Kulturen ist m.E. nur möglich über Reichs Erkenntnis: "Die zwangsmoralische Regulierung des Trieblebens erzeugt gerade das, zu dessen Bekämpfung sie sich berufen fühlt -- das asoziale Triebleben." Nun, der Satz allein ist vielleicht auf Anhieb noch nicht besonders überzeugend. Es ist jedoch im Rahmen eines Briefes nicht möglich, die zugrundeliegenden klinisch-wissenschaftlichen Tatsachen und die Folgerungen für Theorie und Praxis in ein paar Sätzen zusammenzufassen.

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Fest steht (für mich), dass man mit Reich das Gemeinsame all dieser äusserlich so verschiedenen Ideologien theoretisch erkennen und praktisch belegen kann: den Zwang. Auch das steht nun erst mal als Wort hier, dessen Bedeutungsgehalt nicht für jeden gleich ist. Zum Verständnis dessen, was Zwang (und somit auch Freiheit) real bedeuten, erfährt man Wesentliches nur bei Reich, denn er geht über philosophische Definitionen hinaus; mir ist kein Autor bekannt, der dies auch tut.

Im Zusammenhang "Mystizismus, asiatische Lehren" seien hier zwei Zitate von Reich erwähnt:

"Wird es der Naturwissenschaft gelingen, die Fragen wirklich zu lösen, die die Beziehung zwischen Körper und Seele betreffen, d.h. sie derart bewältigen, dass sich daraus auch menschliche Praxis und nicht nur Salonphilosophien ergeben werden, dann hat auch die Stunde des transzendentalen Mystizismus, des 'absoluten, objektiven Geistes' und mithin auch die Stunde aller Ideologien geschlagen, die unter Religion im engeren und weiteren Sinne verstanden werden." (Am Ende von "Psychicher Kontakt und vegetative Strömung", 1935, das auch als Kapitel in "Charakteranalyse", 1970, enthalten ist).

"Die klinischen Tatbestände, die ich hier zu schildern versuche, eröffnen eine weite Perspektive für das Verständnis derjenigen menschlichen Kulturen, in denen strengstes familiäres Patriarchat, schärfste Sexualunterdrückung der Kleinkinder und Jugendlichen und die Ideologie der Verschlossenheit und 'Selbstbeherrschung' im gesamten Kulturkreis eine Einheit bilden. Dies trifft zunächst für die Inder, Chinesen und Japaner zu. [...] ...erfordert die Ideologie der Selbstbeherrschung, der Kraft, auch bei grösstem Schmerz keine Miene zu verziehen; mehr: es erfordert die Überwindung des Affektlebens überhaupt, der Lust sowohl wie des Leidens. Dies ist in Buddhas Ideologie der Leidlosigkeit restlos gegeben. Von hier aus werden auch die Atemübungen der Yogi verständlich. Die Technik des Yoga-Atemzeremoniells ist das genaue Gegenteil der Atemtechnik, die wir bei unseren Kranken anwenden, um die vegetativen Affekterregungen wieder frei zu bekommen." (in "Funktion des Orgasmus", Köln 1969, S. 308)

Leider bewegen sich auch die modernen Theorien zur Befreiung des Menschen (zeitgemäss auch oft "wissenschaftliche Weltanschauung" genannt) auf den gleichen ausgetretenen Wegen, die seit eh und je in die Unfreiheit geführt haben. Die Praxis führte denn auch regelmässig zu Zwangssystemen, die das unsere hier weit übertreffen. Reich hat am Beispiel der Sowjetunion das gleichzeitige Erstarken des Stalinismus und das Anwachsen sexueller Repression dargestellt. Wenn heute in China das Heiratsalter auf 28 Jahre festgelegt, voreheliche Enthaltsamkeit gefordert und obendrein noch die Selbstbefriedigung ideologisch bekämpft wird, so kann man gesellschaftlich kaum etwas anderes erwarten, als das, was Reich "Roter Faschismus" genannt hat.

Ich möchte noch das Problem erwähnen, dass heute viele Leute in Abkehr von der "Leere der technologischen Zivilisation" sich in Mystizismus und Okkultismus flüchten, von der Reich-

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schen Theorie aber wenig wissen wollen, auch wenn sie früher als Linke schon mehr oder weniger mit ihr vertraut waren. Schlimmer noch: manch einer versucht die ganz grosse Synthese aus möglichst vielen esoterischen Lehren und Reich. Das hängt wahrscheinlich eng mit dem Problem der Autorität zusammen. Reich gibt keine Handlungsanweisungen, steht allein und ist (wohl gerade auch deshalb) nicht anerkannt. Er befriedigt nicht die (sekundären) Bedürfnisse derer, die ihn lesen und die nicht auf Erkenntnis und Änderung gerichtet sind, sondern eher auf so etwas wie Erlösung. In seinem Buch "The Murder of Christ" schreibt Reich darüber.

Das grösste Problem heisst natürlich auch mit Reich: Was tun? Ein Konzept für die politische Praxis zu entwickeln und danach zu handeln ist immer noch das schwierigste, wenn man sich nicht mit illusionären Vorstellungen selbst täuschen oder blinden Aktionismus als Selbstzweck treiben will. Aber dazu bedarf es einiger Arbeit und "Besinnung auf verspottete, aber notwendige Inhalte einer ganzheitlichen Theorie der Befreiung."

Mit freundlichen Grüssen
gez. Bernd Laska

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Dieter Duhm:
28.01.76

Lieber Bernd Laska,

danke für brief und WR-blatt. Das trifft sich gut! Ich wollte ohnehin kontakt aufnehmen zur gegenwärtigen Reich-forschung. Die WR-blätter möchte ich abonnieren. Können sie mir noch je ein exemplar von 1975 zuschicken? Für 1975 und 1976 überweise ich 20.- DM auf das angegebene konto.

Der gegenstand meines buches führte mich konsequent zur beschäftigung mit Wilhelm Reichs sexualökonomie und orgontheorie, die ich dann ab juni 1975 intensiv aufnahm. Ich dachte an einen fortsetzungsband, wo ich Reichs theorie als hypothetische erklärungsmöglichkeit für die aufgeführten yogischen, parapsychologischen, spirituellen und erotischen phänomene anbieten wollte. Tatsächlich zeigt ja z.b. der yoga einen sehr deutlichen energetischen aspekt, etwa im kundalini-yoga oder in der lehre vom prana (eine art kosmischer lebensenergie). Ich hatte selbst schon vorher den eindruck, dass es sich bei den östlichen befreiungspraktiken irgendwo um gesellschaftlich bedingte umwege handle (das trifft nicht den wahrheitskern der philosophie, sondern den praktischen weg) und dass der schlüssel zu einem direkteren weg der befreiung bzw. vereinigung in der sexualität liegen könnte. Wenn sie meine ausführungen über die liebe gelesen haben, werden sie verstehen können, wie sehr ich mich dann durch Reich bestätigt fühlte. Der gedanke, dass eine bioenergetische lockerung des organismus ("orgonotische erstrahlung") den mystischen vereinigungserlebnissen zugrundeliege und dass der orgastischen funktion hier eine schlüsselbedeutung zukomme, schien mir

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aufgrund meiner eigenen erfahrungen so einleuchtend, dass ich mich voller hoffnung auf diesen forschungstrip begab. Ich setze meine hoffnung auch lieber auf eine befreiende sexualität als auf esoterische mystik. Und es ist mir auch klar, dass die gottsuche und die praktische mystik in der menschheitsgeschichte einen ganz anderen verlauf genommen hätte, wenn die sexualität frei gewesen wäre (dass sie dann aber ganz weggefallen wären, glaube ich kaum).

Neurosebildung aufgrund körperlich ablaufender verdrängungsprozesse, die dann zum körperpanzer führen; körperpanzer als bioenergetische blockade, die den organismus gegen seine umwelt abkapselt und damit die realisierung der im menschen liegenden möglichkeiten verhindert -- das schien mir eine wissenschaftlich überprüfbare theorie, aus der sich für die emanzipation gewaltige perspektiven ergaben (glaube ich auch heute noch). Also machte ich mich ans werk, las gründllch die drei bücher DIE FUNKTION DES ORGASMUS, DER KREBS und CHARAKTERANALYSE (erweiterte ausgabe bei Fischer), überprüfte die theoretische entwicklung, die notwendigkeit und zulässigkeit der schlussfolgerungen, die art der hypothesenbildung und -überprüfung. Es verstärkte sich der eindruck: das ist sensationell, da liegt ein forschungsansatz von unabsehbarer bedeutung. Aber ich entdeckte auch eine reihe von sehr kritischen punkten: schlussfolgerungen, die nicht wirklich zwingend waren, unzulässige verallgemeinerungen, eine gewisse philosophische enge in der interpretierenden phantasie, voreilige und etwas apodiktische verkündung von wahrheiten, die noch zu schwach belegt sind (was teilweise sehr deutlich zusammenhängt mit Reichs einzelkämpferposition, aber auch mit dem riesenhaften, für einen einzelnen kaum tragbaren charakter seiner entdeckungen). Ich werde jetzt die bücher noch einmal durcharbeiten und eine ausführliche kritik bzw. einen fragenkatalog dazu schreiben. Ich schicke Ihnen dann eine durchschrift.

Auf der grundlage von Reich sind für mich einige teile der östlichen philosophie (aber auch der mythen und mysterienweisheiten anderer kulturen) doch sehr interessant geblieben -- als ahnungen, die ohne zwang nicht aufgehen in der sexualökonomischen rechnung, als mahnung zu gelassener umschau und vorsichtigem urteil bei der suche nach wahrheit, identität und befreiung. Die religiöse mystik (betrachtung von natur, leben und kosmos gleichsam von innen her) stellt einen präzisen und durchgehenden strang in der menschlichen bewusstseinsgeschichte dar, der mit weit mehr erfahrung und bewährungsproben belebt ist als die bedeutung der orgastischen potenz. Was historisch immer wieder so gewaltig durchbricht und dabei in den grundzügen beinahe ein konstantes gesicht zeigt, weist mich auf ein naturgeheimnis hin, das mir zunächst einmal achtung abnötigt. Auf einmal kam ich mir töricht vor bei dem versuch, die alten weisheiten unter Reichs theorie zu subsumieren. Als würde ich gerade einen fehler wiederholen, den alle dogmatiker machen und der irgendwie auch zusammenhängt mit dem, was bei uns unter einem wissenschaftlichen "system" verstanden wird: die fülle der realität auf ein prinzip, einen knotenpunkt, einen gedanken (!) zu reduzieren. Dieser reduktionismus war bei Marx am werk, er

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ist es auch bei reich. Er ist zweifellos ein produktives prinzip, denn er bietet arbeitshypothesen, die in einem sehr kreativen spannungsverhältnis zur realität stehen und zur überprüfung eine äusserst gescheite und präzise gedankenarbeit verlangen. Er ist aber auch -- unsere zwanghafte neigung zu festen wahrheiten und identitäten vorausgesetzt -- ein sehr gefährliches prinzip, denn er verführt eben doch dazu, phänomene, die nicht ins system hineinpassen, zu vernachlässigen, zu verdrängen, zu diffamieren. Auf diese weise ist grösster wissenschaftlicher eifer oft verbunden mit einer historischen und philosophischen leichtfertigkeit und verengtheit, die wir uns heute nicht mehr leisten können. Der zwang, den sie meinen, steckt uns allen -- auch Reich, auch ihnen -- noch ganz schön in den knochen. Gerade die einsicht in seine neurotische lagerung, gerade das bewusstsein von der bedeutung der Reich'schen theorie hinsichtlich der entlarvung solcher zwänge, sollte uns vorsichtig machen gegenüber allem zu früh und zu laut gefällten urteil. Was ist denn, wenn im versenkungserlebnis des mystikers, im samadhi-erlebnis des yogi, im präkognitionserlebnis des parapsychisch begabten mediums, im gang des fakirs durchs feuer oder in Wilhelm Reichs forschungsgeist eben doch eine dimension menschlicher existenz wirksam ist, die von der "vollen orgastischen potenz" noch gar nicht berührt wird? Wenn das prinzip des geistigen oder seelischen, wie es in allen religionen und esoterischen wegen durchklingt, doch eine kraft beinhaltet, die nicht zu reduzieren ist auf bewegungen und strömungen im körperplasma? Wenn leben, menschliches zumindest, doch mehr ist als die spanne bis zum tod? Es spricht einiges dafür, ich hab's im buch zu zeigen versucht.

Angesichts dieser ungeklärten dinge und angesichts des überwältigenden historischen erfahrungsmaterials zum thema mensch halte ich es keineswegs für so abwegig, nach der "ganz grossen synthese" aus mystischen lehren und Reich zu suchen. Unser zukünftiges selbstverständnis wird auf eine art synthetisierende zusammenschau hinauslaufen müssen, wenn wir nicht wieder beim repressiven entweder-oder (repressiv, solange wir mit der wissenschaftlichen untersuchung des lebens noch so am anfang stehen) und bei der dogmatischen festlegung stehen bleiben wollen. Die befreiung des menschen ist ein abenteuer, das wir inhaltlich noch kaum festlegen können, solange wir noch nicht mehr wissen über die gesetzmässigkeiten, kräfte und möglichkeiten des menschlichen organismus sowie über die möglichkeiten und wege ihrer ent-deckung und befreiung. Der weg, den uns Reich gewiesen hat, wird eine wichtige historische etappe sein, aber er wird ganz sicher zu neuen, verschlossenen toren führen und neue fragestellungen herausfordern. Man denke bloss an die moderne physik! Der wissenschaftliche geist wird dabei in ein gelände vorstossen, wo ihm seine eigenen entdeckungen etwas mehr bescheidenheit und behutsamkeit abnötigen werden als bisher. Der gegenwärtige wissenschaftsbetrieb ist mir auch an seinen besten stellen (Reich) zu laut und zu eng. Die historischen strömungen, die sich in unserem bewusstsein (bewusst oder unbewusst) kreuzen oder überlagern, bilden für mich ein spannungsfeld, das uns zu einer anderen art von suche und identitätsfindung heraus-

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fordert: nicht indem wir uns nach dem ersten aufleuchten unseres geistes auf diese oder jene seite schlagen, sondern indem wir den geist an verschiedenen stellen aufleuchten lassen und es lernen, im verwirrenden zusammenhang dieser stellen unsere prozessierende, unfertige, offene mitte zu finden. Emanzipation auch durch bewusstes akzeptieren der spannungen und durch die einsicht, nicht mehr tun zu können, als immer nur einen relativ kleinen schritt.

Reich ist einer von denen, die mir mut gemacht haben, solche schritte zu tun gegen alle vorurteile und diffamierungen der umwelt. Kein forscher hat mich menschlich so überzeugt wie er. Aber bei aller entschlossenheit, seinen weg auszuprobieren, weiss ich doch, dass ich mich nicht auf ihn beschränken kann; dazu ist das gelände, auf das ich gestossen bin, zu voll von möglichkeiten und überraschungen. Auch meine vorstellungen von sozialistischer politik sind in vehementem fluss. Ohne es schon theoretisch begründen zu können, gerate ich immer mehr in die nähe eines kommunitären anarchismus (auch für die wissenschaft, was auch eine andere weise der theoriebildung mit sich brächte), wo auf der grundlage eines anderen natur- und geschlechterverhältnisses die erfahrungs- und überzeugungskraft entstehen könnte, die wir für den kampf und für die verbreitung überzeugender alternativen brauchen.

Ich freue mich auf die blätter.
Schönen gruss

gez. Dieter Duhm

Anmerkung von B.A.L.1978 [anlässlich eines Nachdrucks der WRB]:
Der angekündigte Fragenkatalog bzw. die ausführliche Kritik zu Reich sind bis heute nicht eingetroffen. Dieter Duhm hat inzwischen eine Blitzkarriere bei der AAO (s. hierzu WRB 3/76) hinter sich, wo offenbar nicht diese "gewisse philosophische Enge" und andere im Brief angesprochene Unzulänglichkeiten herrschen. (B.A.L.)

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Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 3/76, S. 42-43

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Die Aktions-Analytische Organisation
Wien [AAO, Otto Mühl]

von Bernd A. Laska

Aktueller Anlass, etwas über AA zu schreiben, ist einmal die Selbstdarstellungsreise einer Gruppe von etwa acht AAO-Mitgliedern durch die Bundesrepublik in der zweiten Maihälfte und zum anderen die ab und zu hier eintreffenden Anfragen über etwaige Zusammenhänge zwischen AA-Praxis und Reich'scher Therapiemethode.

Aufgrund der Schriften der AAO und dem Besuch der AA-Veranstaltung in Nürnberg, auf der auch ein 40-minütiger Film gezeigt wurde, habe ich den Eindruck gewonnen, dass sich die AA weder praktisch noch theoretisch spezifisch an Reich orientiert; wohl aber wurden eklektisch einige Elemente von Reich oder anderen moderneren Körpertherapieformen in das Repertoire der AA übernommen. Ein wesentlicher Teil der AA, die sog. Selbstdarstellung vor der Gruppe, scheint mir sehr oberflächlich und schauspielerhaft. Aus dem Film und dem Auftreten der Gruppe hatte ich den Eindruck, als würden bei der AA nur einige Hemmungen wegkonditioniert. Was im Einzelfall darüberhinaus noch passieren mag, wird eher Resultat unkontrolliert ablaufender Gruppenprozesse als gewünschtes Ergebnis gezielter therapeutischer Bemühungen sein.

Wenn die AAO in der Zweierbeziehung bzw. Kleinfamilie die Wurzel allen Übels sieht, so muss die Alternative nicht der rigorose Kollektivismus sein, auf dem das gesamte Leben in den AA-Gruppen aufbaut. Es scheint doch etwas zu hoch gegriffen, wenn die AAO behauptet, ein lebendiges Gesellschaftsmodell darzustellen, in dem u.a. freie Sexualität und direkte Demokratie schon jetzt praktisch verwirklicht sind.

Dadurch, dass die Gruppe beschlossen hat, dass jeder die AA-Glatze zu tragen hat, die gleiche Art Kleidung anziehen muss, keinen privaten Besitz haben darf und strenge Verhaltensvorschriften einhalten muss, versucht man zwanghaft, das ohnehin unsinnige Ideal der Gleichheit (das allerdings nicht nur in der AA-Theorie herumgeistert) zu verwirklichen. Hier ist auch das einzuordnen, was in der AAO als freie Sexualität gilt: durch den sog. "Wochen-Fick-Plan" und andere Regelungen

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soll das Entstehen von Zweierbeziehungen im Keim erstickt werden.

Ich glaube nicht, dass man die Probleme, die in einer tieferen emotionalen Beziehung auftauchen, dadurch lösen kann, dass man solche Beziehungen einfach verbietet. Irgendwie erinnern mich solche Techniken auch an Aspekte der Kindererziehung in israelischen Kibbuzen, die ja auch von einem kollektivistischen Ideal geleitet ist und m.E. ein emotional reduziertes Individuum hervorbringt.

Dass nun in der AA-Gruppe der "Gleichen" einige doch "gleicher" sind als andere, ist zu erwarten, allerdings aus den Schriften nicht zu erschliessen. Eine besondere Autorität haben sicher der AA-Gründer Otto Mühl, der einst als Happening-Künstler (u.a. schlang er gern die Därme eines öffentlich geschlachteten Schweins um sich) eine gewisse Berühmtheit erlangte, sowie die von ihm (und natürlich der Gruppe) lizensierten Therapeuten. Ob das Aufsteigen in dieser Hierarchie (des "Gesundheitsgrades") nicht nach ähnlichen Mechanismen wie in der "normalen" Welt erfolgt, möchte ich bezweifeln. Eher glaube ich dagegen, dass es gelingt, in den AA-Arbeitsgruppen die Leiter nach vorwiegend sachlichen Kriterien zu bestimmen.

Die Geschichte der AAO beginnt mit der Gründung der AA-Kommune 1970 in Wien. Sie ist seitdem ständig gewachsen und besteht jetzt aus 160 Erwachsenen und 10 Kindern. Zur Zeit sieht sie ihre vordringlichste Aufgabe "in der Verbreitung von AA-Bewusstsein". Etwas voreilig finde ich, dass sie sich schon jetzt Gedanken über die AA-Weltorganisation macht. Danach ist die kleinste organisatorische Einheit die AA-Gruppe (50 Menschen). Weiter geht es mit dem AA-Dorf (500 Leute) und immer grösseren Einheiten durch Multiplikation mit 10, bis man beim AA-Kontinent (500 Mio Leute) ankommt.

So einfach, wie die AA-Theorie individuelle Probleme lösen zu können glaubt, so einfach sind auch die gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen mit etwas nicht entfremdeter industrieller Produktion und globaler freier Sexualität.

Mehr Informationen: AA-Verlag / Postfach 3 / A-7100 Neusiedl

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Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 1/77, S. 23-24

Dieter Duhm
25.11.76

Lieber Bernd Laska

danke für den brief [Anfrage wegen des im Brief vom 28.01.76 angekündigten Fragenkatalogs zu Reich]. Ich wollte ohnehin schreiben. Meine auseinandersetzung mit Wilhelm Reich ist so ausgeufert, dass ich zur formulierung eines möglichst knappen und präzisen fragenkatalogs und einer argumentationssammlung, wie ich sie damals angekündigt hatte, noch nicht fähig bin. Ich kann mich nicht mehr mit Reich beschäftigen, ohne mich gleichzeitig mit Aurobindo, C.G.Jung und vielem anderen auch zu befassen. Reich hat in seiner sexualökonomischen und orgonotischen theorie lebensphänomene formuliert, die so ziemlich alles berühren, was in der bisherigen menschheitsgeschichte an religionen, esoterischen lehren, morallehren, befreiungsideen usw. hervorgebracht wurde. Aber als echter pionier hat er diese phänomene noch zu einseitig und eng gesehen. Aber es kommt mir im grunde nicht so sehr auf die abstrakte wissenschaftliche wahrheit an, sondern auf die möglichkeit, die Reich'schen erkenntnisse zum fundament von neuen lebensformen und neuen gesellschaften zu machen. Mich interessiert Reichs revolutionärer angriff auf das bestehende lebenssystem unserer gesellschaft und seine vision von einer auf genitaler identität aufbauender menschengemeinschaft. Die ganze orgonphysik ist für mich äusserst interessant, aber nur deshalb und nur insofern, als sie mithilft, die anthropologischen, biopsychologischen, sexuellen usw. grundlagen einer neuen gesellschaft zu formulieren. In diesem zusammenhang interessiert mich natürlich ein solches lebensexperiment wie etwa die AA-kommune in Österreich -- und mich interessiert auch, was die WRB dazu zu sagen haben. Ich muss zugeben, in einem blatt, das die Reich'sche revolution auf physik reduziert, habe ich von vornherein nicht viel erwartet, aber so geht's dann doch nicht. Ich selbst bin 12 tage dort gewesen, und ich kenne genau die abwehr und die missverständnisse, die sich dort aus dem ersten schock ergeben. Aber wer sich von seiner angst, seinen vorurteilen und seiner wehleidigkeit nicht gleich wieder nach hause jagen lässt, der erlebt dann überraschungen, die er sich nicht hätte träumen lassen. Verlangt ist nicht mehr als ehrlichkeit, mut und persönliche entschlossenheit. Obwohl ich's eigentlich wissen müsste, bin ich doch entsetzt, dass von allen seiten mit so bewusstlosem diffamierungsbedürfnis auf das aa-modell reagiert wird. Klar machen die leute fehler, aber das ist bei einem so radikalen versuch wohl nicht anders zu erwarten. Für mich besteht kein zweifel daran, dass im prinzip genau dieselbe emotionelle pest, unter der Reich so sehr zu leiden hatte, sich jetzt gegen die aa-bewegung richtet. Reich hat in seiner sexualökonomischen theorie (habt ihr die überhaupt zur kenntnis genommen?) und in seinen fallgeschichten deutlich genug gezeigt, von welchen ängsten der seelische und körperliche organismus des menschen geschüttelt wird bei dem versuch, seine panzerun-

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gen zu durchbrechen und die volle sexuelle funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Die aa hat methoden entwickelt, dieses drama von der individuellen ebene auf eine soziale, gemeinschaftliche ebene zu heben und die befreiung vom charakterpanzer zu einer aufgabe der ganzen gruppe zu machen. Es ist doch klar, dass da die federn fliegen und unsere vorstellungen von schönheit, anstand und höflichkeit erst einmal ganz schön zerfetzt werden. Aber wer durchblickt, weiss, dass es nicht anders sein kann, und wer entschlossen ist, sein leben zu ändern und den wahnsinn unserer "normalen" lebensgewohnheiten nicht mehr mitzumachen, der erwartet für sich keine spaziergänge mehr. Die leute dort wissen, was sie dem neuling zumuten können, denn sie haben alles selbst durchgemacht. Und sie haben dabei erstaunlich nüchterne und offene gesichter gekriegt. Natürlich muss man sich vom ersten schreck erholt haben, um die gesichter überhaupt sehen zu können. Ich werde jetzt verschiedene zeitschriftenartikel über meine eindrücke schreiben. Es wäre schön, wenn einer davon in den WRB erscheinen könnte. Es geht nicht um eine neue physik, sondern um einen neuen menschen.

In diesem Sinne
gez. D.D.

Ich habe Dieter Duhm geschrieben, dass ich keinen Artikel über AA mehr in den WRB bringen möchte, also auch keinen von ihm. Es gibt ja bereits die AA-Nachrichten (Adresse siehe WRB 3/76), die regelmässig Berichte begeisterter AA-Kursteilnehmer und andere Informationen zum Thema AA bringen. Interessant für die Leser der WRB schiene mir nur eine Stellungnahme eines erfahrenen Therapeuten, der sich an Reich orientiert.

Dass bei der AA emotionale Durchbrüche und "Heilungen" geschehen, ziehe ich gar nicht in Zweifel. Dies geschieht sicher bei allen Therapieformen mehr oder weniger intensiv, bei den moderneren sogar aus bestimmten Gründen schon nach kurzer Dauer und vor allem spektakulär; und auch beim Yoga oder gar bei Wallfahrten nach Lourdes passieren Dinge, die sicher was mit Bioenergie und Orgon zu tun haben. Kritisch betrachten sollte man die Methode aber vor allem auf ihr Therapieziel hin und die Mittel, die sie zu dessen Erreichung stellt.

Es geht eben nicht nur um einen neuen Menschen, sondern um einen ganz bestimmten neuen Menschen: Und gerade in diesem Punkt liegt der fundamentale Unterschied, der Reich trennt von Sri Aurobindo und C.G.Jung, aber auch von Erich Fromm und Herbert Marcuse.

Ob Dieter Duhm Recht hat, wenn er den WRB vorwirft, sie würden die "Reich'sche Revolution" auf Physik reduzieren, überlasse ich dem Leser zu beurteilen....

Anmerkung 1998:
Zu Dieter Duhm vgl. meine Rezension seines Buchs "Aufbruch zur neuen Kultur".


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Wilhelm-Reich-Blätter, Heft 5/78, S. 118-122

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Bhagwan -- der "Guru des Sex" [Osho]

von Bernd A. Laska

Die AA-Welle ist vorbei -- nun ist Bhagwan dran und wird durch die Medien geschleust. Leuten aus der Therapie-Szene war Bhagwan Shree Rajnesh schon seit längerem bekannt; in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit ist er jedoch hierzulande erst vor einigen Monaten gedrungen, als die Presse die Horror-Story einer Schauspielerin namens Eva Renzi aufgriff und über deren wirkliche oder erfundene Erlebnisse in Bhagwans "Therapiezentrum" Poona bei Bombay seitenfüllend und mit Schlagzeilen berichtete.

Die Renzi-Story löste dann eine weitere Welle von Berichten aus, da viele Journalisten daraufhin selbst nach Poona gefahren sind, dort Stoff für weitere Sensationsberichte suchend. Am 29. Oktober berichtete sogar der ARD-Weltspiegel über Bhagwan, zeigte ihn, wie er die 80 m von seiner Wohnung bis zu der Versammlungshalle, in der einige hundert Jünger auf ihn warteten, mit Mercedes und Chauffeur zurücklegt, wie er eine Ansprache hält, Initiationsriten durchführt usw.; insgesamt jedoch hatte der Bericht eine positive Tendenz.

In der Novemberausgabe der Zeitschrift WARUM! nimmt Bhagwan Stellung zu dem Presserummel: "Die negativen Berichte von Frau Renzi haben begonnen, positive Gegenberichte auszulösen. Das ist immer so im Leben. Man stellt etwas Negatives her, und dann folgt darauf unweigerlich etwas Positives und bildet ein Gegengewicht. Man stellt etwas Positives her, und dann folgt darauf unweigerlich etwas Negatives... Lasst diese Leute nur machen, sie helfen meiner Arbeit. Das ist nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste." -- Wie recht hat der Guru -- von seiner Warte aus.

Martin Siems, ein Mann, der bereits gut im Psycho-Geschäft drin ist und vielen WRB-Lesern bekannt sein wird, hat den

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fetten Braten rechtzeitig gerochen. Er flog sofort nach Poona, blieb einige Wochen dort und mischt jetzt hier fleissig mit: Er organisiert 3-wöchige Charterflugreisen zum Preis zwischen 1300 und 3100 DM und "stellt sich als Ihr Helfer zur Verfügung. Er wird Sie während des Fluges und für die Dauer Ihres Aufenthaltes im Ashram betreuen." So steht's in der gleichen Nummer von WARUM!. Dazu berichtet er:

"Ich habe in den letzten Jahren sehr viele Gruppen mitgemacht, sei es in Deutschland, sei es in Amerika. Ich habe in Amerika die gängigsten Therapien der humanistischen Psychologie kennengelernt, habe Gestalttherapie gemacht, Encountergruppen, Bioenergetik, Primärtherapie, ich war im Esalen-Institut in Kalifornien. Mein Eindruck von Poona ist, dass hier effektivere Therapien gemacht werden als sonstwo. Ich habe solche guten Therapien, solche ausgezeichneten Gruppen und Gruppenleiter noch nie erlebt. Es ist die gelungene Synthese zwischen Ost und West, die Synthese zwischen Meditation und Psychotherapie. Was hier passiert, ist eine sehr ernste Sache. Kein oberflächlicher Weg, kein leichter Weg. Keine Methode der Einbildung, der Suggestion, der Beseitigung von Symptomen, sondern es ist ein ernster Weg der Therapie... Er [Bhagwan] kennt sich in allen östlichen Methoden aus -- sei es die Sufi-Tradition der islamischen Mystiker, die Zen-Meditation der Buddhisten, Tantra-Yoga und Hatha-Yoga, die indischen Meditationsmethoden. Er kennt alle möglichen Arten westlicher Therapien, bioenergetische Therapie, Primärtherapien, Encountergruppen der verschiedensten Art, Gestalttherapie, Massage." Und Siems hat das alles geprüft und beurteilt, denn er kennt sich auch aus; schliesslich ist er selbst erfahrener Therapeut in seinen Dreissigern. Der SPIEGEL wusste sogar zu berichten, dass man Bhagwan nachsage, er kenne sich auch in allen Wissenschaften aus, wisse mühelos "Einsteins Relativitätstheorie mit den Energiethesen eines Wilhelm Reich" zu verbinden.

Weiter im Originaltext Siems:
"Ich möchte kurz mitteilen, was Bhagwan mir bei unserem ersten Treffen sagte. Ich hatte das Gefühl, er sagte mir genau das,

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was für mich gerade wichtig war: 'Der Mensch muss in seiner Ganzheit existieren. Immer dann, wenn er eins ist mit dieser Ganzheit, ist Freude da. Die Störung der Ganzheit...' (usw. usf. eine ganze gedruckte Spalte, BAL). Und das, nachdem Siems schon soviel Therapie gemacht hat! Das alles spricht schon für sich selbst; ich will hier nur noch einen Satz zitieren, der das Ganze sehr schön abschliesst. Diesem Artikel, dem die obigen Zitate entnommen sind und der eine einzige Huldigung der Person Bhagwans darstellt, hat Siems mit fetten Buchstaben den Satz vorangestellt:

"Hier steht nicht der Mensch Bhagwan zur Debatte, sondern die Therapie -- und gegen die ist nichts einzuwenden."

Nun, Siems wird seine Erfahrungen mit seinem Publikum haben. Hier spricht eben der Wissenschaftler Dipl.-Psych. Martin Siems, der laut redaktioneller Vorbemerkung "als Fachmann" feststellen sollte, "was dort wirklich passiert".

Wer tatsächlich wissen will, was dort wirklich passiert, der wird wohl selber hinfahren müssen, es sei denn, ihm hat der Bericht von Siems schon insoweit gedient, dass er es gar nicht mehr so genau wissen will. Ich möchte hier noch einige Worte des Bhagwan selbst zum Besten geben, und zwar über die Rolle des Sex in seiner Lehre, die er in der ZEIT vom 29.9.78 abdrucken lassen hat. Ich zitiere hier wiederum nur die markantesten Passagen, jedoch wohl ziemlich ohne Sinnentstellung dadurch, dass der Kontext fehlt.

Bhagwan, der "Guru des Sex", sagt:

"Ja! ich lehre euch, tief in die Liebe hineinzugehen. Und ich lehre euch auch, wie ihr tief in den Sex hineingehen könnt, denn das ist die einzige Möglichkeit, darüber hinauszuwachsen. Hindurchzugehen ist der einzige Weg, darüber hinauszugehen -- aber mein Ziel ist es, euch darüber hinauszuführen."

"...und ich will, dass ihr davon loskommt! Aber ich bin nicht gegen den Sex, denn diejenigen, die dagegen sind, kommen nie davon los."

"Wenn ihr die Sexualität zutiefst versteht und erlebt, könnt ihr euch davon befreien." [Anm. 1998: vgl. dazu aus WRB 1980 den "O-Ton" Freud]

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"Wenn man seine Sexualität unterdrückt, lebt sie im Untergrund, im Unbewussten, weiter... Der Weg führt nicht über die Unterdrückung. Eine radikale Verwandlung wird durch Verständnis herbeigeführt, und das Verständnis kommt aus der Erfahrung. Darum gebe ich euch die totale Freiheit, alles zu erleben, was euer Körper und euer Verstand erfahren wollen. Aber mit einer einzigen Bedingung: Seid wach, seid bewusst, beobachtet, was geschieht!"

"Wenn ihr tief in die Liebe hineingeht, mit vollem Bewusstsein und wacher KIarheit, seht ihr, dass es nicht die Liebe ist, zu der ihr hingezogen seid, sondern die Tatsache, dass der Verstand in der Explosion des Orgasmus, beim Höhepunkt der Liebe, ausgeschaltet wird... In Wirklichkeit ist es nicht der Sex, der euch dieses wunderbare Erlebnis verschafft. Der Sex hilft euch nur, auf natürliche Weise zu dem Punkt zu gelangen... aber nur für einen Augenblick."

"Wenn ihr diesen Zustand durch Meditation herbeiführen könnt, wird die Sache viel, viel einfacher, denn ihr könnt es allein machen. Ihr braucht keinen anderen dazu; ihr seid von niemandem abhängig. Und zweitens, wenn ihr die Seligkeit durch Meditation herbeiführen könnt, verliert ihr keine Energie. Im Gegenteil, ihr werdet vitaler, denn die Energie wird bewahrt. Und drittens, wenn ihr diesen Zustand auf meditativem Wege erreichen könnt, dann könnt ihr solange, wie ihr wollt, darin verweilen... Ein Buddha lebt tagaus, tagein, 24 Stunden am Tag, im Zustand des Orgasmus... Überlegt euch das: die wenigen Momente, die ihr erlebt, sind nichts im Vergleich zu einem Buddha."

"Wenn ihr meditiert, werdet ihr diese Wahrheit eines Tages erkennen. An diesem Tag wird euch klar werden, warum ihr ein so grosses Interesse am Sex hattet, und an diesem Tag werdet ihr jegliches Interesse am Sex verlieren."

Das genügt doch wohl! Deutlicher geht's wohl kaum!

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Im übrigen sei noch daran erinnert, dass z.B. Freud etwas ähnliches im Sinn gehabt haben muss, als er über bestimmte Vorurteile, das Wesen der Psychoanalyse betreffend, schrieb:

"Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Missverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Beschwerden vom 'freien Ausleben' der Sexualität. Das Bewusstmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung derselben, die durch vorgängige Verdrängung nicht zu erreichen war. Man kann mit mehr Recht sagen, dass die Analyse den Neurotiker von den Fesseln seiner Sexualität befreit." (Freud, Ges. Schriften, Bd. XI (1928), S. 201f, zit. nach Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, Bd. I, H. 1, 1934, S. 75)

Irgendwie ist es doch immer wieder überraschend, wie sich auch heute noch an der Frage zur Einstellung gegenüber der Sexualität die Geister scheiden, d.h. eigentlich scheiden sie sich nicht so sehr voneinander, wie sie sich von Reich scheiden. Lassen wir einmal die "Feinde der Sexualität" beiseite, so scheint es mir so, dass man unter den "Freunden der Sexualität" eigentlich nur falsche Freunde, wie z.B. Bhagwan, findet. Grob kann man vielleicht zwei Fraktionen unterscheiden, die eine, die ein mechanistisches, "tolerantes" Konzept der Sexualität vertritt, und die andere mit einem mystischen Konzept, die über die Sexualität als Hilfsmittel nach "Höherem" strebt.

Dieter Duhm ("Der Mensch ist anders", s.WRB 1/76 bzw. 2/76N) meinte, "Reich sei an der Frage der Sexualität ausgeflippt"; er landete bei der AAO des Otto Mühl. Mir scheint es eher, dass die Gattung Mensch an der Frage der Sexualität "ausgeflippt" ist, und dass Reich der erste war, der diese doch sehr folgenschwere Fehlentwicklung aufgezeigt hat, trotz aller Kritik, die man an seinen Arbeiten üben kann und üben sollte.

P.S.:
Bhagwan ist sicher noch das Beste, was der "Osten" in dieser Hinsicht zu bieten hat. Und er spricht eine relativ deutliche Sprache für uns. Das sollte jeder bedenken, der von der grossen Synthese träumt, vom New Age o.ä.

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