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ein paraphilosophisches Projekt
nicht in der Zeit, aber -- an der Zeit

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Zur Vorgeschichte des LSR-Projekts
Wilhelm-Reich-Blätter

Inhalt:
Zum Neudruck der Hefte bis 2/76 [im Okt. 1978]
Bemerkungen zum Thema "Therapie"
Vorschläge für Studienprojekte
Echo auf die Projektvorschläge
Barbara Lehmann: Reich ernst nehmen!
-- Gegen die Tabus der Reichianer --

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Zum Neudruck der Hefte bis Nr. 2/76 [im Okt. 1978]

Als ich Anfang 1975 in einigen Zeitungen Anzeigen aufgab, um Kontakt zu Leuten aufzunehmen, die sich für die Arbeiten Reichs interessieren, hatte ich nicht die Absicht, eine Zeitschrift zu gründen. Aber: was tun mit den meist entfernt liegenden Adressen? Ich habe den etwa 30 Leuten, die mir geschrieben hatten, einen Fragebogen geschickt, u.a., um zu erfahren, welcher Art ihr Interesse an Reich ist. Aufgrund der ausgefüllten Fragebögen stellte ich das erste "Mitteilungsblatt der Wilhelm-Reich-Studiengruppe" ["WR-Blätter"] zusammen. Es fing so an:

/2N/

[WRB 1/75, nachgedruckt in:]
WRB 1/76N

"Die Fragebögen, die an alle Interessenten an einer Wilhelm-Reich-Studiengruppe versandt wurden, sind ausgewertet, und ich habe folgende Interessenschwerpunkte festgestellt:

Nach dem Kontaktwunsch (da kann ich nur Adressen vermitteln) wurden in nahezu gleicher Häufigkeit angekreuzt: Psychologie, Soziologie (Politik), Sexualität, Therapie (prakt.), Weiterentwicklung..., Auswertung..., Hilfe bei Beschaffung... und Kontrollversuche...

Das geringste Interesse ist merkwürdigerweise für die Biographie Reichs und die philosophischen Aspekte seines Werkes vorhanden. Ich werde mich bemühen, den Inhalt der WR-Blätter so zusammenzustellen, dass er den geäusserten Interessen möglichst weitgehend entspricht.

Etwas zur Form: Im zweiten Anschreiben habe ich schon in etwa meine Vorstellung von der Gestaltung der WR-Blätter genannt. Damit kein Zwang zum Zeilenschinden entsteht, werden Umfang und Erscheinungsabstände je nach Bedarf und evtl. terminlichen Notwendigkeiten variieren. Ich glaube, dass das letztlich im Interesse aller Beteiligten ist. Die Form der Loseblattsammlung mit über einen Jahrgang durchnumerierten DIN-A-4-Blättern erscheint mir gegenüber Heften vorteilhafter und macht weniger Arbeit und weniger Kosten."

1975 erschienen vier Folgen dieser "Mitteilungsblätter" unter dem Namen "WR-Blätter". Dass sich zumindest in grösseren Orten Studiengruppen bildeten, die arbeitsfähig und über längere Zeit stabil gewesen wären, war eine Illusion; also gab es auch keine Mitteilungen. Was in den "Blättern" erschien, war die Arbeit einzelner. Das Interesse an der Zeitschrift stieg jedoch stetig. Die Nachfrage erhöhte sich allein durch Mund-zu-Mund-Propaganda ziemlich schnell. Um die "Blätter" auch in Buchläden anbieten zu können, entschloss ich mich, im Frühjahr 1976 von den losen Blättern auf A5-Hefte umzustellen.

Der Vertrieb nicht nur an Abonnenten, sondern jetzt auch über Buchläden brachte eine weitere Auflagensteigerung mit sich. Aus gelegentlichen Käufern wurden neue Abonnenten, und fast jeder neue Abonnent wollte auch die alten Hefte haben, so dass ich des öfteren nachdrucken lassen musste.

Hauptsächlich aus Zeitmangel war es mir erst jetzt [Okt. 1978] möglich, die vorliegende Zusammenfassung der Hefte bis 2/76 neu drucken zu lassen. Alle Ausgaben der WRB haben nun den gleichen Titel und die gleiche Form; auch die Anzahl der Hefte pro Jahrgang ist jetzt gleich.

Der Inhalt der Hefte 1-4/75 ist in diesem Heft 1/76N zusammengefasst; der Inhalt der Hefte 1+2/76 ist in Heft 2/76N enthalten. [Die Seitenzahlen 1N, 2N usw. wurden erforderlich, um keine Doppelbezeichnungen für Seiten zu haben, denn zum Zeitpunkt der Herstellung von 1/76N und 2/76N, die zusammen 80 Seiten haben, gab es bereits 3/76, das mit Seite 28 begann.] Nur wenige Beiträge habe ich aus Platzgründen in die Neudrucke nicht aufnehmen können. Wenn Texte, ebenfalls aus Platzgründen, etwas gekürzt werden mussten, ist dies ausdrücklich vermerkt. Im Grossen und Ganzen ist jedoch gegenüber den ursprünglichen Texten nur sehr wenig geändert.

Nürnberg, im Oktober 1978
[gez. Bernd A. Laska]

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Aus gegebenem Anlass:
Bemerkungen zum Thema "Therapie"

Aus den Fragebögen war ersichtlich, dass doch eine grössere Anzahl von Leuten an praktischer Therapie bzw. an der Vermittlung von Therapeuten interessiert ist. Nach meinem jetzigen Informationsstand kann ich dazu folgendes sagen:

Es gibt in der Bundesrepublik nur einen (1) Therapeuten, der noch selbst von Reich ausgebildet wurde. Inwieweit dieser, der erst vor kurzem in die BRD kam, selbst wiederum Therapeuten ausbildet, ist mir nicht bekannt.

Darüberhinaus gibt es einige Einrichtungen (ZIST, 8022 Penzberg/ Fritz-Perls-Institut, Daimlerstr. 24, 4040 Neuss und vielleicht noch andere), bei denen verschiedene Therapieformen angeboten werden, unter anderem auch Bioenergetik (Lowen), die der Reich'schen Technik noch am nächsten kommt. In der Regel werden dort workshops für 2 oder 3 Tage, aber auch Einzelsitzungen durchgeführt. Interessenten wenden sich bitte direkt an diese Institute.

Dass die WR-Studiengruppe ihr eigenes Therapieprogramm aufbaut, halte ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder für möglich noch für sinnvoll.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch ein paar allgemeine Gedanken zum Thema "Therapie" äussern, die möglicherweise auch ein Anstoss für die Diskussion in den lokalen WR-Studiengruppen sein könnten:

Reich hatte eine medizinische, psychiatrische und psychoanalytische Ausbildung; er war Therapeut für über 30 Jahre. Doch schon sehr früh erkannte er, dass der Vorbeugung gegenüber der Therapie eine übergeordnete Bedeutung zukommen muss, denn die Neurosen (und später die Biopathien) sind Erkrankungen, von denen der überwiegende Teil der Bevölkerung betroffen ist. In diesem Problem ist seine grundsätzliche politische Haltung begründet, die er bis zu seinem Tode beibehielt, und die sich durch seine Forschungen über den Krebs und andere Biopathien noch mehr festigte. Therapie war für ihn hauptsächlich Grundlagenforschung, um fundierte Vorschläge für eine wirksame Prophylaxe machen zu können.

Sowohl durch seine klinischen Erfahrungen als auch durch die Analyse der historischen Vorgänge seiner Zeit an denen er aktiv teilnahm, verlor er die gefährlichen Illusionen, die noch heute tragender Bestandteil verschiedener "fortschrittlicher" Ideologien sind, ohne dass er deshalb nach rechts überwechselte, wie es so viele seiner Zeitgenossen in diesen Jahren taten. Reich wurde auch niemals "unpolitisch", was ihm oft von Linken, die ihm nur bis etwa 1933 zu folgen vermögen, vorgeworfen wird, Ich möchte an dieser Stelle jedoch micht näher auf dieses "heisse" Thema eingehen; es ist Gegenstand des Studienprojektes Nr. 3 (s.u.).

/4N/

Zurück zum Thema Therapie: Der Zeitpunkt der erzwungenen Übersiedelung Reichs in die USA fiel zusammen mit der Entdeckung der Orgonenergie und seinen Krebsforschungen. Reich war in Amerika jedoch hauptsächlich als Psychoanalytiker, als Entwickler der charakteranalytischen und vegetotherapeutischen Technik bekannt. Zahlreiche amerikanische Analytiker und Psychiater waren zu ihm zur Umstrukturierung und Erlernung seiner therapeutischen Techniken gekommen, sind seine "Schüler" geworden. Reichs Arbeitssgebiet aber war zu dieser Zeit nur noch in einem geringen Masse die Therapie (sie war wohl mehr "Brotberuf"), sondern die Orgonforschung, wo er eine Fülle von Entdeckungen machte, die sein therapeutisches Verfahren auf ein solides Fundament stellten und es damit von den anderen Verfahren abhoben, die alle mehr oder weniger in der Luft hingen. Nur wenige der amerikanischen Therapeuten waren bereit oder in der 1age, auf diesem Gebiet produktiv mitzuarbeiten. Nach Reichs Tod gab es dann auch nur sehr wenige, die in der nichtmedizinischen Orgonomie aktiv waren. Die Orgontherapeuten der ersten Generation arbeiteten auf ihrem Gebiet weiter, bildeten weitere Therapeuten aus, diese wieder andere usw. Kombinationen mit anderen therapeutischen Techniken wurden entwickelt und Reichs Techniken erweitert. Inwieweit mit den Entwicklungen seit 1957 eine Verbesserung oder eine Verwässerung der Reich'schen Technik und Theorie einhergegangen ist, bedürfte einer ausführlichen Untersuchung; ich möchte es hier offen lassen.

In der einschlägigen Literatur findet man jedoch nur noch selten etwas über Prophylaxe (also den "politischen" Teil der Orgonomie, obwohl das doch seit je Reichs Hauptanliegen war. Auch das Therapieziel "orgastische Potenz" taucht nur noch vereinzelt auf, ohne dass jedoch ein anderes genannt würde, was klar definiert wäre. Bis auf KELLEY, der einen kritischen Artikel über diesen bei Reich zentralen sogriff verfasst hat, diskutiert man nirgends dieses sicher nicht unproblematische Thema, jedenfalls soweit aus der Literatur zu schliessen ist (siehe Studienprojekt Nr. 2)

In der Herabsetzung der Bedeutung oder gar in der Tendenz zur Eliminierung dieser bei Reich zentral stehenden Begriffe bei gleichzeitiger Überbetonung der Therapie liegt eine Gefahr, die Reich schon für die Zeit nach seinem Tode vorausgesehen hat. Hinzu kommen in jüngster Zeit im Zuge der Psi- und Mystikwelle noch Versuche, die Orgonomie von dieser Seite her zu vereinnahmen. Meine Vorstellung ist es, dass in unserer Gruppe gegen diese Tendenzen gearbeitet wird. Das heisst nicht, dass man Reichs Theorien unkritisch übernehmen und bewahren soll; aber ich halte sie für zu wichtig, als dass man die wesentlichsten Teile davon stillschweigend unter den Tisch fallen lassen darf und nur noch mit irgendwelchen reichianischen oder neo-reichianischen Techniken mehr oder minder erfolgreich "herumtherapiert" und sich vielleicht irgendeiner Orgonmystik hingibt.

Ich möchte hier bitte nicht falsch verstanden werden: ich habe nichts gegen Therapie, wenn sie nach gründlicher Ausbildung verantwortungsvoll ausgeübt wird; aber ich bin der

/5N/

Meinung, dass der Trend zur Überbetonung der Therapie zu Lasten der Bemühungen zur Durchsetzung prophylaktischer Massnahmen, wie er in den meisten Gruppen, die sich noch mehr oder weniger auf Reich berufen, zu verzeichnen ist, einem Ausweichen vor den wahren und wesentlichen Problemen entspricht. Wenn aber von Reichs Lebenswerk einmal nicht mehr erhalten geblieben sein würde als ein paar neue Varianten auf der bunten Palette der Therapieformen oder gar ein zugkräftiger Artikel auf dem Psycho-Dienstleistungsmarkt, dann wäre geschafft, was Reich immer befürchtet hat.

B.L.

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Vorschläge für Studienprojekte

Nicht nur, um den Namen "Studiengruppe" zu rechtfertigen, sondern weil ich glaube, dass es den Erwartungen der Mehrzahl der Mitglieder entspricht, möchte ich ein paar Studienprojekte vorschlagen. Diese Vorschläge erschöpfen sicher nicht die Möglichkeiten der Beschäftigung mit Reichs Werk; ich habe nur mal, sozusagen "ex aermulo", aufgeschrieben, was mir gerade spontan einfiel. Wenn andere Vorschläge von Gruppenmitgliedern kommen, werden sie in der nächsten Ausgabe der WR-Blätter gebracht. Interessenten für das eine oder andere Projekt werden von mir gegenseitig vermittelt.

Die folgende Zerlegung des Reich'schen Werkos in Teilgebiete ist mehr oder minder willkürlich. Es gibt deshalb sowohl Überlappungen als auch nicht abgedeckte Gebiete. Einige Projekte können nur in Verbindung mit anderen sinnvoll bearbeitet werden. Das Ganze ist hauptsächlich als Anregung zu verstehen.

[1] AUSWERTUNG EXPERIMENTELLER ERGEBNISSE
der letzten Jahre, die im Rahmen der orthodoxen naturwissenschaftlichen Theorien nur unbefriedigend erklärt werden können, jedoch innerhalb der Orgontheorie gut eingeordnet werden könnten (?), z.B.
L-Felder des em. Prof. der Yale-University H.S. Burr
Kirlian-Fotografie
Backster-Effekt
Bioplasma-Forschung (Universität Alma-Ata, UdSSR)
Akupunktur
Berichte über die genannten Gebiete erscheinen heute oft in Illustrierten, im Gefolge der Psi- und allgemeinen Mystikwelle. Das Geschmarre drumherum sollte einen jedoch nicht davon abhalten, den "harten Kern", die experimentellen Tatsachen, ernst zu nehmen.

[2] SEXUALTHEORIEN
Die zeitgenössischen Autoritäten der Sexualwissenschaft schätzen Reichs Beiträge zu ihrem Forschungsgebiet nicht besonders. Welche Argumente haben sie? Oder: Warum erwähnen sie Reich nur am Rande, in unwesentlichem Zusammenhang? Warum ignorieren ihn viele ganz?
Andere Themen wären: "richtiger" Orgasmus, Promiskuität, Porno und Sexwelle, Chessers Kritik an Reich, Kinsey, Comfort, Masters/Johnson, deutsche Sexuologen (Sigusch, Schorsch u.a.)

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[3] "FÜR EINE BESSERE ZUKUNFT..." oder: WAS TUN?
Definition des Begriffs des gesellschaftlichen Fortschritts, nachdem der bisherige, meist nicht hinterfragte Fortschrittsbegriff endlich langsam in die Brüche geht.
Gesundheltsbegriff der Orgonomie; Neurosen, Psychosen, Biopathien, orgastische Potenz; Rolle des Individuums in der Gesellschaft und im historischen Prozess; Motivationen des Einzelnen, sich im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts zu engagieren; ist die Art der Motivation gleichgültig?; realistische politische Strategien für den Fortschritt; Revolution und/oder Evolution; "Die Furcht vor der Freiheit"; ist Zwang zur Freiheit möglich?

[4] WILHELM REICH -- LEBEN UND WERK
Ist es richtig oder sinnvoll, zwischen "frühem" und "spätem" Reich zu unterscheiden?; Frage der Anerkennung durch "die Wissenschaft"; Frage der Mitarbeiter und Nachfolger (Verwässerung, Dogmatisierung); Kampagnen gegen Reich und ihre Ursachen: Ausschluss aus der Psychoanalytischen Vereinigung; Ausschluss aus der Kommunistischen Partei; Pressekampagne in Norwegen nach der Entdeckung der Bione; Einstein-Affäre; Artikelserie in US-Presse; Verfolgung durch die Food and Drug Administration in den USA wegen der Orgonakkumulatoren und Verurteilung zu 2 Jahren Haft; Umstände, die zu Reichs Tod im Gefängnis führten; Verbrennung fast aller seiner Bücher durch US-Regierungsstellen in den Jahren 1956 und 1960 (!)

[5] ÖKONOMIE
Dass das Wirtschaftssystem einer Gesellschaft einen sehr wichtigen Faktor für deren allgemeine Entwicklung darstellt, wird wohl heute kaum noch bestritten. Entscheidender Faktor im Wirtschaftsprozess ist letztlich der Mensch. Zur Beurteilung eines Wirtschaftssystems ist es daher wichtig zu wissen, welches Menschenbild diesem zugrundeliegt. Nun funktionieren die beiden grossen bestehenden Wirtschaftssysteme, jedes in anderer Hinsicht, eher schlecht als recht; und man mag sich darüber streiten, in welchem System es den Werktätigen "besser" geht oder welches System eher eine "fortschrittliche" (vgl. Projekt 3) gesellschaftliche Entwicklung erlaubt. Vieles deutet darauf hin, dass die Unzulänglichkeiten der kapitalistischen und der auf der Marx'schen Theorie aufbauenden sozialistischen Ökonomie nicht "nur" Mängeln in der praktischen

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Durchführung zuzuschreiben sind, sondern dass sie auf Fehlern in den theoretischen Grundlagen beruhen: beide Systeme gehen von einem falschen Menschenbild aus.
Aber welche Alternativen gibt es? Vielleicht müssen sie erst entwickelt werden. Interessant wäre es aber auch, die Wirtschaftstheorie Silvio GESELLs einmal kritisch zu untersuchen. GESELL (1862-1930) ging nicht von Marx, sondern von dessen Widersacher, dem Anarchisten Proudhon, aus, und entwickelte aus dessen Grundthesen seine "Natürliche Wirtschaftsordnung".
John Maynard Keynes sagt in seiner "Allgemeinen Theorie...": "Ich glaube, dass die Zukunft mehr vom Geiste Gesells als von jenem von Marx lernen wird."

[6] EXPERIMENTE
mit dem Orgonakkumulator: Messungen der Temperaturdifferenz; Variationen in Grösse und Schichtstärke; subjektive Eindrücke; therapautische Effekte. Mit anderen Geräten: Elektroskop; Orgonoskop; Vakuumröhren u.a.
sowie STUDIUM
des ORANUR-Experiments (ORgone Anti NUclear Radiation), der Wetterexperimente (Cloudbuster), der Ereignisse während der Expedition nach Arizona, des "DOR-Busting".

[7] ERZIEHUNG
Vergeblichkeit der Erwachsenentherapie; Erziehung als Prophylaxe von Neurosen, Psychosen, Biopathien; autoritär -- antiautoritär -- nichtautoritär; Neill und Reich; Neills Buch: fast 1 Mio Auflage - und dann...; Summerhill School; pränatale und postnatale Einflüsse.

[8] PHILOSOPHIE
Reichs Erkenrtnisse, die z.T. experimentell oder klinisch recht gut fundiert sind, haben weitreichende Konsequenzen oder geben neue Impulse u.a. für folgende Bereiche:
Erkenntnistheorie; beliebige Reproduzierbarkeit eines Versuchsergebnisses als Wahrheitskriterium; orgonotisches Potential und negative Entropie; freier Wille -- Determinismus; subjektiv und objektiv; Ursprung des "Bösen"; Religion (Schuld, "ozeanisches Gefühl",...); Sinn des Lebens; Körper-Seele-Problem; echte Bedürfnisse und Ersatzbedürfnisse; Wahrheit - Gegenwahrheit; Zwang und "Freiheit".

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Echo auf die Projektvorschläge

Vorweg: das Echo war sehr schwach -- 3 Zuschriften. Woran das liegt, ist schwer zu sagen. Vielleicht wussten viele nichts Konkretes mit der Liste anzufangen und haben deshalb nicht reagiert. Für die Beschäftigung mit dem einen oder anderen Projekt nützt es wohl auch wenig, wenn man weiss, dass ein anderer, möglicherweise einige hundert Kilometer entfernt, auch daran arbeitet und man fast nur schriftlich miteinander verkehren kann. Vielleicht haben die Vorschläge Anregungen für die Arbeit in den lokalen Gruppen gegeben oder einigen gezeigt, wie umfassend Reichs Werk ist und in wieviele Bereiche es hineinwirkt bzw. hireinwirken könnte.

Die ausführlichste Stellungnahme kam von Bernd Senf aus Berlin. Sie ist in voller Länge in diesem Heft wiedergegeben. An sich wollte ich nur die Seiten 3 und 4 bringen, da ich das davor geschriebene für allgemein bekannt und nicht so wichtig hielt. Der Autor bestand jedoch darauf, dass alles abgedruckt wird und ich ggf. eine Stellungnahme dazu schreiben sollte.


Kritik zu den Projektvorschlägen

von Bernd Senf

Was bei den in Nr.1 der WR-Blätter [April 1975] aufgeführten Vorschlägen für Studienprojekte zunächst auffällt, ist die Tatsache, dass sie sich im wesentlichen beschränken auf Aspekte der Forschungen des späten Reich. Auf diesem Gebiet herrscht sicherlich grösste Unkenntnis und Verwirrung (vgl. auch Spiegel Nr. 18/1975), und es ist in der Tat notwendig, die in die Bereiche Physik, Medizin, Biologie und Meteorologie hineinreichende Orgonenergieforschung aufzugreifen und die Reich'schen Hypothesen experimentell auf ihre Haltbarkeit zu überprüfen. Dabei darf allerdings nicht die Zielrichtung und der Stellenwert solcher Forschung aus dem Auge verloren werden: Worum es in erster Linie geht, ist die naturwissenschaftliche Fundierung der aus der Psychoanalyse entwickelten Triebtheorie, ist also der Nachweis, dass den psychischen Energien ein materielles Substrat zugrundeliegt und nicht irgendetwas prinzipiell Unerklärliches, Metaphysisches. Reich erhebt den Anspruch, mit seiner Orgontheorie diesen Nachweis erbracht zu haben.

Treffen diese Ergebnisse zu, dann ist eine Lücke im theoretischen Gebäude des frühen Reich geschlossen: denn dieser hatte zwar herausgefunden, dass eine triebfeindliche (vor allem sexualfeindliche) Erziehung zu psychischen und muskulären Verkrampfungen führt, in deren Gefolge Sexualstauungen und neurotische Charakterstrukturen entstehen; wie sich diese Stauungen im einzelnen im Organismus umsetzen in psychosomatische und organische Symptome, war zunächst noch unklar. Hierzu bedurfte es einer eingehenden Erforschung der Triebenergie und ihrer Bedeutung für die biologischen Prozesse, Forschungen, die Reich insbesondere in den 40er Jahren auf den Gebieten Biologie (Bion-Forschung), Physik und Medizin unternommen hat.

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Diese Forschungen -- sollten ihre Ergebnisse einer Überprüfung standhalten -- liefern umwälzende Erkenntnisse über den Mechanismus der individuellen Konfliktverarbeitung in Form von Neurosen, Psychosen, psychosomatischen und organischen Erkrankungen, d.h. der individuellen Umsetzung gesellschaftlich bedingter Repression. Die Bedeutung der Reich'schen Orgonforschung kann für die Fundierung dieses Zusammenhangs kaum überschätzt werden, beinhaltet sie doch die Basis für eine naturwissenschaftliche Fundierung einer energetisch begründeten psychosomatischen Medizin; die herrschende Medizin wäre damit als eine in den (organischen) Erscheinungsformen behaftete Wissenschaft (bzw. Technik) entlarvt, die den wesentlichen Kern der Krankheitsentstehung -- die gesellschaftliche Unterdrückung der Triebentfaltung -- verschleiert.

Nun ist der Zusammenhang: gesellschaftliche Repression -- individuelle Pathologie aber nur ein Aspekt eines grösseren Zusammenhangs: Es stellt sich nämlich die Frage nach den Hintergründen und den Funktionen gesellschaftlich erzwungener Triebunterdrückung. Hierauf hat der frühe Reich in seinen soziologischen Schriften eine Antwort zu finden versucht: Die massenweise psychische Unterdrückung ist notwendige Voraussetzung der Anpassung der Individuen an einen fremdbestimmten Arbeitsprozess und wird -- wenn auch vermittelt -- von den Mechanismen des ökonomischen Systems selbst hervorgebracht. So muss z.B. das Rückgrat eines nach Selbstregulierung und Triebentfaltung strebenden Kindes frühzeitig gebrochen werden, damit sich das Individuum einfügt in einen durch Konkurrenz und Aggressivität geprägten gesellschaftlichen Zusammenhang. Vermittelt wird dieser Mechanismus durch die Weitergabe verinnerlichter Normen von seiten der Eltern: durch die auroritäre Kleinfamilie als Instanz zur Reproduktion autoritärer Charakterstrukturen, die ihrerseits eine autoritäre Gesellschaftsstruktur stabilisieren. Dies alles vor dem Hintergrund ökonomischer Bewegungsgesetze, die eine wachsende Masse von Individuen zu Lohnabhängigen machen, die sich im Arbeitsprozess den verselbständigten Bedingungen der Kapitalverwertung, der profitorientierten Produktion zu unterwerfen haben.

Der frühe Marx hat den Zusammenhang bereits herausgearbeitet: dass die Unterwerfung unter einen fremdbestimmten und damit entfremdeten Arbeitsprozess zwangsläufig eine Entfremdung des Menschen von sich selbst, von seinen kreativen Entfaltungsmöglichkeiten mit sich bringt (bzw. voraussetzt) -- mit der Konsequenz einer Entfremdung der Menschen untereinander. Mit seiner Mehrwerttheorie liefert Marx die theoretische Grundlage für die Erklärung der Entstehung und Verselbständigung des Kapitals gegenüber der Lohnarbeit, dessen Verwertungstrieb sich den Emanzipationstendenzen der lohnabhängigen Massen entgegenstellt. Unklar war bei Marx, wie sich die daraus folgenden gesellschaftlichen Repressionen im einzelnen innerpsychisch verankern und welche psychischen Mechanismen dabei wirksam werden. Diese Lücke kann durch die Reich'schen charakteranalytischen Forschungen tendenziell geschlossen werden. Die medizinisch-biologisch-psychiatrische Orgonforschung schliesslich schliesst eine weitere Lücke, indem sie einen Erklärungsansatz dafür liefert, wie sich verinnerlichte Repressionen im einzelnen psychisch bzw. physiologisch umsetzen in Pathologien.

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Durch den späten Reich ist also der frühe, marxistisch orientierte Reich nicht gegenstandslos, sondern wird durch ihn nur noch ergänzt und vertieft: dies unabhängig davon, dass das Individuum Reich sich in seinen späten Jahren .gern von seiner früheren politischen und wissenschaftstheoretischen Vergangenheit distanziert hat ! Diese Distanzierung mag verständlich sein aus dem persönlichen Leidensdruck und den Enttäuschungen gegenüber der sozialistischen Bewegung sowie aus den Verfolgungen, die Reich über ein Jahrzehnt lang durchzustehen hatte; sie kann aber heute kein Alibi dafür sein, sich von den gesellschaftlich-okonomischen Hintergründen der Triebunterdrückung abzuwenden und in einen scheinbar unpolitischen Schonraum der Orgonforschung zu flüchten.

Für die Gestaltung der Projektvorschläge folgt daraus: Die Diskussion um das Verhältnis Marxismus-Psychoanalyse-Sexualökonomie (oder Marx-Reich) muss wieder aufgenommen werden, sowohl was die politische Seite betrifft als auch die wissenschaftstheoretische. Darin ist auch die Frage enthalten, welche Beziehung zwischen ökonomischem System und Psychostruktur der Massen besteht. Sicherlich nicht die, die unter Punkt 4 der Projektvorschläge angeführt ist, wo es heisst: "Entscheidender Faktor im Wirtschaftsprozess ist letztlich der Mensch. Zur Beurteilung eines Wirtschaftssystems ist es daher wichtig zu wissen, welches Menschenbild diesem zugrundeliegt." Als wäre erst das Menschenbild da, und darauf würde das ökonomische System abgestellt. Umgekehrt! Die Erfordernisse der materiellen Produktion bringen nach und nach bestimmte Formen der Kommunikation in und ausserhalb der Arbeit hervor, erzeugen bestimmte Mechanismen der Erziehung und auf diesem Weg bestimmte Psychostrukturen, die ihrerseits allerdings zurückwirken auf das ökonomische System, indem sie die ökonomischen Aktivitäten der Individuen im Produktions- und Konsumtionsbereich prägen.

Das bedeutet, dass der Projektvorschlag 4 (Ökonomie) in dieser metaphysischen, unmaterialistischen Konzeption gestrichen werden muss. In dieser Form müsste das Projekt in der Tat "akademisch" bleiben, nicht aber dann, wenn stattdessen das Verhältnis zwischen Gesellschaftsstruktur und Psychostruktur zum Gegenstand eines Projekts gemacht würde.

Abschliessend noch einige kurze Bemerkungen zu den Punkten 3 und 7: Die Diskussion des unter Punkt 3 aufgeführten "Gesundheitsbegriffs der Orgonomie" scheint mir in der Tat wesentlich zu sein, weil hiermit der Gesundheits- bzw. Krankheitsbegriff der herrschenden Medizin und Psychiatrie radikal in Frage gestellt wird. Im übrigen wäre unter diesem Punkt herauszuarbeiten, dass Neurosen, Psychosen und psychosomatische Krankheiten nur unterschiedliche Erscheinungsformen einer prinzipiell gleichen, wesentlichen Ursache sind, nämlich energetischer Triebstauungen im Organismus. -- Die des weiteren unter Punkt 3 aufgeführten Punkte scheinen mir aber ein diffuses Sammelsurium von Fragestellungen zu sein, die in dieser Form auch Gegenstand des Religionsunterrichts sein könnten. Ich plädiere für ersatzlose Streichung.

/12N/

Auch Ziffer 7 scheint mir so diffus strukturiert, dass sich daraus kaum eine arbeitsfähige Gruppe bilden lässt. Ich schlage stattdessen einen Punkt "Wissenschaftstheorie" vor, der sich insbesondere mit methodischen Fragen bei Reich., Marx und in den bürgerlichen Wissenschaften zu befassen hätte (z.B. dialektischer Widerspruch, Verhältnis von Erscheinungsform und Wesen, Verhältnis von Forschungs- und Darstellungsmethode...). -- Auch die Reihenfolge der vorgeschlagenen Projekte wäre aus systematischen Gründen zu ändern. Ich schlage folgende Aufteilung und Reihenfolge vor:

1) Marxismus--Psychoanalyse--Sexualökonomie
2) Erziehung
3) Orgonomische Medizin: Gesundheitsbegriff der Orgonomie, Neurosen, Psychosen, Biopathien, orgastische Potenz; Verhältnis zur herrschenden Medizin und Psychiatrie.
4) Therapien: Diskussion und Einschätzung unterschiedlicher Therapieformen und -konzeptionen im Verhältnis zum Reich'schen Ansatz, z.B. Psychoanalyse, Charakteranalyse, Vegetotherapie, Orgontherapie, Urschreitherapie, Bioenergetics, Gestalttherapie, Akupunktur, Meditation usw.
5) Experimente zur Orgon-Biophysik und Orgon-Physik.
6) Sexualtheorien, Sexualmedizin (im Verhältnis zum Reich'schen Ansatz)
7) Neuere wissenschaftliche Forschungen -- Bestätigung oder Widerlegung von Reich?
8) Wissenschaftstheorie: Dialektischer Materialismus und Orgonomie, Erkenntnistheorie (Zusammenhang zwischen Psychostruktur und Denkstruktur bzw. zwischen Gesellschaftsstruktur und Psychostruktur)
9) Wilhelm Reich -- Leben und Werk.


Stellungnahme zur Kritik von Bernd Senf

[von Bernd A. Laska]

Die Stellungnahme zur Kritik von Bernd Senf müsste hauptsächlich auf seine Variante des Marxismus zielen. Diese ist jedoch in dem Brief recht unscharf formuliert; eine argumentative Entgegnung erscheint daher nicht sinnvoll. Eine gut fundierte und haltbare Gegenposition zu einer guten marxistischen würde ausserdem auch vom Umfang her den Rahmen dieser Blätter sprengen. Auf die marxistischen Standardformulierungen möchte ich denn hier auch gar nicht eingehen. Von meinem an Reich orientierten Standpunkt aus würde die Kritik an Bernd Senfs Position an seiner nur negativen Sicht von Konkurrenz und Aggressivität ansetzen. Diese Auffassung entspricht nicht dem orgonomischen Konzept vom gesunden Individuum in einer entsprechenden Gesellschaft, das Reich entwickelte, nachdem er seine eigene marxistische Phase hinter sich hatte. Diese Problematik bedarf natürlich einer detaillierten Ausarbeitung und ist Gegenstand meines Projektvorschlages Nr. 3 (und evtl. auch 7).

/13N/

Als Anregung zur Beschäftigung mit dem Problemfeld MARX-FREUD-REICH möchte ich statt einer Kritik der marxistischen Position lieber einige Punkte nennen, die man m.E. nicht verdrängen sollte:

1) Reich konnte selbst in seiner marxistischen Ph.ase innerhalb der kommunistischen Bewegung nur geringen Einfluss gewinnen.

2) Auch heute spielt Reichs Theorie weder innerhalb einer der bekannteren marxistischen Schulen noch innerhalb einer der vielen linken Gruppen eine wesentliche Rolle.

3) Im skandinavischen und im amerikanischen Exil waren es wiederum Psychoanalytiker und Marxisten, die Reich aktiv bekämpften (z.B. Mildred E. Brady).

4) Die "Kritische Theorie" (Horkheimer, Adorno u.a.), die sich doch eingehend mit der Problematik Freud-Marx befasste, vermied es, sich mit Reich auseinanderzusetzen.

5) Auch z.B. Erich Fromm hat zwar viel von Reich abgekupfert ("Die Furcht vor der Freiheit"), aber ihn ansonsten totgeschwiegen.

6) Der einst als lustbejahender, linker Theoretiker gefeierte Herbert Marcuse hat nur ein paar abfällige Bemerkungen für Reichs Theorie übrig (gegen Ende von "Triebstruktur und Gesellschaft") und vermeidet jede weitere Diskussion.

7) Bei einzelnen weniger bekannten, oberflächlich betrachtet sexualfreundlichen, linken Autoren (z.B. Reimut Reiche, Helmut Dahmer) wird Reichs Orgasmustheorie (seit 1924 Kern und Basis seines Werks) strikt abgelehnt.

8) Die jungen Sexuologen in der Bundesrepublik, wie z.B. Prof. Volkmar Sigusch, wollen zwar die Sexuologie auf eine "materialistische" Basis stellen, können aber mit Reich nicht viel anfangen; er ist ihnen zu biologistisch, vitalistisch oder naturalistisch.

Das alles hat sicher seine Gründe. Diese Tatsachen und die schon in den Jahren um 1930 geführte Diskussion zum Thema Marxismus-Psychoanalyse sollten uns davor bewahren, unsere Zeit mit ideologischen Wortgefechten zu verlieren, die doch nur wieder ein Aufguss von schon x-mal geäusserten Theorien wären.

Obwohl Bernd Senf meine Stichworte zum Projekt Nr. 3 (Politik) als diffuses Sammelsurium von Fragestellungen aus dem Religionsunterricht ansieht, bin ich nach wie vor der Ansicht, dass sie doch mehr hergeben können als die von ihm dargebotene, wie ich meine, scheinwissenschaftliche "Argumentation", die allerdings leider oft auf jene imponierend wirkt, die solchen Formalismen kritiklos, ja bewundernd, gegenüberstehen und für die der Inhalt sekundär ist.

Bernd Senf sieht ein Übergewicht in der Beschäftigung mit dem späten Reich und eine Flucht vor der Politik in die Orgonforschung (ich nicht!). Da ich den Projektvorschlag "Ökonomie" nicht auf der von ihm offenbar als quasi axiomatisch angesehenen Marx'schen Wirtschaftstheorie aufgebaut habe, folgert er

/14N/

Schritt für Schritt, dass dieser Punkt in dieser Form... "gestrichen werden muss" [!] Nun, ich hoffe, dass sich trotzdem ausser mir auch andere "Laien" die Freiheit nehmen werden, von einem Reich'schen Standpunkt aus (hier: Selbstregulierung vs. Zwang) andere als marxistische Alternativen zum Kapitalismus als Wirtschaftssystem zu suchen. Fragt sich natürlich, wofür.

Aber das betrifft die Beschäftigung mit Reich überhaupt, gegen den eine Unmenge von marxistischen und antimarxistischen Fachwissenschaftlern, Doktoren und Professoren stehen, und das leider nicht nur aus mangelnder Kenntnis und schon gar nicht aus mangelnder "Intelligenz".

Anmerkung 1998: Bernd Senfs Beharren auf der marxistischen Theorie als Grundlage jeder Beschäftigung mit Reich führte bald zur stillschweigenden Aufkündigung seiner Mitarbeit und zur Gründung seiner eigenen Reich-Zeitschrift "emotion". Eine späte Pointe der Geschichte ergab sich daraus, dass nach "1989" Senf -- wie viele Linke -- dem Trend der Abkehr vom Marxismus folgte und seither -- ausgerechnet für den 1975 von mir ins Gespräch gebrachten (und vom Wirtschaftsprofessor Senf unwirsch abgetanen !) Theoretiker der sog. Natürlichen Wirtschaftsordnung Silvio Gesell trommelt (vgl. Senfs Buch "Der Nebel um das Geld" und zahlreiche Artikel zum Thema, bisweilen auch in dubiosen esoterischen Zeitschriften).
 

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[WRB (4/75)] WRB 1/76N, S. 32N-36N

/32N/

Reich ernst nehmen!
Gegen die Tabus der Reichianer

von Barbara Lehmann [pseud. f. Bernd A. Laska]

Es gibt unter Reichianern einige Probleme, die ungeklärt an sich offen zutage liegen, trotzdem aber kaum diskutiert werden. Diese Tabus sollte nan nicht länger pflegen.

Tabu 1
ist die realistische Einschätzung von Reichs Bedeutung für die Welt ganz allgemein. Eng zusammen damit hängen natürlich die Probleme der Wahrheit oder Richtigkeit von Reichs Theorien, Probleme der aus ihnen entwickelten und zu entwickelnden Praxis und Probleme der Anerkennung durch die Fach- und Laienwelt. Das braucht und soll sich erst einmal gar nicht auf das beziehen, was im engeren Sinne mit Orgonomie (also Reichs Arbeiten ab etwa 1940) bezeichnet wird; viel wesentlicher ist seine "Jahrtausendentdeckung", die kurz gefasst vielleicht mit folgendem Satz umschrieben werden kann:

DIE MORALISCHE REGULIERUNG DES TRIEBLEBENS SCHAFFT GERADE DAS, WAS SIE BÄNDIGEN ZU KÖNNEN VORGIBT: DAS ASOZIALE TRIEBLEBEN. (vgl. hierzu das erste Kapitel in "Die Sexuelle Revolution")

Um die Grösse dieser Entdeckung zu erfassen, muss man voll und konsequent einsehen, dass es sich hier nicht nur um eine philosophisch-spekulative Idee oder um eine intelligente Wortspielerei handelt, sondern um eine klinisch-empirisch gut begründete These. Die Begriffsdefinitionen hierzu sind klar und eindeutig, und Reich stellt ausführlich dar, was er unter primären (bei ihm: sozialen) und sekundären (asozialen) Trieben versteht, und warum diese Unterscheidung so wichtig ist. Trotzdem gibt es darüber keine Diskussion. In den unzähligen Büchern über Aggression meint man ohne diese Unterscheidung auskommen zu können und kommt nicht weiter. In verbal aufgeblasener Weise werden verbal aufgeblasene, seichte Theorien gewälzt, von Leuten, denen es kaum um die Sache gehen kann. Weitere Beispiele aus anderen Gebieten liessen sich leicht erbringen.

ES BESTEHT EINE MERKWÜRDIGE DISKREPANZ ZWISCHEN DER GRÖSSE DIESER REICH'SCHEN ENTDECKUNG, die man als Einzelentdeckung und in ihrer möglichen Auswirkung auf das Leben der Menschen als unübertroffen in der Menschheitsgeschichte ansehen könnte (vorausgesetzt, sie ist "wahr"), UND IHRER BEHANDLUNG DURCH DIE LEUTE, DENEN SIE BEKANNT IST, DIE REICHIANER EINGESCHLOSSEN.

Reich selber muss viel über diese Tatsache nachgedacht haben. In seinem Buch "The Murder of Christ" (inzwischen, 1978, auf deutsch unter dem Titel "Christusmord" erschienen, B.A.L.) geht er indirekt darauf ein, wenn er das "avoid the essential" -- VERMEIDE oder UMGEHE DAS WESENTLICHE -- als ein Hauptmerkmal des Kulturmenschen bezeichnet. Wer selbst nicht allzu sehr kaputt oder von seinen Alltagssorgen beansprucht ist, bekommt dies tatsächlich auf Schritt ünd Tritt bestätigt, auch oder gerade in der akademischen Welt.

Das Problem, warum Reichs grundsätzliche Thesen in der "Welt" so wenig Resonanz finden bzw. nicht ernst gerommen werden, wird

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oft erledigt, indem man sagt, die Leute seien eben durch ihre Erziehung geschädigt, charakterologisch unfähig usw. Dann muss man sich aber auch fragen: ob bzw. warum man selbst "fähig" ist; wie Reich selbst mit nicht gerade idealer Kindheit und ohne Therapie sich so entwickeln konnte; wieso z.B. Reichs Sohn und viele andere mit einer besseren Erziehung und/oder gelungener Therapie nicht in der Lage sind, in der Orgonomie produktiv und kreativ tätig zu sein.

Das alles sind offene Fragen, deren Diskussion nach meinen Eindrücken und Erfahrungen umgangen wird -- avoid the essential!

Tabu 2
betrifft das Selbstverständnis der Reichianer und hängt selbstverständlich mit den anderen Tabus zusammen. Ich habe immer wieder den Eindruck, viele Reich-Anhänger glauben nur "irgendwie" an Reich, nehmen ihn aber im Grunde nicht wirklich ernst.

Da gibt es einmal jene, die aus der Orgonomie eine quasi-esoterische Lehre machen wollen. Sie sprechen geheimnisvoll von den 100000 unveröffentlichten Manuskriptseiten Reichs, die versiegelt irgendwo lägen (und vielleicht eine Geheimformel zur Erlösung der Menschheit enthalten); sie sprechen vom geheimen Faktor Y des Orgonmotors, von Verschwörungen und geheimen Entwicklungen in der Sowjetunion usw. usf. Mit solchen Mystifizierungen ist der Sache gar nicht gedient. Reich hat, im Gegensatz zum lieben Gott, niemandem etwas versprochen, wenn er an ihn glaubt. Er hat sein Leben lang darunter gelitten, dass er keine kompetenten Mitarbeiter und Kritiker hatte, nur ergebene Jünger und gemeine Feinde.

Wenn wir Reich ernst nehmen wollen, dann müssen wir versuchen, sein Werk auch unter dem Aspekt der Umstände seiner Entstehung kritisch zu sehen, keine Tabus aufzubauen und Reich nicht als Gott und die Therapeuten nicht als seine Priester zu betrachten. Sicher sind wir verschwindend wenige und werden es auch noch eine Zeit lang bleiben; aber dieses Problem müssen wir rational, und das geht in diesem Falle nur mit Reich'schen Kategorien, bewältigen. Dabei müssen wir uns von esoterischen Lehren unterscheiden, die ja meist auch eine Erklärung dafür enthalten, warum die vielen anderen, auch hochintelligenten Menschen ihre grossen Einsichten nicht erfassen.

Eine andere Gruppe von Reichianern, die Reich meiner Ansicht nach nicht ernst nehmen, sind jene, die seine Erkenntnisse in einen obskuren Marxismus einbauen wollen. Sie sehen zwar oft, dass unter den bisherigen sich auf marxistische Prinzipien berufenden Regimes allemal eine gewaltige Renaissance zwangsmoralischer Regulierung stattfand (Reich sprach deswegen sogar vom "Roten Faschismus"). Aber sie meinen, das sei alles nicht so schlimm, der Zwang und die Unterdrückung habe ja die Freiheit zum Ziel, wobei Freiheit mit einer sinnleeren Formel definiert wird. Diese Leute scheinen Reichs Entdeckungen nur für "Ideen" zu halten, wie die von Kant oder Hegel oder sonstwem, die man beliebig miteinander verbinden kann; und Widersprüche lösen sie "dialektisch" auf. Reich hat sich aber immer (auch vor der Orgontheorie!) als Naturwissenschaftler verstanden

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und den aus seinen Beobachtungen des menschlichen Organismus abgeleiteten Theorien naturgesetzlichen Charakter beigemessen. Man kann nicht Reichs energetische Konzeption des Menschen und die Ursachen und politischen Folgen der Charakterbildung für richtig halten und gleichzeitig den Gesellschaften, in denen die Zwangsmoral triumphiert, ihre nur auf dem Papier behauptete Fortschrittlichkeit abnehmen; es sei denn, man definiert die den wirtschaftlichen Prozess lähmenden Massnahmen in den sozialistischen Ländern als Fortschritt. Die Meinung der präpsychologischen Denker Marx und Engels zu diesen Problemen dürfte m.E. nach heute wohl nicht mehr als Patentlösung gelten.

Unsere Studiengruppe sollte weder am missionarischen Eifer der Marxisten noch an der Esoterik der Orgon-Fans scheitern, sondern sich eine "politische" Praxis erarbeiten, die die Theorie bestätigen kann, denn das ist nun mal das einzige Kriterium für ihre Richtigkeit.

Tabu 3
betrifft die Geschichte der Orgonomie sowie die Einschätzung der Person Reichs und hängt natürlich auch eng mit den anderen Tabus zusammen. Reichs grundsätzliche Theorien sind schon relativ lange bekannt, zumindest einer qualifizierten Minderheit. Darunter waren und sind viele bestens ausgebildete Psychotherapeuten und Psychiater, von denen etliche noch von Reich selbst charakterlich umstrukturiert und für die Ausbildung von Vegeto- bzw. Orgontherapeuten autorisiert wurden. Darunter waren und sind auch Naturwissenschaftler, geheilte Patienten und vor allem die jetzt erwachsenen Kinder der Leute, die die Reich'schen Erziehungsprinzipien als richtig erkannt bzw. angenommen haben und in ihrer eigenen Erziehungspraxis so weit als möglich zu verwirklichen suchten. Die meisten dieser Leute leben heute in den USA und haben dort Möglichkeiten, vor allem finanzieller Art, die durchaus als günstig zu bezeichnen sind. Sicher gab es ein Paar Attacken von seiten der Behörden und Berufsverbände und die Auflagen aus dem Urteil im Prozess gegen Reich, aber das können nicht die Gründe für die auch noch heute anhaltende Stagnation der Ertwicklung der Orgonomie sein.

Was ist aber der Grund dafür, dass die Orgonomie noch immer fast ausschliesslich das Werk eines einzelnen Mannes ist? Will man darüber etwas erfahren -- und das ist meiner Ansicht nach notwendig, will man den Unterschied zwischen Orgonomen und irgendwelchen esoterischen Gruppen herausfinden -- so ist man auf die Durchsicht des wenigen publizierten Materials angewiesen, denn die Orgonomen selbst, ganz gleich, welcher Fraktion sie nun angehören mögen, haben sich in dieser Hinsicht wenig bemüht -- eine sehr aussagereiche Tatsache übrigens.

Ich habe in dieser Hinsicht einige Mühe aufgewandt. Was ich gelesen habe, ist nicht gerade geeignet, zu belegen, dass die Leute, die Reichs Theorien für richtig halten und sogar meist noch selbst durch eine Therapie gegangen sind, selbst therapieren und auch Therapeuten ausbilden, in der Regelung ihrer Beziehungen untereinander und zur Umwelt anderen Gruppen überlegen wären. Im Gegenteil, das manchmal kleinliche Gezeter, das ich bei uns übrigens auch schon bemerkt habe, ist erschreckend.

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Auch lässt sich aus den Veröffentlichungen der Reichianer nicht entnehmen, dass sie in ihrer intellektuellen Potenz den gewöhnlichen neurotischen und biopathischen Wissenschaftlern, die nie durch eine Psycho- oder Orgontherapie gegangen sind, irgendetwas voraus hätten: Seit Reichs Tod gab es kaum eine nennenswerte Weiterentwicklung; eher ist eine pragmatistische Rückentwicklung zu erkennen, die sich in einer Verwässerung des Therapieziels und der fast völligen Aufgabe eines prophylaktischen Konzepts erkennen lässt. Hier ist ein direkter Übergang erkennbar zum

Tabu 4
die Therapeuten. Ilse Ollendorff schreibt in ihrer Reich-Biografie: "Reich beklagte, dass diese Therapie sich schnell zu einem Beruf entwickele, mit dem man viel Geld verdienen könne. Es erfüllte ihn mit Sorge und Furcht, dass manche seiner Schüler die Orgasmustheorie dem leicht zu verdienenden Geld und dem Wohlstand aufopfern könnten." (S. 96) Und anlässlich des Prozesses: "Zu viele Orgontherapeuten glaubten, dass sie es sich nicht leisten könnten, ihre gutgehende Praxis für ein paar Tage zu verlassen, um Reich zur Seite zu stehen, wenigstens moralisch; und zu viele seiner Bewunderer hatten Angst, mit einem Werk, das sie bewunderten, aber nicht wirklich verstanden, in Verbindung gebracht zu werden." (S. 185)

Auch bei Reich selbst finden sich Stellen (z.B. in "Listen, Little Man!"), in denen seine Verbitterung über die Kommerzialisierung seines Werkes klar hervortritt.

Die Therapeuten schlagen heute aus der offenbar sehr grossen Not einen Stundensatz heraus, der in etwa dem durchschnittlichen Tagessatz in einem gehobenen Beruf entspricht. Trotz dieser beschämenden Art der Patientenselektion sind sie auf Jahre ausgebucht. Die peinliche Frage, wofür bzw. zur Befriedigung welcher Bedürfnisse die Therapeuten ihre Übereinnahmen verwenden, werden wir vergebens stellen. Fest steht jedenfalls, dass die Tendenz zum Geldscheffeln seit Reichs Tod stark angestiegen ist und im heutigen Therapieboom gewiss noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hat. Und fest steht auch, dass parallel zu dieser Entwicklung, und nicht ohne kausalen Zusammenhang, der Verfall dessen sich vollzieht, wofür Reich sein Leben lang gearbeitet hat: die radikale Erforschung der Funktionsweise des menschlichen Organismus als Grundlage für Konzepte zur prophylaktischen Minderung des Leidens ganz allgemein, d.h. zur Optimierung der Lust/Unlust-Relation im gesellschaftlichen Massstab. (Wenn ich hier pauschal von "den" Therapeuten gesprochen habe, soll das nicht heissen, dass es nicht auch andere gibt -- aber die sind schwer zu finden.)

Schlussbemerkung

Ich hoffe, dass dieser Beitrag für manche provokativ war und sie zu einer realistischeren Sicht dieser Dinge ermutigt. Was nützen einer Sache die Leute, die ihr aufgrund von illusionären Vorstellungen anhängen und bei den geringsten Enttäuschungen ihrer ungerechtfertigten Erwartungen den ganzen Laden hinschmeissen und zu erbitterten Feinden werden?

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Was die Orgonomie braucht, sind Leute mit einer aktiv-kritischen Haltung, auch wenn das von einigen Reich-Gläubigen missbräuchlich als "emotionale Pest" bezeichnet werden mag; Leute, die sich darüber freuen würden, wenn durch Verifizierung der Orgontheorie Reichs Erkenntnisse über den Menschen einen "objektiveren" Charakter bekämen, die aber nicht gleich den ganzen Reich fallen lassen, wenn sich einige von den bei Reich beschriebenen Phänomenen auch im Rahmen der bestehenden physikalischen Theorien erklären lassen.

Deshalb begrüsse ich es auch, dass jetzt in unserer deutschen "Wilhelm-Reich-Studiengruppe" die einfacheren Experimente, bei denen eine möglicherweise durch charakterliche Deformationen gestörte Wahrnehmungsfunktion nicht so ins Gewicht fällt, reproduziert werden; und dies nicht mit der Haltung, dass unbedingt dies und jenes herauskommen muss und auch genau nach Reich gedeutet werden muss.

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