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Erstveröffentlichung in:
Anarchismus und Bildung. Schriften zur libertären Pädagogik, hg. v. Ulrich Klemm. Heft 1. Juli 1988. S. 18-30.


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Bernd A. Laska

Max Stirner -- ein anarchistischer Pädagoge?

Ein bibliographischer Kurzessay


Max Stirner, eigentlich Johann Caspar Schmidt, wurde am 25. Okt. 1806 in Bayreuth als erstes Kind protestantischer Eltern geboren. Sein Vater, von Beruf Musikinstrumentenbauer, starb ein halbes Jahr später. Seine Mutter ging nach Ablauf einer zweijährigen Trauerzeit eine neue Ehe ein. Die dreiköpfige Familie verliess kurz darauf Bayreuth und liess sich im westpreussischen Kulm nieder. Johann Caspar kehrte jedoch, wahrscheinlich aus schulischen Gründen, im Alter von 12 Jahren allein nach Bayreuth zurück, wo er in der Familie seines Paten Aufnahme fand. Er besuchte das Gymnasium, das von Georg Andreas Gabler geleitet wurde, einem beflissenen Anhänger Hegels, der 1831, als dieser starb, sein Nachfolger in Berlin wurde. 1826 schrieb sich Schmidt an der renommierten Berliner Universität ein und studierte bei Hegel, Schleiermacher und anderen, heute nicht mehr so bekannten Koryphäen. Die erhalten gebliebenen Testathefte zeigen jedoch, dass sein anfänglicher Elan bald nachliess. Nach vier Semestern schliesslich verzichtete er vollends auf das Privileg, sich an jener Hochburg des (Welt-)Geistes zu bilden. Er versuchte zwar noch, das Studium fortzusetzen und schrieb sich für das folgende Semester in Erlangen ein, ging aber schon bald, wie er in einem Lebenslauf schrieb, "auf eine längere Reise durch Deutschland", über die wenig bekannt geworden ist. Erst 1833 tauchte Schmidt wieder in Berlin auf, wo er unter allerlei Schwierigkeiten die formellen Bedingungen erfüllte, um schliesslich 1839, im Alter von 33 Jahren und mit einer bedingten facultas docendi  ausgestattet, seine erste bezahlte Stellung antreten zu können: als Lehrer an einer Berliner Mädchenschule. Ab Mitte 1841 verkehrte Schmidt bei den Berliner "Freien", einer lockeren Gruppierung von "Intellektuellen" um Bruno Bauer, und trat mit kleineren Beiträgen als Journalist und Schriftsteller hervor: teils anonym, teils bereits pseudonym als "Max Stirner". Bei den "Freien" lernte er auch seine zweite Frau kennen, mit der er 1843-46 zusammenlebte (seine erste war 1838, nach einjähriger Ehe, im Kindbett gestorben). In den Jahren 1842-47 verfasste Stirner seine wichtigsten Schriften. Sein Buch »Der Einzige und sein Eigentum« erschien Ende Oktober 1844 (kurz zuvor hatte Stirner seine Lehrerstelle aufgegeben), erregte für kurze Zeit einiges Aufsehen, geriet aber bereits vor der Zäsur des März 1848 in weitgehende Vergessenheit. Stirner verbrachte die restliche Zeit seines Lebens in wachsender Armut und starb am 25. Juni 1856. (1)

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Dieser biographische Abriss sollte einführend eine grobe Orientierung bieten und dabei die "empirische Basis" andeuten, von der aus Stirner 1842 sein Urteil über die Produkte des damaligen Schulwesens fällte: "Was sind unsere geistreichen und gebildeten Subjekte grösstenteils? Hohnlächelnde Sklavenbesitzer und selber -- Sklaven." (2) Stirner schrieb dies in seinem Aufsatz »Das unwahre Prinzip unserer Erziehung«, in dem er polemisch an eine kurz zuvor erschienene Schrift von Theodor Heinsius anknüpfte, mit der dieser zwischen den rivalisierenden pädagogischen Richtungen des "Humanismus" und des "Realismus" vermitteln wollte. Stirner stand wohl dem Realismus näher, verwarf aber beide Alternativen als zu oberflächlich, denn: "Nur ein formelles und materielles Abrichten wird bezweckt, und nur Gelehrte gehen aus den Menagerien der Humanisten, nur 'brauchbare Bürger' aus denen der Realisten hervor, die doch beide nichts als unterwürfige Menschen sind." (3) Stirner sah in dem gerade erschienenen Programm Adolf Diesterwegs zwar "die besten Bestrebungen der Realisten" ausgedrückt; in der Hauptsache jedoch war er entgegengesetzter Meinung: während Diesterweg "die Schwäche unserer Erziehung" darin sah, dass "keine Gesinnung" gebildet würde, forderte Stirner: "Wir brauchen fortan eine persönliche Erziehung (nicht Einprägung einer Gesinnung)." (4)

Was Stirner damit meinte, versuchte er in verschiedenen Formulierungen auszudrücken, z.B.: "Persönlich aber muss jede Erziehung werden, und vom Wissen ausgehend doch stets das Wesen desselben im Auge behalten, dies nämlich -- dass es nie ein Besitz, sondern das Ich selbst sein soll. Mit einem Worte, nicht das Wissen soll angebildet werden, sondern die Person soll zur Entfaltung ihrer selbst kommen; nicht vom Zivilisieren darf die Pädagogik ferner ausgehen, sondern von der Ausbildung freier Personen, souveräner Charaktere; und darum darf der Wille, der bisher so gewalttätig unterdrückte, nicht länger geschwächt werden. [...] Die kindliche Eigenwilligkeit und Ungezogenheit hat so gut ihr Recht als die kindliche Wissbegierde. Die letztere regt man geflissentlich an; so rufe man auch die natürliche Kraft des Willens hervor, die Opposition. Wenn das Kind sich nicht fühlen lernt, so lernt es gerade die Hauptsache nicht. Man erdrücke seinen Stolz nicht, seinen Freimut. Gegen seinen Übermut bleibt meine eigene Freiheit immer gesichert. Denn artet der Stolz in Trotz aus, so will das Kind mir Gewalt antun; das brauche ich mir, der ich ja selbst so gut als das Kind ein Freier bin, nicht gefallen zu lassen. Muss ich

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mich aber durch die bequeme Schutzwehr der Autorität dagegen verteidigen? Nein, ich halte die Härte meiner eigenen Freiheit entgegen, so wird der Trotz der Kleinen von selbst zerspringen. Wer ein ganzer Mensch ist, braucht keine -- Autorität zu sein." (5). Letztes Ziel der Erziehung sei der "persönliche" oder "freie" Mensch; Stirner nennt ihn, offenkundig in terminologischer Notlage, in diesem Aufsatz von 1842 auch den "ganzen", "wahren", "vernünftigen" und "prinzipiellen" Menschen. Die Erziehungsfrage war für Stirner dementsprechend auch "so wichtig, als es eine unserer sozialen nur irgend sein kann, ja sie ist die wichtigste, weil jene auf dieser letzten Basis ruhen." (6)

Stirner schrieb, trotz des Ranges, den er also der Erziehungsproblematik bzw. Pädagogik beimass, keine separate Abhandlung mehr über sie, wohl weil er merkte, dass sie bei seiner radikalen Betrachtungsweise überhaupt nicht separierbar ist.

In seinem zwei Jahre später erschienenen Buch »Der Einzige und sein Eigentum« kam Stirner jedoch mehrfach auf die pädagogische Thematik zu sprechen. Gleich zu Beginn liefert er in dem Kapitel »Ein Menschenleben« eine Art psychische Ontogenese des Individuums, wonach dieses eine knabenhaft-realistische und anschliessend eine jünglingshaft-idealistische Phase durchlaufe, ehe es die mannhaft-egoistische Phase erreiche. Den Ernst dieser auf Hegel, Feuerbach und andere damalige Autoren anspielenden triadischen Konstruktion stellt er allerdings selbst ironisch in Frage, indem er abschliessend fragt: "Endlich der Greis? Wenn Ich einer werde, so ist noch Zeit genug, davon zu sprechen." (7)

Wichtig sind jedoch die Passagen des »Einzigen«, in denen Stirner versucht, das schon im Erziehungsaufsatz mehr oder minder deutlich bezeichnete Kernproblem weiter einzukreisen, so etwa die folgenden: "Es ist ein grosser Abstand zwischen den Gefühlen und Gedanken, welche durch Anderes in mir angeregt, und denen, welche Mir gegeben werden. Gott, Unsterblichkeit, Freiheit [!], Menschlichkeit usw. werden Uns von Kindheit an als Gedanken und Gefühle eingeprägt, die ... entweder unbewusst Uns beherrschen, oder in reicheren Naturen zu Systemen und Kunstwerken sich darlegen können, immer aber nicht angeregte, sondern eingegebene Gefühle sind, weil Wir an sie glauben und an ihnen hängen müssen. [...] Der Unterschied ist also der, ob Mir Gefühle eingegeben oder nur angeregt sind. Die letzteren sind eigene, egoistische, weil sie Mir nicht als Gefühle eingeprägt, vorgesagt und aufgedrungen werden; zu den ersteren aber spreize Ich Mich auf, hege sie in Mir wie ein Erbteil, kultiviere sie und

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bin von ihnen besessen. [...] Das Eingegebene ist Uns fremd, ist Uns nicht eigen, und darum ist es 'heilig', und es hält schwer, die 'heilige Scheu davor' abzulegen" Leicht bemerkbar sei,"dass Unsere ganze Erziehung darauf ausgeht, Gefühle in Uns zu erzeugen, d.h. sie uns einzugeben, statt die Erzeugung derselben Uns zu überlassen, wie sie auch ausfallen mögen." (8) Deshalb bezeichnete Stirner auch die Erzieher, die "Pfaffen, Eltern und guten Menschen ... als die wahren Jugendverführer und Jugendverderber, die das Unkraut der Selbstverachtung und Gottesverehrung emsig aussäen, die jungen Herzen verschlämmen und die jungen Köpfe verdummen." (9).

Diese Zitate können freilich nur einen groben Eindruck von Stirners Gedanken vermitteln. Voll verständlich wären sie nur, wenn zuvor die spezifische Verwendung von Begriffen wie Egoismus, Besessenheit, Heiligkeit, Eigenheit (u.a.) geklärt wäre. Denn während sich Stirner im Erziehungsaufsatz noch mit der "in Sklavenzeiten" entstandenen Terminologie abmühte, entwickelte er im »Einzigen« eine neue. Insbesondere die vielgepriesene "Freiheit", dieses bis heute von allen politischen Richtungen beanspruchte Schibboleth, erschien Stirner als ein zu dürftiges Konzept: er ersetzte es durch das der "Eigenheit" (das ebenfalls hier in wenigen Worten nicht zu entwickeln ist).

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Stirners »Einziger« war zwar, wie Arnold Ruge sagte, "ein kühner Morgenruf', und eigentlich mehr als das; aber Ruge selbst und das gesamte "progressive" Lager, insbesondere Marx und Engels, taten das ihre, um diesen schnell verhallen zu lassen; und wo man Stirners Buch sonst zur Kenntnis genommen hatte, hatte man es ohnehin sogleich bloss für ein frivoles Machwerk gehalten. Als Stirner dann in den 1890er Jahren von einer breiteren literarischen Öffentlichkeit "wiederentdeckt" wurde, ordneten ihn nichtanarchistische Darsteller des Anarchismus, wie Zenker, Eltzbacher u.a., ohne weiteres dieser neuen sozialen Bewegung zu. Die Anarchisten selbst allerdings, insbesondere deren namhafte Theoretiker, blieben Stirner gegenüber meist zurückhaltend oder gar insgeheim feindselig eingestellt, so dass später der anarchistische Historiker Max Nettlau sich veranlasst sah, recht diplomatisch zu formulieren, als er dem so oft "missverstandenen" Autor in seiner Darstellung der Geschichte des Anarchismus (10) den Platz einräumte, der ihm seiner Ansicht nach zukam. Obwohl Stirner nach wie vor oft unbesehen als Anarchist bezeichnet wird, mehren sich die Stimmen von anarchistischer wie nicht

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anarchistischer Seite, die ihn nicht als Anarchisten betrachtet wissen wollen. Stirners Status als anarchistischer Theoretiker ist also noch immer unklar, mittlerweile aber wenigstens umstritten. (11)

Von Pädagogen ist Stirner, trotz der überragenden Bedeutung, die er der Erziehungsfrage ausdrücklich beimass, bisher nur vereinzelt mit einer Stellungnahme bedacht worden.

Karl Mager (1810-1858), Stirners staatsschulkritischer Zeitgenosse (vgl. Heft 1 (1986) dieser Zeitschrift [Anarchismus und Bildung] , S. 95f), erwähnt Stirner laut Personenregister seiner kürzlich in fünf Bänden erschienenen »Gesammelten Werke« an keiner Stelle. Übersehen hatte er ihn indes wohl kaum, wie ein Brief zeigt, den er am 6. März 1843 an die Redaktion der Rheinischen Zeitung geschrieben hat (dort war zuvor u.a. Stirners Artikel »Das unwahre Prinzip unserer Erziehung« erschienen; seit jedoch am 15. Oktober 1842 Karl Marx die Redaktion übernommen hatte, durfte kein Beitrag mehr von Stirner, Bauer oder einem anderen "Freien" erscheinen). "Am schlimmsten war es", schrieb also Mager an diese neue Redaktion, "dass die Rheinische Zeitung Sympathien für Bruno Bauer und Feuerbach zeigte.... Ich nehme einen Augenblick an, die Herren Bauer und Feuerbach und ihre Adepten [zu denen er den noch kaum bekannten Stirner zählte] seien allein gescheit, die ganze bisherige und gegenwärtige Menschheit, von Moses und Christus an bis auf mich herab, bestehe aus Eseln, die eine Chimäre (Gott) für ein Wirkliches genommen. Was folgt daraus? Dass wir -- die Esel, die einen Gott und eine Religion haben wollen -- die Majorität sind und nicht die geringste Lust haben, unserer öffentlichen Sittlichkeit ins Gesicht schlagen zu lassen ...". (12) Einem Manne dieser Gesinnung musste Stirner, der später sogar Bauer und Feuerbach noch "Pfaffen" nannte, freilich als der Leibhaftige erscheinen, über dessen Ansichten man nicht diskutiert.

Karl Schmidt (1819-1864), ein anderer Pädagoge der Zeit, hatte keine solche Scheu: er diskutierte Stirner in seinem 1846 anonym erschienenen Buch »Das Verstandestum und das Individuum« ausführlich und kenntnisreich, sah bei ihm aber keine pädagogischen Implikationen, so dass er ihn in seiner 1860-62 erschienenen 4-bändigen »Geschichte der Pädagogik« gar nicht erwähnte.

Um die Jahrhundertwende, als Stirner im Gefolge der Diskussionen um den Anarchismus wieder aktuell geworden war, erschien auch in einer pädagogischen Zeitschrift ein Artikel über Stirner (13), in dem von Pädagogik allerdings kaum die Rede ist. Einige philosophisch ambitionierte Pädagogen, z.B. Theobald Ziegler und Friedrich Paul-

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sen, erwähnten den nunmehr "populären" Stirner vollständigkeitshalber in ihren ethisierenden Werken, jedoch nicht als Pädagogen. Stirners Schrift »Das unwahre Prinzip unserer Erziehung« erschien von 1895 bis in die zwanziger Jahre hinein in einer Reihe von Neuauflagen, zu denen die jeweiligen -- nichtpädagogischen -- Herausgeber (der "Individual-Anarchist" John Henry Mackay, der "Personalist" Anselm Ruest, der "Anthroposoph" Willy Storrer u.a.) jeweils eine einführende Betrachtung schrieben. (14) Rolf Engert, ebenfalls kein Pädagoge vom Fach, publizierte von Stirner inspirierte »Vorbetrachtungen zu einer Erziehungslehre der Zukunft«. (15)

Eine professionelle pädagogische Auseinandersetzung mit Stirner erfolgte, wenn auch unzulänglich, erst in jüngerer Zeit. Sie besteht im wesentlichen aus zwei Kapiteln in zwei Büchern zweier Autoren, die beide als Philosophen und Pädagogen ausgewiesen sind: Bogdan Suchodolski und Paul Röhrig.

Suchodolski (1903-?), der in den 20er Jahren u.a. in Berlin studierte und nach 1945 in Polen eine glänzende Karriere machte, befasst sich in einem 1957 erstmals erschienenen erziehungswissenschaftlichen Grundlagenwerk 50 Seiten lang mit Stirner (16). Hier müssen zwei Zitate genügen, um seine Position zu kennzeichnen: "Die Kritik der Grundlagen des Individualismus [Stirner], die Marx übte, hat unmittelbare pädagogische Konsequenzen. Daraus folgt, dass die Erziehung nicht bestimmt werden darf als Hilfe für den inneren und autonomen Entwicklungsprozess der Individualität ..." (17) [sondern] "sie verlangt die Eingliederung des Individuums in seine Klasse ...". (18) Freilich finden sich bei Suchodolski auch zur Genüge die allbekannten marxistischen Klischees: Stirners Buch sei das "ideologische Manifest" der Bourgeoisie, basiere auf einem "unhistorischen" Menschenbild usw. usf. Mit einer Anspielung will Suchodolski suggerieren, aus welchen Motiven ein solches Werk entstehen konnte: "Stirner legt auf die Rolle des Körpers und seiner Bedürfnisse grossen Wert.... Hier liegt der Ursprung des Programms eines rücksichtslosen Egoismus ...". (19)

Paul Röhrig, Jahrgang 1925 und seit 1970 Professor für Pädagogik und Philosophie in Köln, befasste sich zunächst kurz, im Rahmen seiner Mainzer Dissertation (20), und später ausführlicher, in einem Artikel, mit »Max Stirners Gedanken über Erziehung«. (21) Er erinnert, ganz im Geiste Stirners, an "die durch Jahrtausende währende Vernichtung der Individuen für sogenannte übergeordnete Zwecke, für Kirche oder Kaiser, Staat oder Nation, auch für Privilegien oder

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Profite anderer"; er nennt Stirner einen "begabten Denker und anständigen Menschen", und er verweist auf "den humanen Hintergrund von Stirners radikalem Individualismus." Dies klingt für den Kenner der Stirnerliteratur ganz unüblich wohlwollend, ist aber doch nur die eine Seite der ambivalenten Haltung des Autors, den trotzdem "angesichts seiner [Stirners] Schriften ein Schwindel vor dem Abgrund, der sich dort auftut, ergreift." (22)Als dieser Abgrund erscheint Röhrig die "absolute Freiheit", "ohne Richtung und Gehalt", die Stirners "letztes Ziel", auch Erziehungsziel, gewesen sein soll. Doch gerade gegen so verstandene Freiheit wendet sich Stirner sehr eindringlich; und er setzt ihr die schon erwähnte "Eigenheit" entgegen, die mutatis mutandis  als sein Erziehungsziel gelten kann. Von ihr jedoch ist bei Röhrig seltsamerweise keine Rede.

Theodor Ballauff und Klaus Schaller widmeten Stirner in ihrer Pädagogikgeschichte zwar ein Kapitel; dies ist jedoch im wesentlichen nur ein Verschnitt aus Stirner- und Röhrig-Zitaten, ergänzt durch zwei eher konfuse Schlussabsätze. (23)

Während der liberale Röhrig, der Stirners "Gedanken über Erziehung" ernsthaft zu erfassen suchte und auf halbem Wege umkehrte, niemanden motivierte, den Versuch zu wiederholen, fand der orthodoxe Marxist Suchodolski, der Stirner als einen in der Philosophie bewährten "Schwarzen Peter" in die Pädagogik transferierte, darin einige Nachfolger, und zwar von recht unterschiedlicher parteilicher Provenienz.

Wolfgang Brezinka etwa, bundesdeutscher Professor für Erziehungswissenschaften auf dem "Standpunkt eines liberalen Konservatismus", bediente sich in seinem publizistischen Kampf gegen die "anti-autoritäre" oder "emanzipatorische" Erziehung der "Neuen Linken" der gleichen Waffe wie der Marxist Suchodolski. "In diesem extremen Individualismus Stirners", fand er, "stecken bereits alle wesentlichen Elemente der anti-autoritären Erziehungsbewegung der Gegenwart." Und um den Wahn seiner Gegner noch deutlicher zu machen, ruft er, der "aus Sorge um die Zukunft der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft" schreibt, merkwürdige Zeugen auf: "Diese Mentalität ist schon von Marx als Zeichen des Verfalls der spätbürgerlichen Gesellschaft gedeutet worden. Für die bürgerlichen Linksintellektuellen, die sie heute vertreten, haben auch moderne Kommunisten nur Verachtung übrig." (24)

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Festzuhalten ist hier, dass beileibe keiner der "linksintellektuellen" Pädagogen sich tatsächlich je auf Stirner berufen hat. -- Das gleiche polemische Muster wiederholte sich, wie ich noch kurz zeigen werde, wenige Jahre später im Zusammenhang mit der sogenannten Antipädagogik.

Schon 1907 bemerkte Georg Adler, Nationalökonom und Sozialphilosoph, dass es Stirner gewesen sei, der "die konsequenteste anarchistische Doktrin, die je in der Weltliteratur in Erscheinung getreten ist", formuliert habe; dass diese "die im Prinzip radikalste [Kritik sei], die diese [die herrschende] Ordnung je erfahren hat"; und dass der Gipfel dieser Kritik sei, "dass Stirner sogar die gesamte Kindererziehung verwirft". (25)

Es wäre sehr erstaunlich, wenn die heutigen Antipädagogen, die die "Abschaffung der Erziehung" propagieren, von dem auch sonst weithin berüchtigten Stirner nie gehört hätten. Meines Wissens jedoch wurde der Name Stirner bisher von keinem antipädagogischen Autor auch nur erwähnt. Trotzdem haben Gegner der Antipädagogik mehrfach versucht, die Antipädagogik mit dem Vorwurf zu treffen, Stirner als eigentlichen und wahren Ahnherrn zu haben; ein Vorwurf, den auch der sich zum "Anarchismus" bekennende Ekkehard von Braunmühl (26) nicht mit der sonst gewohnten Argumentationslust, sondern durch "Aussitzen" bewältigen zu wollen scheint.

Drei derartige Stimmen gegen die Antipädagogik, von Autoren mit durchaus "progressivem" Selbstverständnis, will ich hier kurz vorstellen.

Jürgen Oelkers, ein Professor für Pädagogik und sehr publikationsfreudiger Autor, versuchte unter Rekurs auf Stirner und die Psychopathologie die Frage zu klären, warum gerade heute "das grobe und traditionslose 'antipädagogische' Denken massenwirksam ist." Oelkers und sein Co-Autor Thomas Lehmann stellen fest: "Eine mögliche Antwort geht aus von Stirners Hauptthese, dass nämlich Ichbezug -- Egoismus -- die Basis des gesellschaftlichen Verkehrs sein müsse, wenn eine Entfremdung des Ichs und seine Ausbeutung durch Andere verhindert werden sollen. Die klinische Psychologie liest diese Vorstellung als Narzissmus ... als Typus seelischer Krankheit." Narzissmus aber sei "Erscheinungsform durchschnittlicher Charakterstrukturen in modernen Gesellschaften ... Ein Narziss aber kann schwerlich pädagogisch handeln, ist vermutlich überhaupt unfähig zur Erziehung. Sein Zeiterleben lässt nurmehr die Fixierung auf den Augenblick zu, Ziel ist -- getreu den Maximen Stirners -- die Ausbeutung von Situationen ..." usw. (27)

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Michael Winkler, ein weiterer ambitionierter Gegner der Antipädagogik aus tiefer Sorge um den Fortbestand unserer Kultur, meint trotz aller feingesponnenen "dialektischen" Argumentation auf den plumpen -- von Oelkers übernommenen -- Hinweis nicht verzichten zu können, Antipädagogik nehme "eine Position ein, die man als konservativ und anarchisch zugleich bezeichnen könnte -- obwohl sie allein die des Kleinbürgers [!?] ist: Sie legitimiert die Phantasien eines de Sade ebenso wie sie das Denken eines Max Stirner umfasst." (28)

Rainer Winkel, einst Mitbegründer der Freien Schule Essen, dann Professor für Erziehungswissenschaften, operiert in einer Rezension der Bücher von Oelkers/Lehmann und Winkler ebenfalls mit dem bewährten, als allbekannt vorausgesetzten Popanz: "Liefert nicht gerade die Geschichte eindrucksvolle Beispiele für das Scheitern anarchistischer und subjektivistischer Überlegungen? Muss man an Max Stirner und seinen 'Verein von Egoisten' erinnern, der in seinem Buch 'Der Einzige und sein Eigentum' (1845) einem masslosen Ich-Kult das Wort redete ...?" (29)

Abschliessend sind noch drei angelsächsische Autoren zu nennen, die als Pädagogen über Stirner geschrieben haben.

David Holbrook (*1923), dessen zahlreiche Verdienste u.a. im englischen »Who's Who« nachzulesen sind, beschwört schon auf der Titelseite eines Buches "the sinister figure of Max Stirner" als diejenige, die letztlich hinter allem "Nihilismus" stehe, der heutzutage, allem guten Willen zum Trotz, der Jugend sogar unter dem Titel "humanities" zumindest implizit gelehrt werde. (30) Wie Röhrig, Oelkers und vielleicht auch Winkler sieht Holbrook in Stirner jedenfalls eine kulturphilosophische Schlüsselfigur; er empfindet ihn als "deeply disturbing", als intellektuelle Herausforderung, der er sich dann aber, wie jene Autoren auch, zurückgezogen in den schützenden Panzer einer etablierten Meinung, nicht wirklich zu stellen wagt.

Die beiden anderen Autoren sind Joel Spring und Michael Smith (31), beide jüngere US-Amerikaner, wohl selbst "libertarians", und insofern weniger interessant, als sie neben oberflächlichem Lob die "extreme" Position Stirners, die die zuvor genannten Autoren zumindest deutlich spüren, nicht adäquat behandeln (ein Urteil, das im übrigen auch auf den grössten Teil der genannten und nichtgenannten "stirnerianischen" Stirner-Literatur zutrifft).

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Die im Rahmen dieses Artikels notwendigerweise nur schlaglichtartig dargebotene Autoren- bzw. Zitatenparade kann freilich keine Antwort auf die Titelfrage geben. Die Frage, ob Stirner ein "anarchistischer Pädagoge" war, konnte auch schon deshalb nur rhetorisch gestellt werden, weil ja keineswegs geklärt ist, welchen Kriterien ein solcher zu genügen hätte, und weil ich es nicht für sinnvoll hielt, eine Art Arbeitsdefinition vorab zu geben. Ein klares (aber wenig aussagekräftiges) Nein wäre allerdings möglich, wenn unter "anarchistischer Erziehung" das zu verstehen wäre, was in einer kürzlich erschienenen Fachenzyklopädie unter diesem Stichwort zu lesen ist, z.B.: "So wie der Anarchismus als politische Theorie keiner Lebensform den Vorrang gibt, sondem den Modus ausfindig zu machen versucht, unter dem alle von Menschen gewünschten Lebensformen nebeneinander bestehen können, so muss die anarchistische Vorstellung von Erziehung allen Methoden und Zielen das Recht auf Existenz einräumen, solange ihre Basis die absolute Freiwilligkeit der Beteiligten ist". (32)

Ein derartig abstrakter und apsychologischer Ultraliberalismus, der Konsequenz zu demonstrieren meint, wenn er den Neugeborenen "gleiche Rechte" gewährt, macht sich die Sache offenbar allzu leicht -- ebenso übrigens der sich psychologisch gebende antipädagogische. Die Konzeption einer konsistenten "anarchistischem Pädagogik" bedarf -- angesichts der so oder so "archistischen" Verfassung aller bekannt gewordenen menschlichen Gesellschaften -- gewiss einer grösseren Anstrengung; und Stirners noch zu präparierende "Anthropologie" ist meines Erachtens, entgegen den ablehnenden Urteilen von Anarchisten und Pädagogen, diejenige, die als Basis bzw. Rahmen für sie am geeignetsten ist.


Anmerkungen:

(1) Vgl. John Henry Mackay: Max Stirner. (1898). Berlin: Schuster & Loeffler, 3. Aufl. 1914 (Repr. 1977)

(2) Max Stirner: Parerga, Kritiken, Repliken, hg.v. Bernd A. Laska. Nürnberg: LSR-Verlag 1986, S.91

(3) Ebd., S. 90

(4) Ebd., S. 97

(5) Ebd., S. 94

(6) Ebd., S. 75

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(7) Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, hg.v. Ahlrich Meyer. Stuttgart: Reclam 1972, S. 15

(8) Ebd., S. 69ff

(9) Ebd., S.179

(10) Max Nettlau: Vorfrühling der Anarchie. Berlin: Verlag "Der Syndikalist" Fritz Kater 1925, S. 169-179

(11) Mehr dazu in einer z.Zt. entstehenden Studie d. Verf. (Anm. 1998: vgl. die Artikel im »Lexikon der Anarchie«, hg. v. Hans Jürgen Degen. Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten 1993ff: Stirner, Max und Anarchismus, individualistischer.)

(12) Zit. n. Ernst Barnikol: Das entdeckte Christentum im Vormärz. Jena: Eugen Diederichs 1927, S. 75

(13) Robert Schellwien: Der Wille und Max Stirner. In: Pädagogische Studien, Neue Folge, 20 (1899), S. 89-99, 109-113

(14) Die Schrift erschien ausserdem in verschiedenen Übersetzungen, meist ebenfalls mit Einleitungen versehen, die für die vorliegende Fragestellung von geringer Bedeutung sind.

(15) In: Die Schulreform (Bern), 17(1923/24), S. 3-10, 34-41, 97-104, 129-135, 297-306

(16) Bogdan Suchodolski: U podstaw materialistycznej teorii wychowania. Warszawa: Panstwowe Wydawnictwo Naukowe 1957. Dt. Übers.: Grundlagen der marxistischen Erziehungstheorie. Berlin/DDR: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1961 (2. Aufl. Köln: Pahl-Rugenstein1972)

(17) Ebd., S. 457

(18) Ebd., S. 471

(19) Ebd., S. 435

(20) Paul Röhrig: Politische Bildung -- Herkunft und Aufgabe. (Diss. Mainz 1961). Stuttgart 1964, S. 106-111

(21) Paul Röhrig: Max Stirners Gedanken über Erziehung. In: Klaus Schaller & Karl-Heinz Schäfer (Hg.): Bildungsmodelle und Geschichtlichkeit. Hamburg: Leibniz-Verlag 1967, S. 155-166

(22) Ebd., S. 165

(23) Theodor Ballauff & Klaus Schaller: Pädagogik -- Eine Geschichte der Bildung und Erziehung. Band III. Freiburg/München 1973, S. 564-571

(24) Wolfgang Brezinka: Die Pädagogik der Neuen Linken. 2. Aufl. München: Ernst Reinhardt1974 (in 1. Aufl. nicht enth.). Zit. n. 5. Aufl. 1980, S. 6,7,79-81

(25) Georg Adler: Stirners anarchistische Sozialtheorie. In: Festgaben für Wilhelm Lexis zur siebzigsten Wiederkehr seines Geburtstages. Jena: Gustav Fischer 1907, S. 3-46 (31,8,12)

(26) Siehe: Schwarzer Faden, Nr.14 (1984), S.31-35, sowie Heft 1 (1986) dieser Zeitschrift [Anarchismus und Bildung], S. 25-35 (34). -- Vgl. aber Braunmühls Nachwort zur Neuausgabe seiner »Antipädagogik« (1988).

(27) Thomas Lehmann und Jürgen Oelkers: Liberalismus, Ideologiekritik und Antipädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik, 27 (1981), S. 105-125 (110);
vgl.a.: dies.: Antipädagogik -- Herausforderung und Kritik (Braunschweig: Agentur Pedersen 1983)
sowie folgende Arbeiten von Oelkers, in denen Stirner zwar nur kurz, aber mit inhaltlicher Gewichtigkeit erwähnt wird:
Entfaltung oder Zucht? In: Kindlers Enzyklopädie »Der Mensch«, Band 9. Zürich: Kindler 1984, S. 391-409 (396)

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Weltverbesserung als pädagogische Utopie, ebd., S. 422-440 (431);
Die Herausforderung der Wirklichkeit durch das Subjekt. Weinheim: Beltz l985, S. 55.

(28) Michael Winkler: Stichworte zur Antipädagogik. Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 116

(29) Rainer Winkel: Pippi Langstrumpf als Vorbild. In: Die Zeit, 28.10.1983, S. 41

(30) David Holbrook: Education, Nihilism, and Survival. London 1977, S. 99-111.
Holbrooks Gewährsmann für Stirner ist Ronald W.K. Paterson, dessen Buch »The Nihilistic Egoist Max Stirner« (London 1971) auch die wesentlichen Thesen seiner Dissertation »Max Stirner's Philosophy of Education« (St. Andrews Univ., GB, 1961) umfasst.

(31) Joel Spring: A Primer of Libertarian Education. Montreal: Black Rose Books 1975. Dt. Übers.: Erziehung als Befreiung. Anzhausen: Winddruck-Verlag 1982. -- Michael P. Smith: The Libertarians and Education. London 1983

(32) Stefan Blankertz: Erziehung, anarchistische. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Band 3. Stuttgart 1986, S. 416-418

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