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  Der folgende Artikel erschien im Original im Oktober 2012 in:
Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie.
19. Jg. 2012, Band 4/2012, S. 174-185
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Bernd A. Laska

1750 - Rousseau verdrängt La Mettrie

Eine ideengeschichtliche Weichenstellung


Zusammenfassung:

In dieser ideengeschichtlichen Studie werde ich zeigen, dass Jean-Jacques Rousseaus berühmte illumination (Erleuchtung) vom Oktober 1749 - die Geburt des Philosophen Rousseau - weder einem unerklärlichen Zufall zuzuschreiben ist noch eine von Rousseau nachträglich erfundene Phantasie war, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach von einem kurz zuvor erschienenen Buch ausgelöst wurde, dem Discours sur le bonheur ou Anti-Sénèque (Diskurs über das Glück oder Anti-Seneca) von Julien Offray de La Mettrie. Die Aufklärungsphilosophen um Diderot reagierten auf dieses Buch ihres bisherigen Vordenkers (1) mit dessen sofortiger Verfemung in Form einer damnatio memoriae. Auch ihr Mitstreiter Rousseau vermied es zeitlebens konsequent, La Mettries Namen oder eine seiner Schriften zu erwähnen. Aber während Diderot et al. die neuen Ideen La Mettries einfach entrüstet abwiesen und damit für sich als erledigt ansahen, war der hypersensible Rousseau von ihnen tief erschüttert. Dies zeigen einige seiner Schriften, in denen er sie entschärft präsentierte und, im Gegensatz zu La Mettrie, ein aufnahme- und streitfreudiges Publikum fand. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass Rousseau die ihn verstörenden Ideen La Mettries im Zuge seines Erleuchtungserlebnisses im psychologischen Sinne verdrängt hat. Im ideengeschichtlichen Sinne verdrängt hat er sie durch seine erfolgreichen Werke zweifelsohne.

Wenn man sich vergegenwärtigt, welchen enormen Einfluss Rousseaus Schriften direkt und indirekt auf die politische, ideologische, philosophische etc. Geschichte Europas und das Projekt der Aufklärung hatte, kann "1750" als das Signum einer schicksalhaften Weichenstellung verstanden werden, deren Bewusstwerdung eine Diskussion über die Pyrrhussiege und den erreichten Status der "Aufklärung" (ein aktuelles Schlaglicht dazu: der Kampf - auf verlorenem Posten - gegen die rituelle Genitalverstümmelung von Knaben bei unseren Juden und Moslems) auf den Weg bringen kann.

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Die Beziehung der beiden Philosophen Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) und Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ist bisher kaum untersucht worden. Das ist umso erstaunlicher, als beide Autoren derselben Generation angehörten und in derselben Sprache oft zu denselben Themen schrieben. Es gibt bis dato nur eine (in Zahlen: 1) Untersuchung, die speziell La Mettrie und Rousseau gewidmet ist, einen 18-seitigen Artikel. (2)

Als Friedrich Albert Lange 1866 den über ein Jahrhundert lang verfemten La Mettrie, "einen der geschmähtesten Namen der Literaturgeschichte", in einem umfangreichen Kapitel seiner Geschichte des Materialismus zu rehabilitieren versuchte, erwähnte er, dass man La Mettrie gelegentlich vorgeworfen habe, sich "auch mit Rousseauschen Federn geschmückt zu haben", (3) und erinnerte daran, dass dies


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aus Gründen der Chronologie gar nicht möglich war. Obwohl Lange auch sonst die verkehrte ideengeschichtliche Chronologie (bei Hegel, Zeller, Fischer, Hettner, Schlosser) in Ordnung brachte - er legt dar, dass "in fast allen Fällen, wo wir eine auffallende Ähnlichkeit der Gedanken bei La Mettrie und einem berühmteren Zeitgenossen finden", (4) La Mettrie die Priorität gebührt - bemerkte er die auffälligste zeitliche Abfolge nicht: das Erscheinen von La Mettries Anti-Seneca und kurz darauf den Eintritt Rousseaus in die philosophische Welt. Das unterlief ihm, weil er La Mettries Ruf bessern zu können meinte, indem er dessen Moraltheorie, die vor allem im Anti-Seneca enthalten ist, bagatellisierte. Dies war auch der Grund, warum er die verdrehten Zeitabfolgen bei den Historikern nur als Fehler korrigierte und nicht als verschleiernde Klitterungen erkannte.

Der überwiegende Teil der nachfolgenden, ohnehin recht spärlichen Literatur zu La Mettrie ist in der Absicht der Verbesserung seines Rufs geschrieben. Jakob Elias Poritzky etwa veröffentlichte im Jahre 1900 die erste deutsche Monographie über La Mettrie, um zu zeigen, "dass La Mettrie die Verachtung, mit der die Mehrheit ihn bisher strafte, keineswegs verdiente." (5) Den Anti-Seneca bagatellisiert auch er, wenn er behauptet, die Morallehren von Holbach, Helvétius, Volney und anderen seien dessen Weiterführungen. (6) Rousseau erwähnt er mit keinem Wort. Poritzkys Buch über La Mettrie blieb für fast ein Jahrhundert das einzige und wurde noch 1971 unverändert nachgedruckt.

Erst in den 1980er Jahren intensivierte sich die La-Mettrie-Forschung: es erschienen eine vierbändige deutsche Werkausgabe La Mettries mit einigen Erstübersetzungen, darunter die des Anti-Seneca, (7) und eine Reihe von Monographien, als ausführlichste die 600-seitige von Ursula Pia Jauch. Auch Jauch bemüht sich um ein besseres Bild La Mettries und stellt viel Lobenswertes an ihm heraus. Er sei bereits gegen den "Speziesismus" des Menschen gewesen, gegen Tierversuche, gegen "Rassismus" und für den Frieden ("Pazifist avant la lettre"), für eine Humanisierung des Strafvollzugs und ein "Verteidiger der Urteilsunfähigen und Verehrer der Weiblichkeit". (8) Wie Jauch gerade das Werk, das La Mettrie - sowie, unausgesprochen, seine Gegner ebenfalls - als sein Hauptwerk ansah, den Anti-Seneca, systematisch zu depotenzieren versucht, habe ich andernorts beschrieben. (9) Rousseau ist bei ihr nur ganz am Rande erwähnt.

Giuseppe Roggerone war 1975 der erste Autor, der die Möglichkeit des Einflusses von La Mettrie auf Rousseau thematisierte. Er findet sowohl Übereinstimmungen wie Differenzen, vermutet gemeinsame Quellen beider, sieht aber auch einen Einfluss La Mettries auf Rousseau. Sein Fazit: "La Mettrie ist nicht Rousseau. Aber bei La Mettrie finden sich zweifellos wichtige Gedanken, die Rousseau direkt oder indirekt aufgenommen hat." (10) An dieser Feststellung eines Einflusses ist nichts Bemerkenswertes außer der Tatsache, dass sie zuvor noch nie getroffen worden ist - was Roggerone aber nicht hervorhebt.

Die eingangs erwähnte, erste und noch immer einzige Untersuchung der Beziehung zwischen Rousseau und La Mettrie stammt aus dem Jahre 1985 und wurde von Aram Vartanian durchgeführt, einem


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renommierten US-amerikanischen Erforscher der französischen Aufklärung und Spezialisten für La Mettrie. Sie trägt den Titel La Mettrie and Rousseau: The Problem of Guilt in the Eighteenth Century. (11) Kein Ideenhistoriker vor ihm hatte, wie Vartanian feststellt, in fast zweieinhalb Jahrhunderten die beiden Philosophen unter irgendeinem relevanten Aspekt in Zusammenhang gebracht. (12) Vartanian (1922-1997) selbst bemerkte diese Leerstelle erst gegen Ende seines Forscherlebens. Er unterließ es aber, diese beiden außergewöhnlichen rezeptionsgeschichtlichen Versäumnisse in seiner Studie zu reflektieren und deren mögliche Gründe zu ermitteln. Darin liegt eine Ursache für die Unzulänglichkeiten seiner sonst professionell durchgeführten Textanalyse. Eine weitere hängt direkt damit zusammen. Er sieht von dem jeweiligen Status ab, den beide Philosophen hatten: sowohl zu der Zeit, als Rousseau sich mit La Mettries Ideen konfrontiert sah, also 1749, als auch in der Zeit bis 1985. La Mettrie galt bereits seit 1748 als Narr, (13) war von den Aufklärern geächtet und blieb, auch nachdem er seit dem späten 19. Jahrhundert einige Fürsprecher hatte, stets eine marginale Figur der Ideengeschichte. Rousseau hingegen kam bereits durch sein erstes Auftreten als Philosoph 1750 zu Ruhm, war zwar stets umstritten, auch verfolgt, aber dann doch so außerordentlich geschätzt, dass er 1794 ins Pariser Panthéon kam - für La Mettrie gab es nicht einmal ein ordinäres Grab - und seither als Klassiker der Philosophie und einiger Humanwissenschaften gilt. Unter Nichtbeachtung dieses Rangunterschieds hebt Vartanian hervor, La Mettrie und Rousseau hätten eine bedeutsame Gemeinsamkeit, die sie vor ihren Kollegen auszeichnet: "das ernsthafte Bemühen, das Problem der Schuld philosophisch anzugehen." (14) Nachdem er mit philologischer Sorgfalt die Ansichten beider Denker zum Problem der Schuld verglichen und Übereinstimmungen und Gegensätze konstatiert hat, schließt er, wiederum deren Rangunterschied überspielend, mit dem Satz: "La Mettrie und Rousseau setzten eine Geistesströmung in Gang, dem später so unterschiedliche Denker wie Sade, Marx, Nietzsche und Freud, sowie die Existentialisten angehörten." Sie alle hätten nach dem Wegfall Gottes zur Lösung des nun säkularisierten Problems der "primären Schuld" beigetragen. (15) Vartanians Bemühen, La Mettrie beiläufig auf eine Rangstufe mit Rousseau zu heben, zeitigte - die inhaltliche Diskussion kann hier außer Acht bleiben - auch einige kuriose Fehlleistungen, die bei der sonstigen Akribie des Autors verwundern. So geht er davon aus, dass "zwischen 1750 und 1755 das Denken beider über dieses Thema [Problem der Schuld] auf parallelen Bahnen verlief", (16) ohne zu merken, dass La Mettrie das Thema Schuld bereits 1748 abgeschlossen hatte und 1751 gestorben war. Und: La Mettrie habe sich - in einer bestimmten Frage - Rousseau "angeschlossen", (17) was allenfalls umgekehrt möglich gewesen wäre. Und: beide seien schließlich in eine "ähnliche missliche Lage" geraten, als "moralische Parias" und "die beiden exemplarischen Immoralisten des 18. Jahrhunderts in Frankreich". (18) Vartanian scheint bei seinem Bemühen um Gleichstellung beider Denker völlig deren Disparität vergessen zu haben: La Mettrie war Paria, ja, aber Rousseau - trotz aller Querelen - eine vieldiskutierte und berühmte Figur, erst in Frankreich, bald auch darüber hinaus - für Kant war er schon 1764 der Newton der Moral. (19)


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Die besprochenen Schriften haben - wie allgemein die affirmative Literatur über La Mettrie - im wesentlichen den gleichen Tenor. La Mettrie wird als Pionier materialistischen Denkens gewürdigt. Seine ethischen Ansichten aus dem "Anti-Seneca" werden - in wohlmeinender Absicht - abgemildert (d.h. entschärft, verwässert) und manchmal sogar mit denen seiner Gegner Holbach oder Diderot harmonisiert. Man verzeiht ihm sozusagen seine Eskapaden, eingedenk seiner sonstigen Verdienste. Dass das Buch als einziges von den philosophes um Diderot auf einen virtuellen index librorum prohibitorum gesetzt wurde, erklärt man, ebenso wie das über ihn verhängte Namensverbot, mit rein taktischen Erwägungen im politischen Kampf der Aufklärer. Wenn Rousseau ins Blickfeld gerät, dann konzediert man gelegentlich, dass der eine oder andere seiner Gedanken von La Mettrie entlehnt gewesen sein könne. Nie aber kommt auch nur ansatzweise der Gedanke auf, dass Rousseau die Schriftstellerei, die bei ihm eruptiv aus einer Art Offenbarungserlebnis hervorging, zur Abwehr der Ideen aus La Mettries Anti-Seneca begann. Der moralische horror nihili, den La Mettries konsequentes Weiterdenken des Materialismus und Atheismus zum "Nihilismus" (20) gerade bei seinen aufklärerischen Zeitgenossen hervorrief, scheint auch heute noch bei seinen "post-aufklärerischen" Fürsprechern wirksam zu sein.

Als Nihilist wurde La Mettrie 1981 von Panajotis Kondylis in seiner Studie Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus bezeichnet, dies aber keineswegs polemisch in abwertendem Sinne gemeint, sondern anerkennend. Kondylis versteht unter Nihilismus Nicht-Normativismus, d.h. die "These von der völligen Relativität aller Werte..., die auf kein Sollen hinausläuft", (21) und verwendet ihn selbst als Schlüsselbegriff seiner großangelegten Analyse. Er bezeichnet La Mettrie als "Konsequenten" unter den Denkern der Aufklärung (22)und verfolgt damit einen weit produktiveren Ansatz zur Bestimmung von dessen philosophischer Position als die wohlmeinenden affirmativen Autoren seit Friedrich Albert Lange. Allerdings hat Kondylis durch die Typisierung zum Nihilisten La Mettrie als Theoretiker um eine für ihn spezifische Qualität gebracht. Dies kommt am augenfälligsten dadurch zum Ausdruck, dass er ihm den (negativen) Normativisten de Sade, an die Seite stellt und diesen gleichermaßen zum "Konsequenten" der französischen Aufklärung erklärt. (23) Das mag ein methodischer Kunstgriff sein, bleibt aber dennoch ein kategorialer Missgriff, der weder Sade noch La Mettrie gerecht wird; er hatte einen chronologischen Missgriff zur Folge: weil Kondylis meint, die von Sade "geforderte Rückkehr zur Natur bildet im Grunde nur eine Übernahme und Umkehrung des Rousseauismus", (24) soll auch für La Mettrie gelten: "Vernünftigkeit ist für ihn ... Rousseauismus mit umgekehrtem Vorzeichen!". (25) La Mettrie sozusagen als (negativer) Rousseauist avant la lettre! Von einer möglichen Reaktion Rousseaus auf La Mettrie ist auch bei Kondylis nirgendwo die Rede.

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Die Situation, in der sich La Mettrie und Rousseau um 1750 befanden, ist auch nach Vartanians Pionierarbeit von 1985 nicht näher betrachtet worden. Deshalb sind Vartanians Thesen, die er für den Anfang eines Strangs der Ideengeschichte hielt, bisher nicht diskutiert, nicht kritisiert


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worden. Vartanian - ebenso der hier hinzugezogene Kondylis - übersah an sich augenfällige Sachverhalte. Beide scheinen nicht einmal den zeitlichen Konnex, die dichte Aufeinanderfolge von La Mettries Tod als Philosoph und Rousseaus Geburt als Philosoph, gesehen zu haben: Grund genug, diese Situation genauer zu beleuchten. Ich möchte dies im Geiste einer neueren Entwicklung in der ideengeschichtlichen Forschung tun, die methodisch so vorgeht, dass das Forschungsinteresse nicht, wie in der traditionellen Schule, rein auf die Texte der kanonisierten Werke, oder, wie in der marxistisch inspirierten Richtung, vorwiegend auf den sozioökonomischen Kontext der Entstehung der literarischen Werke konzentriert wird, sondern auf die handelnden Personen, die eine Idee in einer bestimmten Situation und mit bestimmten Absichten verwenden. Akteure der Ideengeschichte sind nicht die Ideen, sondern ihre Träger. (26)

Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) und Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) waren Altersgenossen. Trotzdem bietet sich bei ihnen das Genre der Doppelbiographie nicht an, weil ihre Lebensläufe - als Philosophen - nicht parallel verliefen, sondern aufeinander folgten. La Mettrie hatte eine glänzende Karriere als Philosoph gemacht, als er 1749 für seine aufklärerischen Kollegen zur Unperson wurde. Rousseau, der bis dahin als Autor nicht hervorgetreten war, gewann 1750 einen akademischen Schreibwettbewerb, womit seine Karriere als bedeutendster Philosoph seiner Epoche begann.

Das Leben Rousseaus bis zum Jahre 1750 war zwar sehr ereignisreich, lässt sich aber für diese Untersuchung kurz zusammenfassen. Rousseau wurde 1712 in der unabhängigen Stadtrepublik Genf geboren. Er wuchs als Halbwaise auf, weil seine Mutter kurz nach seiner Geburt starb. Sein Vater, ein gebildeter Uhrmacher, förderte den Wissensdrang des Knaben, der sich schon früh autodidaktisch bildete. Mit zwölf Jahren begann er eine Lehre bei einem Gerichtsschreiber, brach ab, begann eine neue Lehre bei einem Graveur. Mit sechzehn Jahren verließ er die Stadt, um auf Wanderschaft zu gehen. Fortan führte er ein sehr unstetes Leben (seine "vagabondage"), arbeitete als Diener, Musiklehrer, Dolmetscher, Verwalter, Hauslehrer und Sekretär des französischen Gesandten in Venedig, konvertierte zum Katholizismus. 1745 ließ er sich in Paris nieder, versuchte sich auf verschiedenen Gebieten und verkehrte im Kreis der Autoren der sich formierenden Encyclopédie, für die er Artikel über musikalische Themen schrieb. In dieser Zeit begann seine Freundschaft mit Denis Diderot.

Das Leben La Mettries bis zum Jahre 1750 verlief in deutlichem Kontrast zu dem Rousseaus und soll hier, da seine gesamte denkerische Entwicklung in diese Zeit fällt, detaillierter dargestellt werden. La Mettrie wurde 1709 in Saint-Malo in der Bretagne geboren. Er studierte Medizin in Paris und Rennes, wo er 1736 promovierte. Nach einigen Jahren ärztlicher Praxis erweiterte er seine fachliche Ausbildung im niederländischen Leiden bei Herman Boerhaave, dem damals europaweit führenden Mediziner. Zur gleichen Zeit begann er seine schriftstellerische Tätigkeit mit kommentierten Übersetzungen der Werke seines Lehrers Boerhaave ins Französische. Daneben verfasste er kleinere medizinische Abhandlungen und eine Rei-


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he von polemischen Schriften, in denen er, meist satirisch, die Geschäftspraktiken der etablierten französischen Ärzteschaft aufs Korn nahm.

La Mettries philosophische Schriften entstanden in der kurzen Zeitspanne von 1745 bis zu seinem frühen Tod 1751. In ihnen entwickelte er seine philosophische Position in drei Etappen.

In der ersten Etappe vertrat er einen (monistischen) Materialismus, der seiner Histoire naturelle de l'Âme (Naturgeschichte der Seele, 1745) zugrunde liegt. Das Werk fiel unter die Zensur und wurde in Paris öffentlich verbrannt. Obwohl es anonym erschienen war, wurde die Situation für den Autor so gefährlich, dass er aus Frankreich floh. Er ging in das ihm bereits vertraute Holland, wo aufgrund staatlicher Toleranz die verbotenen Bücher für ganz Europa gedruckt wurden.

In Leiden schrieb La Mettrie das Buch, das bis heute meist für sein Hauptwerk gehalten wird: L'homme machine (Der Mensch als Maschine, 1747). Darin stellte er den menschlichen Organismus als ein sich selbstorganisierendes System dar und vertrat erstmals, als Signum seiner zweiten Etappe, unzweideutig den Atheismus, u.a., indem er "einen Franzosen" verkünden lässt, "dass die Welt niemals glücklich sein wird, wenn sie nicht atheistisch ist." (27) Diese Position wurde selbst in Holland nicht mehr toleriert. Man fahndete nach dem anonymen Autor und hatte bald La Mettrie im Visier. Vor dem Zugriff der Staatsmacht bewahrte ihn Preußens König Friedrich II, der den Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Pierre-Louis Moreau de Maupertuis, beauftragte, La Mettrie Asyl anzubieten. La Mettrie konnte seinen Verfolgern gerade noch entkommen und traf im Februar 1748 in Potsdam ein. Er wurde Gesellschafter und Vorleser Friedrichs II und, aufgrund seiner bisherigen Leistungen, Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Der König war zunächst sehr zufrieden mit der Erweiterung seiner Tafelrunde und schrieb am 18. Oktober 1748 an den in Frankreich weilenden Maupertuis: "Ich freue mich, den La Mettrie für meinen Hof angeworben zu haben. Er hat all den Frohsinn und all den Geist, den man überhaupt nur haben kann." Unter seinem Schutz solle La Mettrie ohne Zensur schreiben und publizieren können. (28)

Tatsächlich stand La Mettrie zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten unter einem bedingten Schreibverbot, wie Maupertuis an Albrecht von Haller, einen intimen Gegner La Mettries, (29) berichtete: "Kurze Zeit darauf [nach La Mettries Ankunft] hatte ich den Verdruss zu sehen, wie die Ausgelassenheit seiner Feder von Tag zu Tag zunahm. [ ... ] Er hatte mir versprechen müssen, sich bloss an Übersetzungen zu begnügen, weil ich dadurch ... seine gefährliche Einbildungskraft einzuschränken glaubte." (3) La Mettrie fügte sich, aber nur pro forma. Als Maupertuis Anfang Oktober 1748 für einige Monate verreiste, fertigte La Mettrie eilends eine Übersetzung von Senecas De vita beata (Vom glücklichen Leben) an, nur um ihr, was ihm nicht ausdrücklich verboten worden war, als begleitenden Text einen "Beitrag des Übersetzers zum gleichen Thema" voranzustellen. Es gelang ihm, das Buch noch im Dezember 1748 erscheinen zu lassen.


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Dieser Text, der später separat als Anti-Sénèque ou Le souverain bien (Anti-Seneca oder Das höchste Gut) gedruckt wurde, steht für die dritte Etappe in La Mettries philosophischer Entwicklung: "In meiner kleinen Schrift Der Mensch als Maschine'... habe ich noch nicht gewagt, gegen alle Vorurteile auf einmal anzutreten." (31) La Mettrie betrachtete den Anti-Seneca als sein Hauptwerk und dessen Kerngehalt, seine théorie des remords als die einzige Theorie, für die er Priorität beansprucht. (32) "Remords" wird normalerweise mit "Gewissensbisse" übersetzt, auch mit "Schuld", "Schuldgefühl" oder "Reue". Genau besehen meint und be- bzw. umschreibt La Mettrie mit den damals zur Verfügung stehenden Begriffen in Grundzügen jene psychische Instanz, die später Freud prägnant als "Über-Ich" bezeichnen wird. La Mettrie setzte der Aufklärung das praktische Ziel, "die menschliche Gattung von den remords zu befreien". (33) Er war sich freilich bewusst, dass "von der theoretischen Vernichtung des [Über-Ichs] bis zu seiner praktischen Ausrottung" ein sehr weiter Weg ist, (34) dessen erster Schritt sein Beitrag zur Erzeugung eines Problembewusstseins war.

La Mettries Versuch, "tiefer in jene Bereiche ein[zu]dringen, die viele Philosophen vor mir kaum je gestreift haben", (35) und so die Aufklärung nicht bei den zuvor von ihm vertretenen Positionen des Materialismus und des Atheismus theoretisch enden zu lassen, wurde von vornherein allgemein abgewiesen, von den Theologen ohnehin, von den mit ihnen um die bessere Sittenlehre wetteifernden Aufklärern oft noch energischer. Wie für Maupertuis im zitierten Brief war der Anti-Seneca für die meisten, die über ihn urteilten, schlicht "abscheulich" und dazu "gefährlich". Beides verstand sich von selbst und bedurfte keiner näheren Begründung. Sogar La Mettries Beschützer, der König, war so wütend über das Buch, dass er eigenhändig zehn Exemplare ins Feuer warf. (36)

La Mettries Situation am Hofe Friedrichs II war also seit Ende 1748 äußerst prekär. Hatten der König und die Freigeister seiner berühmten Tafelrunde von Sanssouci La Mettries atheistischen L'homme machine teils geschätzt, teils akzeptiert oder zumindest toleriert, so galt dies für den Anti-Seneca nicht mehr. Dass die Rolle des Hofnarren, in die La Mettrie, dem kein weiteres Asyl mehr offen stand, sich zu retten suchte, ihm keinen dauerhaften Schutz bot, musste ihm klar gewesen sein. Neben der Veröffentlichung einiger kleinerer Schriften - und seiner Œuvres philosophiques, in die ausgerechnet sein Hauptwerk nicht aufgenommen werden durfte - gelang es ihm noch, im August 1751 eine separate und erweiterte Version seines Anti-Seneca zum Druck zu bringen. Darin spricht er offen von seiner Befürchtung, dass "eines Tages der Schierlingsbecher der Lohn meines philosophischen Mutes sein würde." (37) In einer kleinen Schrift, die zur gleichen Zeit erschien, äussert er sich ähnlich. (38) Drei Monate später, am 11. November 1751, starb er. Die Todesursache wurde nie wirklich geklärt. Kolportiert wurde indes gern, der "Hedonist" sei Opfer seiner Fresslust geworden ("Pastetentod").

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Zurück zu Rousseau im Jahre 1749. Er gehörte damals zum Kreis der Enzyklopädisten und war seit vier Jahren ein enger Freund Diderots. Diderot und La Mettrie waren sich persönlich nie begegnet,


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kannten sich aber gut aus ihren Schriften. Diderots (anonyme) Schrift Pensées philosophiques (Philosophische Gedanken, 1746) wurde, obwohl in deistischem Geist geschrieben, von der Zensur La Mettrie zugeschrieben und zusammen mit dessen (anonymer) Histoire naturelle de l'Âme verbrannt. La Mettrie musste aus Frankreich fliehen, Diderot konnte bleiben. Drei Jahre später wurde Diderot aufgrund materialistisch-atheistischer Tendenzen seines (anonymen) Lettre sur les aveugles à l'usage de ceux qui voient (Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden, 1749) verhaftet und im Gefängnis der Festung Vincennes bei Paris festgesetzt. Nach drei Monaten Haft wurde er entlassen, weil er um Gnade gebeten, seine "Fehler" bereut und sich verpflichtet hatte, sie in Zukunft nicht zu wiederholen - woran er sich auch lebenslang hielt.

Diderot und einige seiner Freunde übernahmen - unter den repressiven Bedingungen nur privatim - die Positionen des Materialismus und Atheismus, die La Mettrie im L'homme machine vertreten hatte. Da es keine Belege für interne Diskussionen darüber gibt, geschah dies wohl stillschweigend. Es kann aber als sicher gelten, dass Diderot, Rousseau und einige andere Mitstreiter den weiteren Weg ihres exilierten Vordenkers La Mettrie genau verfolgten. Gerade das Fehlen jeglicher Belege deutet darauf hin, dass man auf seinen Anti-Seneca bei den Pariser philosophes ebenso konsterniert reagierte wie bei den Potsdamer Freigeistern am Hofe Friedrichs II. "Wo hat jemals ein Philosoph", rief ein Kritiker aus, "jemals so gedacht! Und wo ist der Freigeist, der dergleichen Sätze nicht verabscheuen sollte? Denn die Freigeister, wenn sie schon die Glaubenslehren verwerfen, so tasten sie doch die Sittenlehren nicht an. Dieser [La Mettrie] aber thut beydes." (39)

Wie die deutschen Freigeister, so haben auch die französischen La Mettrie zum Narren erklärt, was eine einzige Stelle, eine Fussnote zum Système de la Nature (System der Natur, 1770), dem Hauptwerk des französischen Materialismus, verrät. Der Autor Holbach - oder Diderot, der das anonyme Werk redigierte - sagt dort, ohne den Namen und den Titel des in Wahrheit gemeinten Buches (Anti-Seneca) zu nennen, der "Autor des L'homme machine" habe "über die Sitten wahrhaftig wie ein Wahnsinniger geurteilt". (40)

Der einzige Bruch des Namentabus aus den Kreisen der philosophes resp. encyclopédistes stammt von dem fast 70-jährigen Diderot. Er war, wie er angibt, dadurch provoziert, dass "die Feinde der Philosophie" den "Verfasser des Anti-Seneca ... immer wieder unter jenen weisen und aufgeklärten Menschen nennen, deren Leben in der Suche nach der Wahrheit und in der Ausübung der Tugend aufgeht." Diderot entschloss sich deshalb, La Mettrie, "einen in seinen Sitten und Anschauungen so verdorbenen Menschen", dreißig Jahre nach seinem Tod sozusagen offiziell aus der Gemeinschaft der Philosophen auszuschließen. Er sei "ein Narr und ein Schmeichler [gewesen], wie geschaffen für das Hofleben und die Gunst der Großen, [sei] gestorben, wie er sterben musste: als Opfer seiner Unmäßigkeit und Torheit." (41) Die sich über zwei Buchseiten erstreckende Suada Diderots ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: sie ist die einzige Stellungnahme zu La Mettrie aus den Reihen der philosophes; und sie


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ist Dokument einer mit Vehemenz sogar bis ins gedruckte Wort durchbrechenden Wut auf ein Buch, das mehr als dreißig Jahre zuvor erschienen war. Aus tiefenpsychologischer Sicht kann man hier wohl mit Fug und Recht von einer "Wiederkehr des Verdrängten" sprechen. Der Ausbruch des greisen Diderot ist der einzige Zugang zur Einschätzung der Situation, in der er sich befunden haben wird, als er 1749 La Mettries Anti-Seneca las und dort mit einer Idee konfrontiert war, die er offenbar nicht auf rationale Art verarbeiten konnte, die er verdrängen musste. Dies wurde ihm dadurch erleichtert, dass er sich in einem intellektuellen Milieu bewegte, dessen Akteure in dieser Hinsicht die gleiche Tendenz hatten. Die damnatio memoriae La Mettries gründete auf keiner Diskussion und bedurfte keines Beschlusses. In diesen Prozess eingebunden war mit Sicherheit auch Diderots damals enger Freund Jean-Jacques Rousseau.

Die klandestine Produktion und Distribution von Schriften, die durch Zensur bedroht waren, funktionierte zu jener Zeit mit bewährter Routine. Deshalb ist anzunehmen, dass der Anti-Seneca schon im ersten Halbjahr 1749 auch in Paris kursierte. Auf jeden Fall konnte man ausgiebige Zitate daraus in einer 18-seitigen Rezension lesen, die in der zweiten Quartalsausgabe 1749 der Bibliothèque raisonnée erschien, einer Zeitschrift, die außerhalb Frankreichs, in Amsterdam, in französischer Sprache erschien. Es ist also anzunehmen, dass Diderot, Rousseau et al. Mitte 1749 über La Mettries Anti-Seneca Bescheid wussten, entweder das Buch besaßen oder zumindest dessen Hauptgedanken aus der Rezension kannten.

Im Oktober des gleichen Jahres erschien im Pariser Mercure de France die Ausschreibung der Akademie von Dijon für einen Autorenwettbewerb zur Frage Si la rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer le mœurs, also über das Thema, ob das seit der Renaissance zu verzeichnende Wiederaufleben der Wissenschaften und der Künste - einschließlich der mechanischen, also der Technik - zur Läuterung, Verbesserung, Veredelung der Sitten beigetragen habe. Rousseau fühlte sich angesprochen und wollte einen Beitrag einreichen. Er beriet sich mit Diderot, der zu jener Zeit in der Festung Vincennes inhaftiert war, aber Besuche empfangen durfte. Diderot bestärkte ihn in der Absicht, die Frage auf unerwartete Weise zu behandeln und eine Verbesserung zu leugnen. Er gewann den Wettbewerb gegen ein Dutzend Konkurrenten, die die Frage bejaht hatten. Rousseaus Discours sur les sciences et les arts (Diskurs über die Wissenschaften und die Künste) erschien Mitte 1750 im Druck und machte ihn mit einem Schlag landesweit berühmt. Dies war der Beginn seiner Karriere als der wirkungsmächtigste Philosoph seiner Epoche.

Die Frage, welches Ereignis bei Rousseau, der bis dahin sich eher als Musiker verstanden und keine philosophischen Ambitionen gezeigt hatte, diese biographische Zäsur bewirkt hatte, wurde gelegentlich aufgeworfen, konnte aber nicht beantwortet werden. Sein Zeitgenosse, der Philosoph Claude Helvétius sagte: "Das ist sein Geheimnis; ich weiß es nicht"; worauf Diderot erwiderte: "Nun, ich weiß es und will es verraten." Aber Diderot wusste es auch nicht und schilderte nur kurz Rousseaus Besuch bei ihm in Vincennes. (42)


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Rousseau entwickelte bald eine starke Neigung zu autobiographischen Darstellungen, deren wichtigste allerdings, weil erst postum veröffentlicht, den Zeitgenossen erst spät bekannt wurden. Dazu gehören seine vier Briefe an Malesherbes - den obersten Zensor in Paris, der jedoch beispielsweise dem Projekt der Encyclopédie wohlwollend gegenüberstand - vom Januar 1762, in denen er "das wahre Gemälde meines Charakters und die wahren Beweggründe meiner ganzen Aufführung" darstellen wollte. Im zweiten Brief, vom 12. Januar 1762, enthüllt Rousseau erstmals, dass er 1749 eine illumination, eine Erleuchtung hatte, die ihn zu einem spätberufenen Philosophen erweckte. Er schildert das zwölf Jahre zurückliegende Erlebnis in dem für ihn typischen Stil: "Auf einmal fühle ich, dass mein Geist von tausend Lichtern geblendet wird, ganze Massen lebhafter Gedanken stellen sich ihm mit einer Gewalt und in einer Unordnung dar, die mich in eine unaussprechliche Verwirrung versetzt; meinen Kopf ergreift ein Schwindel, welcher der Trunkenheit gleicht. Ein heftiges Herzklopfen beklemmt mich [ ... ] Ach, mein Herr, wenn ich jemals den vierten Teil alles dessen, was ich [damals] gesehen und empfunden habe, hätte niederschreiben können, mit welcher Deutlichkeit hätte ich alle Widersprüche des gesellschaftlichen Systems gezeigt, mit welcher Kraft hätte ich alle Missbräuche unserer Einrichtungen dargestellt, mit welcher Einfachheit hätte ich gezeigt, dass der Mensch von Natur gut ist, und dass es lediglich von ihren Einrichtungen herrührt, wenn die Menschen böse werden..." (43)

Rousseau erzählt diese Geschichte noch mehrmals in späteren Schriften in abgeblasster Form und verbindet sie stets mit seinem Fußmarsch zu Diderot von Paris nach Vincennes im Oktober 1749. Während des Gehens habe er den aktuellen Mercure de France gelesen, und als er "zufällig" die Annonce der Preisfrage sah, habe er das Erleuchtungserlebnis gehabt, das seinem bis dahin eher ziellosen Leben eine klare Perspektive gezeigt habe. Diese Geschichte der "Erleuchtung von Vincennes" wird - ungeachtet dessen, dass Diderot während des Besuches nichts von Rousseaus angeblich existentieller Erschütterung bemerkt hat - in den meisten biographischen Schriften über Rousseau für bare Münze genommen und, manchmal mit einem Anflug von Ehrfurcht, getreu nacherzählt. Einige Autoren haben dem Ereignis separate Arbeiten gewidmet, wissen aber nichts von La Mettrie und dessen Anti-Seneca. (44)

Dabei ist kaum nachvollziehbar, dass eine nüchterne kleingedruckte Anzeige in einem in Frankreich lizensierten Literaturblatt bei einem Mann, der seit fünf Jahren mit Diderot eng befreundet war, eine derartige Reaktion hervorrufen konnte. Dass eine derart gravierende Umorientierung im Leben eines Mannes, wie sie 1750 bei Rousseau stattfand, Folge eines außerordentlichen und intensiven Erlebnisses, einer "Erleuchtung" war, ist allerdings glaubhaft und überzeugend. Gleichwohl wurde nach einer plausiblen Ursache für dieses Erlebnis nicht gesucht, seine mehr oder weniger geglaubte quasi divinatorische Abkunft nicht skeptisch befragt, eher ein solches Erlebnis selbst in Abrede gestellt. Wer allerdings die Geschichte der Reaktionen auf La Mettries Anti-Seneca und seine "Theorie des Über-Ichs" kennt, von 1748 bis heute, der wird als nächstliegenden und plausibelsten Grund für Rousseaus illumination seine


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Konfrontation mit diesem Text im ersten Halbjahr 1749 annehmen. La Mettries glänzende Karriere als Wissenschaftler, Philosoph und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften war Rousseau durch den Umgang mit Diderot gewiss bestens bekannt. La Mettrie muss ihm, nach dem L'homme machine und dem Schock des Anti-Seneca, geradezu als Inbegriff jener These erschienen sein, die er dann in seiner Preisschrift von 1750 vertrat: dass der Fortschritt der Wissenschaft nicht mit sittlicher Veredelung einhergeht, vielmehr das Gegenteil der Fall ist.

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Der vorstehende Beitrag knüpft an meinen Artikel La Mettrie - ein gewollt unbekannter Bekannter an und soll einen dort genannten Mangel der bisherigen Rousseau- und La-Mettrie-Literatur erläutern, erklären und beheben. (45) Dieser Artikel ist zugleich als Rahmen des vorstehenden zu lesen, weil ich dort schon La Mettrie als radikaleren Denker als Rousseau und Rousseau als "effektivsten Verdränger" La Mettries herausgestellt habe, und weil durch ihn verständlich wird, warum ich hier eingangs von "1750" als dem "Signum einer schicksalhaften Weichenstellung" für den Verlauf der Geschichte der Aufklärung gesprochen habe.


Anmerkungen:

(1) La Mettrie vertrat 1747 in seinem L'homme machine (Der Mensch als Maschine) bereits eine materialistische und atheistische Position, die Diderot und andere Denker der französischen Aufklärung erst Jahre bis Jahrzehnte später vertreten haben (Système de la Nature, 1770).

(2) Diese so überraschende wie bedeutsame Feststellung traf Aram Vartanian 1985 zu Beginn seines Artikels.
Vartanian, Aram: La Mettrie and Rousseau: The Problem of Guilt in the Eighteenth Century. In: British Journal for Eighteenth-Century Studies, 8(1985), pp. 155-172.
Sie wird durch die grossen Rousseau-Bibliographien, die Tausende von Titeln dokumentieren, bestätigt:
Schinz, Albert: État présent des travaux sur J.-J. Rousseau, Paris, New York 1941, 411 pp.;
Roggerone, Giuseppe A.; Vergine, Pia I.: Bibliografia degli studi su Rousseau (1941 - 1990), Milella, Lecce 1992, 1385 pp.;
Trousson, Raymond: http://tecfa.unige.ch/proj/rousseau/bibliographielong.htm;
http://rousseaustudies.free.fr/ - Bibliographie mondiale de Rousseau, par Tanguy L'Aminot
Diese Feststellung war noch vor wenigen Jahren zutreffend, wie mir Tanguy L'Aminot, Leiter der Equipe Rousseau im C.N.R.S., als Autor, Herausgeber und Organisator vielfältig in der Rousseau-Forschung tätig, auf Anfrage bestätigte.

(3) Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus (1866), Suhrkamp, Frankfurt/M 1974, Band I, pp. 344-376, hier 360

(4) Lange, op.cit., p. 345

(5) Poritzky, Jakob Elias: Julien Offray de La Mettrie. Sein Leben und seine Werke. Dümmler, Berlin 1900; unveränderter Nachdruck: Slatkine Reprints, Génève 1971, p. V

(6) Poritzky, op.cit., pp. 251, 259

(7) La Mettrie, Julien Offray de: Der Mensch als Maschine, LSR-Verlag, Nürnberg 1985;
idem: Über das Glück oder Das höchste Gut ("Anti-Seneca"), LSR-Verlag, Nürnberg 1985;
idem: Philosophie und Politik, LSR-Verlag, Nürnberg 1987;
idem: Die Kunst, Wollust zu empfinden, LSR-Verlag, Nürnberg 1987
Internet: http://www.lsr-projekt.de/lm.html (dort Verweise zu den Texten der Einleitungen - zu Band 1; Band 2; Band 3; Band 4)

(8) Jauch, Ursula Pia: Jenseits der Maschine, Hanser-Verlag, München 1998, pp. 397; 266-276; 538; 392; 395; 402

(9) Laska, Bernd A.: La Mettrie - ein gewollt unbekannter Bekannter. In: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie. Sonderband 14 (Januar 2008): Glück und Lebenskunst. Hg. v. Robert Zimmer. pp. 64-84, hier p. 76; im Internet: http://www.lsr-projekt.de/lm-un-bekannt.pdf

(10) Roggerone, Giuseppe A.: Controilluminismo. Saggio su La Mettrie ed Helvétius. Milella, Lecce 1975, 2 voll.; in vol. 1, cap. II, paragr. 7; referiert nach der Zusammenfassung des Autors in: Roggerone, Giuseppe A.; Vergine, Pia I.: Bibliografia degli studi su Rousseau (1941 - 1990), Milella, Lecce 1992, 1385 pp., hier p. 252


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(11) op.cit. (n. 2) Vartanian hat u.a. eine kritische Edition von La Mettries L'homme machine (Princeton University Press, Princeton, New Jersey 1960) und zahlreiche Fachartikel über La Mettrie verfasst.

(12) Vartanian, op.cit., p. 156

(13) Für Frankreich sorgte Voltaire für das Bild von La Mettrie als Narr, indem er in seinen Briefen aus Potsdam von diesem "fou" berichtete, der oft betrunken war, wenn er schrieb. Für den deutschen Sprachraum gab es ein populäres Epigramm Abraham Gotthelf Kästners: "Ein gutes Herz, verwirrte Phantasie; das heißt auf deutsch: ein Narr war La Mettrie." (zit. n. Ursula Pia Jauch, op.cit., S. 505) Verunglimpfungen La Mettries wie Narr, Geck, Affe Demokrits u.ä. kann man bei Herder, Gellert, Schiller u.a. lesen.

(14) Vartanian, op. cit., p. 156

(15) ibid., p. 171

(16) ibid., p. 156

(17) ibid., p. 164

(18) ibid., p. 169

(19) vgl. Kant, Immanuel: Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), Gesammelte Werke, AA XX, S. 058f ( http://www.korpora.org/kant/aa20/058.html)

(20) Das Wort Nihilismus kommt weder bei La Mettrie noch bei seinen zeitgenössischen Gegnern vor und fungiert hier nur als eine Art Platzhalter. Ich habe es in Anführung gesetzt, weil der Begriff die Position La Mettries nicht deckt (siehe dazu nächsten Absatz über die Studie von Kondylis).

(21) Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Klett-Cotta, Stuttgart 1981, p. 54

(22) Kondylis, op.cit., pp. 503-518

(23) Ich habe diese erzwungene Typisierung zweier im Grunde gegensätzlicher Denker gleichermaßen zu "Nihilisten" an anderer Stelle kritisiert: Laska, Bernd A.: Panajotis Kondylis - unfreiwilliger Pate des LSR-Projekts (1998), abrufbar im Internet: http://www.lsr-projekt.de/kondylis.html

(24) Kondylis, op.cit., p. 518

(25) ibid., p. 503

(26) vgl. den Sammelband Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, hg. v. Martin Mulsow und Andreas Mahler, Suhrkamp, Berlin 2010 (stw 1925)

(27) La Mettrie, Der Mensch..., op.cit., p. 66

(28) Brief Friedrich II an Maupertuis vom 18. Oktober 1748

(29) Zur querelle La Mettries mit Haller vgl. Bergmann, Ernst: Die Satiren des Herrn Maschine, Ernst Wiegandt, Leipzig 1913; siehe auch die Einleitung zu La Mettrie, Der Mensch..., op.cit., pp. xxxvii-xl

(30) Brief Maupertuis an Haller vom 25. November 1751, zit. n. La Mettrie, Die Kunst..., op.cit., pp. 117-121 (hier: 119)

(31) La Mettrie, Anti-Seneca, op.cit., p. 63

(32) ibid., p. 11

(33) ibid., p. 117

(34) ibid., p. 14

(35) ibid., p. 14

(36) Brief Lessings an seinen Vater vom 2. November 1750. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Band 11/1. Deutscher Klassiker-Verlag, Frankfurt/M. 1987, p. 32.

(37) La Mettrie, Anti-Seneca, op.cit., p. 93

(38) La Mettrie, Die Kunst..., op.cit., pp. 90f

(39) Stühner, Carl Gottfried: Abhandlung von der wahren Glückseligkeit..., Verlegts Carl Ludwig Jacobi, Leipzig 1752, p. 26

(40) anonym: Système de la nature (1770); zit. n. der Ausgabe: d'Holbach, Paul Thiry: System der Natur, Suhrkamp, Frankfurt/M 1978, p. 662

(41) zit. n. Diderot, Denis: Philosophische Schriften II, Verlag das europäische Buch, Westberlin 1984, pp. 428-430 ("Seneca-Essay", 2. Buch, Abschn. VI)

(42) idem, p. 16 ("Widerlegung Helvétius", 1. Band, 1. Abschnitt, Kap. viii)

(43) Rousseau, Jean-Jacques: Zweiter Brief an Malesherbes, vom 12. Januar 1762; zit. n.: idem: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Hanser, München 1978, Band 1, pp. 481-486 (hier: 482f)

(44) Gran, Gerhard: La crise de Vincennes. In: Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau, 7(1911), pp. 1-18;
Galliani, Renato: Rousseau, l'illumination de Vincennes et la critique moderne. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, vol. 245 (1986), pp. 403-442, app. 443-455;
Rosenberg, Aubrey: The role of Providence in Rousseau's revelation on the road to Vincennes. In: Man and Nature / L'homme et la Nature, 6(1987), pp. 35-44;
L'Aminot, Tanguy: Satori à Vincennes. In: Études Jean-Jacques Rousseau, 10(1998), pp. 105-120;
Darnton, Robert: The Great Divide. In: idem: George Washington's false Teeth, an unconventional Guide to the Eighteenth Century, W. W. Norton, New York / London 2003, pp. 107-118

(45) Laska, Bernd A.: La Mettrie - ein gewollt unbekannter Bekannter, op.cit., p. 83 (in Endnote 45)

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